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EuGH 10.07.2014 - C-138/13
EuGH 10.07.2014 - C-138/13 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) - 10. Juli 2014 ( *1) - „Vorabentscheidungsersuchen — Assoziierungsabkommen EWG-Türkei — Zusatzprotokoll — Art. 41 Abs. 1 — Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen türkischer Staatsangehöriger — Nationale Regelung, wonach der Familienangehörige, der ins nationale Hoheitsgebiet einreisen will, sprachliche Grundkenntnisse nachweisen muss — Zulässigkeit — Richtlinie 2003/86/EG — Familienzusammenführung — Art. 7 Abs. 2 — Vereinbarkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-138/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 19. März 2013, in dem Verfahren
Naime Dogan
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Februar 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Frau Dogan, vertreten durch Rechtsanwalt C. Käss,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der dänischen Regierung, vertreten durch M. Wolff, C. Thorning und V. Pasternak Jørgensen als Bevollmächtigte,
der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, M. Kellerbauer und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2014
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatzprotokolls und des Finanzprotokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Zusatzprotokoll). Das genannte Abkommen wurde von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt (im Folgenden: Assoziierungsabkommen). Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft außerdem die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Dogan und der Bundesrepublik Deutschland wegen der Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung durch die Bundesrepublik Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Nach Art. 12 des Assoziierungsabkommens vereinbaren „[d]ie Vertragsparteien …, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen“. In Art. 13 des Abkommens vereinbaren die Vertragsparteien, „sich von den Artikeln [43 EG] bis [46 EG] und [48 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben“.
Zusatzprotokoll
Nach seinem Art. 62 sind das Zusatzprotokoll und die dazugehörigen Anhänge Bestandteil des Assoziierungsabkommens.
Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls sieht vor:
„Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“
Richtlinie 2003/86
Art. 1 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:
„Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:
dem Ehegatten des Zusammenführenden;
…“
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet:
„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt eines Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit ablehnen.“
In Art. 7 der Richtlinie 2003/86 heißt es:
„(1) Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:
Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;
eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;
feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreich[en]. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.
(2) Die Mitgliedstaaten können gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.
Im Hinblick auf die in Artikel 12 genannten Flüchtlinge und/oder Familienangehörigen von Flüchtlingen können die in Unterabsatz 1 genannten Integrationsmaßnahmen erst Anwendung finden, wenn den betroffenen Personen eine Familienzusammenführung gewährt wurde.“
Art. 17 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, de[s] Entzug[s] oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“
Deutsches Recht
Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, richtet sich die Erteilung des beantragten Visums nach folgenden Bestimmungen des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. 2008 I S. 162), geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 21. Januar 2013 (BGBl. 2013 I S. 86) (im Folgenden: AufenthG).
§ 2 Abs. 8 AufenthG bestimmt:
„Einfache deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten Nr. R (98) 6 vom 17. März 1998 zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen – GER).“
§ 27 Abs. 1 AufenthG sieht vor:
„Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.“
In § 30 („Ehegattennachzug“) AufenthG heißt es:
„(1) Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn
beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben,
der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann und
der Ausländer
eine Niederlassungserlaubnis besitzt …
Satz 1 Nr. 1 und 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn
der Ausländer einen Aufenthaltstitel nach den §§ 19 bis 21 [Aufenthaltstitel für bestimmte Erwerbstätigkeiten] besitzt und die Ehe bereits bestand, als er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat …
Satz 1 Nr. 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn
…
der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen,
…“
Nach den Ausführungen in der Vorlageentscheidung wurde § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. 2007 I S. 1970) eingefügt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine 1970 in der Türkei geborene und dort wohnende türkische Staatsangehörige. Sie begehrt die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs zu ihrem 1964 geborenen Ehemann, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist und seit 1998 in Deutschland lebt.
Seit 2002 verfügte Herr Dogan über eine Aufenthaltserlaubnis, inzwischen besitzt er eine Niederlassungserlaubnis. Er ist Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Mehrheitsgesellschafter er ist. Diese Tätigkeit dauert bis zum heutigen Tag fort.
Am 18. Januar 2011 beantragte Frau Dogan bei der Deutschen Botschaft in Ankara (Türkei) die Erteilung eines Visums zum Ehegatten- bzw. Kindernachzug für sich und zunächst zwei ihrer Kinder. Sie reichte hierfür u. a. ein Zeugnis des Goethe-Instituts über einen am 28. September 2010 von ihr auf dem Niveau A 1 absolvierten Sprachtest ein, wonach sie den Test mit „ausreichend“ (62 von 100 Punkten) bestanden habe. Ihre Leistungen im schriftlichen Teil wurden mit 14,11 von 25 möglichen Punkten bewertet.
Der Deutschen Botschaft zufolge ist die Klägerin des Ausgangsverfahrens jedoch Analphabetin. Sie habe den Test dadurch bestanden, dass sie in dem Multiple-Choice-Fragebogen bei den verschiedenen Antwortmöglichkeiten wahllos Antworten angekreuzt habe; die vorformulierten drei Sätze habe sie auswendig gelernt und wiedergegeben.
Wegen des fehlenden Nachweises deutscher Sprachkenntnisse lehnte die Deutsche Botschaft den Antrag von Frau Dogan mit Bescheid vom 23. März 2011 ab. Diesen Bescheid griff die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht an, sondern stellte am 26. Juli 2011 einen neuen Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung nur für sich, den die Botschaft mit Bescheid vom 31. Oktober 2011 erneut ablehnte.
Auf die hiergegen anwaltlich erhobene Remonstration vom 15. November 2011 hob die Deutsche Botschaft in Ankara den Ausgangsbescheid auf und ersetzte ihn durch den ebenfalls ablehnenden Remonstrationsbescheid vom 24. Januar 2012 mit der Begründung, die Klägerin des Ausgangsverfahrens verfüge nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse, weil sie Analphabetin sei.
Frau Dogan ist der Auffassung, sie verfüge über die geforderten Sprachkenntnisse, und im Übrigen verstoße der Nachweis deutscher Sprachkenntnisse gegen das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot. Sie erhob daher gegen den Bescheid vom 24. Januar 2012 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin.
In diesem Kontext hat das Verwaltungsgericht Berlin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Steht Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen einer nach Inkrafttreten der vorgenannten Bestimmungen erstmals eingeführten Regelung des nationalen Rechts entgegen, mit der die erstmalige Einreise eines Familienangehörigen eines türkischen Staatsangehörigen, der die Rechtsstellung nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls genießt, in die Bundesrepublik Deutschland davon abhängig gemacht wird, dass der Familienangehörige vor der Einreise nachweist, sich in einfacher Art und Weise in deutscher Sprache verständigen zu können?
Steht Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 der in Frage 1 bezeichneten Regelung des nationalen Rechts entgegen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nach ständiger Rechtsprechung allgemein die Einführung neuer Maßnahmen verbietet, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn galten, als das Zusatzprotokoll in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat (Urteil Dereci u. a., C-256/11, EU:C:2011:734, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist auch anerkannt worden, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, dessen Bestandteil diese Bestimmung ist, im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten ist, neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die dort von diesen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen wollen (Urteil Oguz, C-186/10, EU:C:2011:509, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Schließlich kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Stillhalteklausel, sei es unter Anknüpfung an die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr, nur im Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt betreffen (Urteil Demirkan, C-221/11, EU:C:2013:583, Rn. 55).
Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Bestimmung nach dem 1. Januar 1973, dem Tag, an dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eingeführt wurde und dass sie die Voraussetzungen, die vorher für die Aufnahme der Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden Ausländern im Rahmen der Familienzusammenführung galten, verschärft und eine solche Zusammenführung folglich erschwert.
Der Vorlageentscheidung ist außerdem zu entnehmen, dass Frau Dogan nicht in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen will, um dort von dem freien Dienstleistungsverkehr oder der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, sondern um zu ihrem dort wohnenden Ehemann zu ziehen und mit ihm ein Familienleben zu führen.
Schließlich ergibt sich aus der Vorlageentscheidung auch, dass Herr Dogan ein türkischer Staatsangehöriger ist, der seit 1998 in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnt und als Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Mehrheitsgesellschafter er ist, über Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 26). Die Situation von Herrn Dogan fällt somit unter die Niederlassungsfreiheit.
Daher ist im Ausgangsverfahren die Frage der Vereinbarkeit der fraglichen nationalen Bestimmung mit der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls im Hinblick auf die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch Herrn Dogan zu analysieren.
Es ist deshalb zu prüfen, ob im Rahmen der Familienzusammenführung die Einführung einer neuen Regelung, mit der die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten von in einem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen im Vergleich zu denjenigen verschärft werden, die galten, als das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Niederlassungsfreiheit dieser türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellen kann.
Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass die Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt (vgl. Urteil Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 42).
Auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann.
Daher stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dar.
Schließlich ist festzustellen, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, verboten ist, sofern sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. entsprechend Urteil Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 40).
Auch wenn man davon ausgeht, dass die von der deutschen Regierung angeführten Gründe – die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration – zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können, geht eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, da der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.
Zur zweiten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu prüfen.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatzprotokolls und des Finanzprotokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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