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BVerfG 27.03.2017 - 2 BvR 681/17
BVerfG 27.03.2017 - 2 BvR 681/17 - Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Zur Pflicht der Behörden und Gerichte, die Entwicklung im Zielland einer prospektiven Abschiebung zu beobachten, relevante neuere Erkenntnismittel zu berücksichtigen und über eine Abschiebung nur auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse zu entscheiden - hier: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Substantiierung
Normen
Art 19 Abs 4 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 4 Abs 1 S 2 Nr 3 AsylVfG 1992, § 77 Abs 1 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG 2004
Vorinstanz
vorgehend VG Augsburg, 14. März 2017, Az: Au 5 E 17.31264, Beschluss
Tenor
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
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I.
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Der 1989 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste im Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage begründete er damit, er sei als Mitarbeiter eines Callcenters von den Taliban bedroht und verletzt worden; seine Familie sei vor 25 Jahren von einem Raketeneinschlag betroffen gewesen. Auch könne man in Afghanistan weder Arbeit finden noch sicher leben. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab, weil der Antragsteller eine ernsthafte Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft gemacht habe und auch unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan leben könne; jedenfalls bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung zur Sicherheitslage in Afghanistan durch Beschluss vom 25. Januar 2017 ab; die als grundsätzlich aufgeworfene Frage, ob für Angehörige der Zivilbevölkerung allein schon durch die Anwesenheit in Afghanistan wegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben anzunehmen sei und auch Kabul keine interne Schutzmöglichkeit darstelle, müsse derzeit auch unter Berücksichtigung auf die vom Antragsteller vorgelegten aktuellen Erkenntnismittel nicht erneut in einem Berufungsverfahren geklärt werden.
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Der Antragsteller stellte am 9. Februar 2017 einen Asylfolgeantrag und trug unter Hinweis auf neueste Erkenntnisse zur Sicherheitslage vor, die Situation in Afghanistan habe sich nochmals erheblich verschlechtert; auch leide er - wie sich aus einer fachärztlichen Bescheinigung vom 13. November 2016 ergebe - seit seiner Kindheit an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Antrag wurde abgelehnt.
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Mit Beschluss vom 14. März 2017 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Es liege keine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage vor. Der Antragsteller könne sich in Afghanistan zumutbar an einem Ort niederlassen, an dem er verfolgungssicher sei. Trotz des festzustellenden Anstiegs ziviler Opfer im innerafghanischen Konflikt erreiche die allgemeine Gefährdungslage nicht eine Intensität, die eine Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ermögliche. Über die vom Antragsteller erhobene Anhörungsrüge ist noch nicht entschieden.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 255>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
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a) Allerdings ist der Umstand, dass über die vom Antragsteller erhobene - erforderliche - Anhörungsrüge bisher nicht entschieden worden und der Rechtsweg damit nicht erschöpft ist, wegen des der Kammer für eine Entscheidung zur Verfügung stehenden kurzen Zeitraums ausnahmsweise unerheblich, § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG.
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b) Die auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG sowie der Sache nach auf die Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gestützte Verfassungsbeschwerde setzt sich jedoch mit der - plausibel begründeten - Einschätzung des Verwaltungsgerichts, wonach die Angaben des Antragstellers zu einem persönlichen Verfolgungsschicksal unglaubhaft seien, nicht auseinander. Damit fehlt es der Behauptung, gerade der Antragsteller sei als Gegner der Taliban hervorgetreten und als solcher bei einer Rückkehr besonders gefährdet, an hinreichender Substantiierung.
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c) Auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die neuesten Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan nicht in seine Entscheidungsfindung aufgenommen, ist unsubstantiiert. Zwar hat sich der Antragsteller zur Begründung seines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht nur - wenn auch weitgehend - auf Erkenntnismittel bezogen, die schon Gegenstand des Erstverfahrens waren oder hätten sein können, sondern hat weitere - neuere - Erkenntnisse für die Behauptung einer relevanten Verschlechterung der Sicherheitslage seit Abschluss des Erstverfahrens angeführt. Allein der Umstand, dass nicht alle vom Antragsteller in das Verfahren eingeführten Quellen in der angegriffenen gerichtlichen Entscheidung im Einzelnen genannt und abgehandelt sind, rechtfertigt indes noch nicht die Annahme, das Gericht sei den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht geworden.
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aa) Allerdings müssen sich Behörden und Gerichte bei der Beantwortung der Frage, ob ein Antragsteller in ein Land abgeschoben werden darf, in dem wegen einer stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage die Gefahr besteht, dass die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG oder des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG überschritten sein könnte, laufend über die tatsächlichen Entwicklungen unterrichten und dürfen nur auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse entscheiden (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zeiten Senats vom 21. April 2016 - 2 BvR 273/16 -, Rn. 11). Bloße Verweisungen auf - auch nur Monate zurückliegende - frühere Entscheidungen oder Quellen werden dem Vortrag der Verfahrensbeteiligten, wenn diese sich auf neuere relevante Dokumente berufen, nicht gerecht (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie können auch die Gefahr einer Art. 2 Abs. 2 GG verletzenden Abschiebung in ein Land begründen, in dem eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, und Probleme im Hinblick auf § 77 Abs. 1 AsylG, Art. 19 Abs. 4 GG aufwerfen. Daraus folgt die Pflicht, die Entwicklung der Sicherheitslage in dem betroffenen Zielstaat der Abschiebung unter Beobachtung zu halten und relevante neuere Erkenntnismittel zu berücksichtigen.
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Aus der Pflicht zur "tagesaktuellen" Erfassung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage folgt jedoch für das Verwaltungsgericht nicht eine verfassungsrechtlich begründete Pflicht, sich in den Entscheidungsgründen mit jeder von den Verfahrensbeteiligten angeführten Erkenntnisquelle ausdrücklich zu befassen. Maßgeblich ist, dass das Gericht inhaltlich auf die relevanten und die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Gesichtspunkte eingeht. Ob es neue Erkenntnismittel in diesem Sinne für relevant hält oder nicht, unterliegt seiner vom Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt überprüfbaren fachgerichtlichen Einschätzung.
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bb) Die Verfassungsbeschwerde legt nicht hinreichend substantiiert dar, dass das Verwaltungsgericht diese Maßstäbe im vorliegenden Fall verfehlt hat. Zwar geht die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung nicht auf alle vom Antragsteller vorgetragenen Quellen ausdrücklich ein. Dies rechtfertigt im vorliegenden Fall jedoch nicht die Annahme eines Gehörsverstoßes oder eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Berücksichtigung aktueller tatsächlicher Entwicklungen. Denn das Verwaltungsgericht geht inhaltlich auf die geltend gemachten aktuellen Entwicklungen ein, indem es seine Einschätzung wiedergibt, dass trotz eines feststellbaren Anstiegs der Anzahl ziviler Opfer im innerafghanischen Konflikt eine Verschlechterung der Sicherheitslage, die eine Abschiebung Betroffener ohne individuelle Besonderheiten nunmehr verbieten würde, noch nicht eingetreten sei. Dass diese Einschätzung unter Verstoß gegen verfassungsrechtliche Maßstäbe zustande gekommen ist, ist weder dargelegt noch erkennbar.
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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