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BSG 08.07.2020 - B 10 ÜG 18/19 B
BSG 08.07.2020 - B 10 ÜG 18/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Rechtsanwaltsverschulden - Absturz des Computers wenige Stunden vor Fristablauf - Sorgfaltsanforderungen eines gewissenhaft und sachgerecht Prozessführenden - Stellung eines Fristverlängerungsantrags - gesteigerte Sorgfaltspflicht bei nahendem Fristende - Vorkehrungen gegen Computerausfall - keine Aktualisierung nicht notwendiger Programme - zeitnahe Informierung über Abhilfemöglichkeiten im Internet - Neuerstellung der Beschwerdeschrift in der verbleibenden Zeit ohne Computer und mit Hilfe Dritter - Zustellungsdatum - Beweiskraft eines Empfangsbekenntnisses - gesteigerte Anforderungen an einen möglichen Gegenbeweis
Normen
§ 160a Abs 1 S 2 SGG, § 160a Abs 2 S 1 SGG, § 63 Abs 2 S 2 SGG, § 64 Abs 2 S 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 67 Abs 2 S 2 SGG, § 416 ZPO, § 174 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Berlin, 8. November 2018, Az: S 157 AS 2483/18 ER, Beschluss
vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 30. Oktober 2019, Az: L 37 SF 38/19 EK AS, Urteil
nachgehend BSG, 30. März 2021, Az: B 10 ÜG 1/21 C, Beschluss
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. Oktober 2019 wird als unzulässig verworfen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
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Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 779,14 Euro festgesetzt.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt eine höhere Entschädigung wegen überlanger Dauer eines vor dem SG Berlin geführten Kostenerstattungsverfahrens (S 157 AS 2483/18 ER).
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Das Entschädigungsgericht hat die unangemessene Dauer des vor dem SG geführten Verfahrens festgestellt; anstelle der beantragten 872,65 Euro Entschädigung hat es dem Kläger aber lediglich 93,42 Euro zuzüglich Zinsen zugesprochen. Das Verfahren der Kostengrundentscheidung sei getrennt von dem vorangegangenen einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu betrachten. Die entschädigungspflichtige Verzögerung belaufe sich nur auf einen Monat bei einer Gesamtdauer von sieben und einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten (Urteil vom 30.10.2019).
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Das vom Kläger unterschriebene Empfangsbekenntnis (EB) für das Urteil des Entschädigungsgerichts nennt als Zustellungsdatum den 20.11.2019. Der Kläger behauptet, dieses Datum habe er nur aus Versehen eingetragen. Das Urteil des LSG sei zwar am 20.11.2019 an seinem Kanzleisitz eingegangen. Unterzeichnet habe er das EB aber tatsächlich erst am 28.11.2019, als er nach längerer Abwesenheit in sein Büro zurückgekehrt sei und die Posteingänge bearbeitet habe.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Entschädigungsgerichts hat der Kläger am 30.12.2019 Beschwerde zum BSG eingelegt. Die Beschwerdebegründung vom 29.1.2020 ist am 30.1.2020 beim BSG eingegangen: Das Entschädigungsgericht habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt und Verfahrensfehler begangen. Der Kläger hat zugleich seine Wiedereinsetzung in die Frist zur Beschwerdebegründung beantragt. Er leide an Albinismus und sei deshalb auf vergrößernde Sehhilfen angewiesen. Schriftstücke müsse er systematisch digitalisieren und auf dem Computer speichern. Sein dafür besonders ausgerüsteter Rechner sei am 28.1.2020 gegen 17:25 Uhr "abgestürzt"; er habe ihn erst am Folgetag wieder starten und die Beschwerdebegründung zu Papier bringen können.
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II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Der Senat lässt dahinstehen, ob der Kläger seine Beschwerde rechtzeitig innerhalb der Frist des § 160a Abs 1 Satz 2 SGG erhoben hat (a), er hat sie jedenfalls iS von § 160a Abs 2 Satz 1 SGG zu spät begründet (b).
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a) Das vom Kläger unterzeichnete EB für das Urteil des Entschädigungsgerichts nennt als Datum der Zustellung iS von § 63 Abs 2 Satz 2 SGG, § 174 ZPO den 20.11.2019; danach hätte der Kläger die Beschwerde am 30.12.2019 außerhalb der Monatsfrist des § 160a Abs 1 Satz 2 SGG erhoben. Er trägt demgegenüber vor, er habe das EB tatsächlich erst am 28.11.2019 unterzeichnet und versehentlich falsch zurückdatiert. Allerdings erbringt das EB als Privaturkunde nach § 416 ZPO Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks, sondern auch für den Empfangszeitpunkt. Der Gegenbeweis ist zwar zulässig. Dafür genügt es aber nicht, die Richtigkeit der Angaben im EB nur zu erschüttern; sie muss vielmehr ausgeschlossen sein (vgl BSG Beschluss vom 5.6.2019 - B 12 R 3/19 R - juris RdNr 10 mwN). Der vom Kläger geschilderte Geschehensablauf nach einer längeren Büroabwesenheit, der zur falschen Datumsangabe auf dem EB geführt haben soll, erscheint nicht von vornherein vollkommen unplausibel, andererseits auch nicht zwingend. Der Senat lässt offen, ob diese Schilderung ausreicht, um den erforderlichen Gegenbeweis zu führen, weil der Kläger seine Beschwerde zu spät begründet hat.
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b) Selbst wenn man unterstellt, das LSG-Urteil wäre dem Kläger nach § 63 Abs 2 Satz 2 SGG, § 174 ZPO erst am 28.11.2019 gegen EB zugestellt worden und er hätte deshalb am 30.12.2019, einem Montag, noch rechtzeitig Beschwerde erhoben, so hat der Kläger jedenfalls die zweimonatige Frist zur Beschwerdebegründung aus § 160a Abs 2 Satz 1 SGG versäumt. Sie endete - wiederum eine Urteilszustellung erst am 28.11.2019 unterstellt - nach § 64 Abs 2 Satz 1 SGG am 28.1.2020. Die Beschwerdebegründung hat das BSG aber erst am 30.1.2020 erreicht.
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Die beantragte Wiedereinsetzung in die Beschwerdebegründungsfrist nach § 67 SGG kann der Kläger nicht beanspruchen. Dabei kann dahinstehen, ob sein Antrag schon formunwirksam ist, weil er ihn nicht unterschrieben hat (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 236 Abs 1 ZPO, § 160a Abs 2 Satz 1 SGG). Denn entgegen § 67 Abs 2 Satz 2 SGG hat der Kläger zumindest nicht glaubhaft gemacht, dass er iS von Abs 1 dieser Vorschrift ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Begründungsfrist gehindert war, weil auch ein gewissenhaft und sachgerecht Prozessführender, der so sorgfältig handelt, wie die konkrete Situation es verlangt, die Begründungsfrist unvermeidbar versäumt hätte (zu diesem Maßstab grundsätzlich BSG Beschluss vom 10.12.1974 - GS 2/73 - BSGE 38, 248 = SozR 1500 § 67 Nr 1 = juris RdNr 18 mwN).
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Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags trägt der Kläger vor, der Computer mit dem Beschwerdeschriftsatz sei am letzten Tag der von ihm angenommenen Beschwerdebegründungsfrist um ca 17:25 Uhr abgestürzt, nachdem er noch schnell ein Programm habe aktualisieren wollen, der Vorgang aber aufgrund der Datenmenge abrupt abgebrochen worden sei. Eine Sicherungskopie der Beschwerdeschrift habe der Computer nicht erstellt. Er habe bis 23:00 Uhr gewartet, der Computer habe sich aber nicht wieder starten lassen. Dies sei erst am nächsten Tag gelungen, nachdem er sich in einer Online-Selbsthilfegruppe für A.-Benutzer informiert habe.
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Dieser Vortrag als richtig unterstellt erlaubt nicht den Schluss auf die Einhaltung der Sorgfalt eines gewissenhaft und sachgerecht Prozessführenden in der Situation des Klägers als Rechtsanwalt. Dieser erklärt bereits nicht, warum er ausgerechnet in den letzten Stunden der auslaufenden Begründungsfrist "noch schnell" ein Programm zum Tracking auf seinem Computer aktualisieren und damit eine Verzögerung riskieren musste, obwohl ihn wegen des nahenden Fristendes eine gesteigerte Sorgfaltspflicht traf (vgl Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, Stand: Juli 2020, § 67 SGG RdNr 28; BSG Beschluss vom 11.12.2008 - B 6 KA 34/08 B - juris RdNr 14). Ebensowenig geht aus seinem Wiedereinsetzungsantrag hervor, dass es der erforderlichen Sorgfalt entsprach, zunächst bis um 23:00 Uhr und danach sogar bis zum nächsten Tag auf die Wiederverfügbarkeit seines Rechners zu warten, anstatt sich sofort um Abhilfe zu bemühen. Der Kläger legt insbesondere nicht stichhaltig dar, was ihn daran gehindert hat, sich früher im Internet über Abhilfemöglichkeiten zu informieren oder die Beschwerdeschrift in den verbleibenden sechseinhalb Stunden zwischen dem Computerabsturz und dem von ihm angenommenen Fristablauf ohne seinen Computer neu zu erstellen. Aus seinem Wiedereinsetzungsantrag geht nicht hervor, warum eine solche Abhilfe auf andere Weise - etwa durch Schreibunterstützung Dritter - von vornherein aussichtslos gewesen wäre (vgl BFH Beschluss vom 17.7.2006 - VII B 291/05 - juris RdNr 7).
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Sollte der Vortrag des Klägers so zu verstehen sein, dass er als Rechtsanwalt für seine Schriftsätze stets auf einen einzigen bestimmten Computer angewiesen ist, hätte es zudem die erforderliche Sorgfalt in seiner Situation des kurz bevorstehenden Fristablaufs umso mehr verlangt, Vorkehrungen gegen einen möglichen Ausfall seines wesentlichen Arbeitsmittels zu treffen. Vor allem aber legt der Kläger nicht dar, was ihn daran gehindert hat, in den mehr als sechs Stunden bis zum Fristablauf - gegebenenfalls wiederum mit Unterstützung Dritter - unter Hinweis auf den Computerabsturz zumindest einen kurzen Antrag auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist nach § 160a Abs 2 Satz 2 SGG zu stellen und damit den Fristablauf zu verhindern (vgl BFH Beschluss vom 6.5.2013 - VI B 167/12 - juris RdNr 6 mwN). Dies gilt umso mehr, als der Kläger in seiner Abwesenheit ein Sekretariat nutzt, das ihn zB über Posteingänge benachrichtigt.
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3 Satz 1 GKG. Sie entspricht der vom Kläger verlangten Entschädigungssumme, soweit das LSG nicht zugesprochen hat.
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