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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
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BAG 01.02.2024 - 2 AS 22/23 (A)
BAG 01.02.2024 - 2 AS 22/23 (A) - Massenentlassung - Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren
Vorinstanz
vorgehend ArbG Hamburg, 20. April 2021, Az: 5 Ca 656/20, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg, 3. Februar 2022, Az: 3 Sa 16/21, Urteil
Leitsatz
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Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
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1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
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Sofern die erste Frage bejaht wird:
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2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
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3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
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Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
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4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
Tenor
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I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
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1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
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Sofern die erste Frage bejaht wird:
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2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
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3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
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Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
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4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
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II. Das Anfrageverfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gründe
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A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
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I. Die Parteien streiten über die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung, die der Beklagte im Dezember 2020 zum 31. März 2021 erklärt hat. Eine nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige hatte er nicht erstattet. Er hat sie auch vor dem 31. März 2021 nicht nachgeholt. Für die Entscheidung des Verfahrens ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesarbeitsgerichts dessen Sechster Senat zuständig, der die Kündigungsschutzklage des Klägers vollumfänglich abweisen möchte. Daran sieht sich der Sechste Senat - wie er in einem Beschluss vom 14. Dezember 2023 (- 6 AZR 157/22 [B] -) im Einzelnen dargelegt hat - aus Gründen des nationalen Verfahrensrechts gehindert.
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II. Der Zweite Senats des Bundesarbeitsgerichts hat bisher angenommen, dass eine ohne notwendige vorherige Massenentlassungsanzeige erklärte Kündigung nichtig (unwirksam) ist und das Arbeitsverhältnis deshalb nicht beenden kann. Demgegenüber möchte der Sechste Senat künftig die Auffassung vertreten, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung über die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Vielmehr soll sowohl das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige als auch deren Fehlerhaftigkeit gänzlich folgenlos bleiben. Es obliege dem deutschen Gesetzgeber, eine „Sanktion“ für Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen zu normieren. Diese dürfe nicht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, sondern müsse allein auf dem Gebiet des Arbeitsförderungsrechts liegen (BAG 14. Dezember 2023 - 6 AZR 157/22 [B] - Rn. 7, 22, 32 und vor allem Rn. 35).
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III. Das nationale Verfahrensrecht sieht ein besonderes Verfahren bei bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Senaten des Bundesarbeitsgerichts vor. Nach § 45 Abs. 2 und Abs. 3 ArbGG darf ein Senat des Bundesarbeitsgerichts nur dann von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen, wenn dieser auf eine entsprechende Anfrage seine Rechtsauffassung aufgegeben hat, oder - widrigenfalls - der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts eine Entscheidung über die zutreffende Beantwortung der zugrunde liegenden Rechtsfrage getroffen hat. Der Sechste Senat hat daher mit Beschluss vom 14. Dezember 2023 (- 6 AZR 157/22 [B] -) an den Zweiten Senat die folgende Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG gerichtet:
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„Wird an der seit dem Urteil vom 22. November 2012 (- 2 AZR 371/11 -) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt?“
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B. Das einschlägige nationale Recht
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I. Kündigungsschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1317):
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„§ 17 Anzeigepflicht
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1.
in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3.
in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt.
…
§ 18 Entlassungssperre
(1) Entlassungen, die nach § 17 anzuzeigen sind, werden vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam; die Zustimmung kann auch rückwirkend bis zum Tag der Antragstellung erteilt werden.
(2) Die Agentur für Arbeit kann im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach der Anzeige wirksam werden.
…“
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II. Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738):
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„§ 134 Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.
§ 615 Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko
Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.
…“
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III. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I S. 130):
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„§ 20 Untersuchungsgrundsatz
(1)
Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.
(2)
Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen.
…“
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C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
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Nach Auffassung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts sind im sekundären Unionsrecht einschlägig: Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3 sowie Art. 6 MERL.
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D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen
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I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
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1. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts vermag aus den nachstehend ausgeführten Gründen ohne die Durchführung eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV die an ihn gerichtete Anfrage des Sechsten Senats nicht zu beantworten.
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a) Der Zweite Senat hält es in Übereinstimmung mit dem Sechsten Senat für möglich, dass die Nichtigkeit einer ohne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erklärten Kündigung nach § 134 BGB - auch unter Beachtung der Vorgaben des Unionsrechts - eine unverhältnismäßige Rechtsfolge ist. Die dafürsprechenden Gründe hat der Sechste Senat in seinem vorgenannten Beschluss vom 14. Dezember 2023 dargelegt (- 6 AZR 157/22 [B] - Rn. 11 ff., zur unionsrechtskonformen Auslegung insbesondere Rn. 26 ff.), worauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird.
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b) Allerdings wird dies im deutschen Schrifttum zumindest für den Fall einer gänzlich unterbliebenen Anzeige nach wie vor anders beurteilt (Schubert/Schmitt JbArbR Bd. 59 S. 81, 96). Zudem erschöpft sich die Anfrage des Sechsten Senats nicht in der Beantwortung der vorstehenden Rechtsfrage nach einer aus § 134 BGB folgenden Nichtigkeit der Kündigung. Der Zweite Senat hält die im Anfragebeschluss formulierte Auffassung, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung des gekündigten Arbeitsverhältnisses hat, für nicht mit Unionsrecht vereinbar. Geboten ist aus Sicht des Zweiten Senats vielmehr eine differenzierte Betrachtung. Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber von einer nach Unionsrecht erforderlichen Massenentlassungsanzeige gänzlich abgesehen oder eine solche erstattet hat.
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aa) Erstattet der Arbeitgeber keine Massenentlassungsanzeige, erhält die nach nationalem Recht für die Arbeitsvermittlung zuständige Agentur für Arbeit keine Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen. Dementsprechend ist sie nicht in der Lage, die notwendigen Vorbereitungen für die Vermittlungsbemühungen der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer einzuleiten. Für diesen Fall der gänzlich unterbliebenen Massenentlassungsanzeige möchte der Zweite Senat die Auffassung vertreten, dass die Rechtswirkungen der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung erst dann eintreten, wenn die Massenentlassungsanzeige nachträglich erstattet, das heißt nachgeholt worden ist und der Agentur für Arbeit die aus ihrer Sicht notwendige Vorbereitungszeit für die Vermittlung zur Verfügung steht. Dieser Zeitraum bestimmt sich im nationalen Recht nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG (sog. Entlassungssperre). Das gekündigte Arbeitsverhältnis besteht bis zum Ablauf der Entlassungssperre mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fort. Die Rechtswirkungen der Kündigung treten bis zum Ablauf des Monatszeitraums des § 18 Abs. 1 KSchG oder des von der Agentur für Arbeit nach § 18 Abs. 2 KSchG festgesetzten Zeitpunkts nicht ein. Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer jedenfalls bis zum Ablauf der Entlassungssperre nach § 615 BGB die vereinbarte Vergütung fortzahlen, auch wenn er ihn nicht beschäftigt. Das gilt selbst dann, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund einer kürzeren Kündigungsfrist bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte enden können. Bestünde hingegen nach den Vorgaben in Art. 4 MERL keine Möglichkeit für den Arbeitgeber, eine zunächst unterbliebene Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung nachzuholen und damit die Entlassungssperre zu beseitigen, käme dies der Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der Kündigung gleich. In diesem Fall müsste der Zweite Senat auf die Anfrage des Sechsten Senats antworten, dass er - der Zweite Senat - an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.
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bb) Werden der Agentur für Arbeit die beabsichtigten Massenentlassungen angezeigt, hat der Arbeitgeber ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, in dem die Vollständigkeit der Massenentlassungsanzeige von der Behörde geprüft wird. Für dieses gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X), das heißt die Agentur für Arbeit ist verpflichtet, auf die Ergänzung von unvollständigen Angaben durch den Arbeitgeber hinzuwirken. Über die Ordnungsgemäßheit der Anzeige und die Dauer der erforderlichen Vorbereitungszeit für die bevorstehende Arbeitsvermittlung entscheidet nach nationalem Verfahrensrecht allein die Agentur für Arbeit. Stellt die Behörde den Ablauf der Entlassungssperre (§ 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG) zu einem konkreten Datum fest, ist diese Entscheidung aus Sicht des Zweiten Senats für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend. Letztere dürfen in diesem Fall nicht in eigener Kompetenz annehmen, die Massenentlassungsanzeige sei „eigentlich“ fehlerhaft gewesen und deshalb die Entlassungssperre (noch) nicht an- und abgelaufen.
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2. Da die §§ 17, 18 KSchG von den nationalen Gerichten unionsrechtskonform auszulegen sind, ist der Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3 sowie Art. 6 MERL für die Antwort des Zweiten Senats auf die Anfrage des Sechsten Senats vom 14. Dezember 2023 entscheidungserheblich. Zwar meint der Zweite Senat, dass die vorliegenden Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union für sein Verständnis des maßgeblichen Unionsrechts sprechen. Der Senat sieht jedoch die strengen Voraussetzungen eines acte clair oder acte éclairé nicht als erfüllt an, weshalb er den Gerichtshof um die Beantwortung der diesem Beschluss vorangestellten Fragen ersucht.
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II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
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1. Der Zweite Senat versteht Art. 4 Abs. 1 MERL - anders als der Sechste Senat - so, dass das im Zug einer nach Unionsrecht anzeigepflichtigen Massenentlassung gekündigte Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG nicht beendet sein kann. Bis zu deren Ablauf sind die Wirkungen der Kündigung „ausgesetzt“ (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 30. September 2004 - C-188/03 - [Junk] Rn. 68). Die Entlassungssperre wirkt insofern als „Mindestkündigungsfrist“. Das verdeutlicht Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Halbs. 2 MERL, wonach die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen unberührt bleiben.
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2. In dieser arbeitsrechtlichen Konsequenz liegt - entgegen der Auffassung des Sechsten Senats - aus Sicht des Zweiten Senats zugleich die nach Unionsrecht gebotene und ausreichende Reaktion auf das Fehlen bzw. die Fehlerhaftigkeit einer Massenentlassungsanzeige. Es wird sichergestellt, dass die Agentur für Arbeit als die zuständige Behörde ausreichend Zeit hat, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 MERL). Die betreffenden Arbeitnehmer verlieren vor Ablauf der Entlassungssperre nicht ihre „alten“ Arbeitsverhältnisse und kommen bis dahin noch nicht „auf den Arbeitsmarkt“.
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III. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
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Der Zweite Senat versteht Art. 4 Abs. 1 MERL weiter dahin, dass die dort geregelte Entlassungssperre - und damit auch die des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG - lediglich dann an- und damit ablaufen kann, wenn die gebotene Massenentlassungsanzeige den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL entspricht. Das belegt zum einen der umfassende Verweis in Art. 4 Abs. 1 MERL auf Art. 3 Abs. 1 MERL. Zum anderen wird nur so der zur ersten Vorlagefrage dargestellte Zweck der Massenentlassungsanzeige erreicht, es der Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben zu ermöglichen, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 MERL).
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IV. Erläuterung der dritten Vorlagefrage
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1. Der Zweite Senat geht davon aus, dass eine ohne gebotene (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochene Kündigung nicht „unrettbar“ nichtig, das heißt unwirksam sein muss. Der Zweck des Anzeigeverfahrens wird vielmehr auch dann vollständig erreicht, wenn der Arbeitgeber eine - den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL entsprechende - Massenentlassungsanzeige nachholen und so die Entlassungssperre (nachträglich) beseitigen kann. Hierzu bedarf es keiner neuen Kündigung. Durch das Anlaufen der Entlassungssperre erst mit der nachgeholten Anzeige ist sichergestellt, dass der zuständigen Behörde vor der Auflösung der betreffenden Arbeitsverhältnisse in jedem Fall der durch die Entlassungssperre verkörperte Mindestzeitraum zur Verfügung steht, um auf der Grundlage der erforderlichen Angaben nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 MERL).
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2. Dem steht nach Auffassung des Zweiten Senats die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 27. Januar 2005 in der Rechtssache Junk (- C-188/03 -) nicht entgegen. Der Gerichtshof hat sich in dieser nicht dazu geäußert, wie der Arbeitgeber bei Ausspruch von Kündigungen bereits vor Erstattung einer (ordnungsgemäßen) Massenentlassungsanzeige zu stellen ist. Vielmehr hat er lediglich festgehalten, dass die Kündigungen erst nach ihrer Anzeige bei der zuständigen Behörde „sanktionslos“, also unter sofortigem Anlaufen der - dann oft in den geltenden Kündigungsfristen aufgehenden - Entlassungssperre möglich sind. Demgegenüber hat der Gerichtshof nicht angenommen, dass die ohne vorherige (ordnungsgemäße) Anzeige erklärten Kündigungen „unrettbar“ nichtig sein müssten. Das erscheint nach den Bestimmungen der MERL und deren Entstehungsgeschichte (BAG 14. Dezember 2023 - 6 AZR 157/22 [B] - Rn. 8) auch fernliegend. Richtigerweise kann die „Sanktion“ für das verspätete Erstatten einer (ordnungsgemäßen) Massenentlassungsanzeige unter anderem darin bestehen, dass die Rechtswirkungen der Kündigung vorübergehend nicht eintreten und der Arbeitgeber die betreffenden Arbeitnehmer nach § 615 BGB trotz grundsätzlich wirksamer Kündigung bis zum Ablauf der Entlassungssperre und damit ggf. über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus vergüten muss, auch wenn er sie tatsächlich nicht beschäftigt hat.
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3. Lediglich klarstellend weist der Zweite Senat - insoweit im Einklang mit dem Sechsten Senat - darauf hin, dass sich die Nachholungsmöglichkeit nicht auf das Konsultationsverfahren nach Art. 2 MERL erstreckt. Ist dieses vor Ausspruch der Kündigungen gänzlich unterblieben oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, sind (und bleiben) die Kündigungen nach § 134 BGB nichtig. Denn das Konsultationsverfahren dient - anders als das Anzeigeverfahren - vorrangig der Vermeidung von Kündigungen. Dieser Zweck kann durch eine Nachholung der Konsultationen im Anschluss an den Ausspruch der Kündigungen nicht mehr erreicht werden. Es wäre nicht gewährleistet, dass die Beratungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung zur Vermeidung von Kündigungen ergebnisoffen durchgeführt werden. Für die Arbeitnehmervertretung wäre es sehr viel schwieriger, die „Rücknahme“ einer bereits erklärten Kündigung zu erreichen, als den Verzicht auf ihren lediglich geplanten Ausspruch (EuGH 27. Januar 2005 - C-188/03 - [Junk] Rn. 44).
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V. Erläuterung der vierten Vorlagefrage
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1. Der Zweite Senat geht aufgrund der „alternativen“ Formulierung in Art. 6 MERL sowie deren Erwägungsgrund 12 („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) davon aus, dass es ausreicht, wenn allein die nach nationalem Recht zuständige Behörde eine vom Arbeitgeber erstattete Massenentlassungsanzeige auf ihre Ordnungsgemäßheit hin prüft und bejahendenfalls das Ende der Entlassungssperre im konkreten Fall feststellt. Die behördliche Feststellung zum Ende der Entlassungssperre ist von den Gerichten für Arbeitssachen im Rahmen eines Streits über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als bindend zugrunde zu legen. Der Arbeitnehmer kann die behördliche Feststellung nicht mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf anfechten. Das folgt nach Auffassung des Zweiten Senats aus der rein arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung des Anzeigeverfahrens. Dieses schützt - anders als das Konsultationsverfahren - primär den Arbeitsmarkt und die zuständige Behörde. Demgegenüber ist der Arbeitnehmer bloß reflexhaft betroffen. Er soll sein „altes“ Arbeitsverhältnis erst verlieren, nachdem es der zuständigen Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben möglich war, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 MERL). Sieht die Behörde sich diesbezüglich ausreichend informiert, haben der Arbeitnehmer und die Gerichte dies zu akzeptieren.
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2. Zwar hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 5. Oktober 2023 (- C-496/22 - [Brink’s Cash Solutions] Rn. 45) ausgeführt, Art. 6 MERL gebe den Mitgliedstaaten vor, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für die Arbeitnehmervertreter und/oder Arbeitnehmer zu gewährleisten. Doch geht der Zweite Senat davon aus, dass diese Vorgabe sich allein auf das Konsultationsverfahren nach Art. 2 MERL bezieht, an dem keine Behörde beteiligt ist, und das - anders als das Anzeigeverfahren gemäß Art. 3 und Art. 4 MERL - unmittelbar dem (kollektiven) Schutz der betroffenen Arbeitnehmer im Sinn einer möglichen Vermeidung von Kündigungen (siehe oben Rn. 19) dient. Ein anderes Verständnis wäre auch mit der aufgezeigten „alternativen“ Formulierung von Art. 6 und Erwägungsgrund 12 MERL („administrative und/oder gerichtliche Verfahren“) nicht zu vereinbaren.
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