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BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1839/10, 1 BvR 1849/10
BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1839/10, 1 BvR 1849/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung
Vorinstanz
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 169/08, Beschluss
vorgehend OLG Braunschweig, 6. Juni 2010, Az: 3 U 180/08, Beschluss
Tenor
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1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 169/08 und 3 U 180/08 - verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sachen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
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Damit werden die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 30. November 2010 - 3 U 169/08 und 3 U 180/08 - gegenstandslos.
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2. ...
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3. Der Gegenstandswert wird auf jeweils 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerden betreffen eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") wegen der Beteiligung von Anlegern an zwei Fondsgesellschaften.
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Die Beschwerdeführer beteiligten sich über eine als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisierte Treuhandkommanditistin, eine der Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Treuhandkommanditistin), auf der Grundlage von Emissionsprospekten an zwei als Kommanditgesellschaften organisierten Fondsgesellschaften, der V. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft 1) und der F. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft 2). Komplementärin der Fondsgesellschaften war eine weitere Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ebenfalls Beklagte des Ausgangsverfahrens. Sowohl die Treuhandkommanditistin als auch die Komplementärin verfügten über jeweils einen Geschäftsführer, die weiteren Beklagten des Ausgangsverfahrens.
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Die Beschwerdeführer nahmen die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und deren Geschäftsführer im Ausgangsverfahren auf Leistung von Schadenersatz unter anderem aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") in Anspruch. Zur Begründung trugen sie unter anderem vor, die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und die Geschäftsführer hätten in den Emissionsprospekten auf ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen die Geschäftsführer hinweisen müssen. Nach Schluss der mündlichen Verhandlungen in erster Instanz ergänzten sie ihr Vorbringen zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Außerdem trugen sie für die Fondsgesellschaft 1 unter Vorlage von entsprechenden Unterlagen und für die Fondsgesellschaft 2 unter Verweis auf die Praktiken bei der Fondsgesellschaft 1 vor, der Geschäftsführer der Komplementärin habe nach Herausgabe der Emissionsprospekte, aber vor dem Beitritt der Anleger die mit dem Vermittler der Anlage getroffene Absprache über die geschuldete Provision für den Fall einer Stornierung von Verträgen zum Nachteil der Fondsgesellschaften geändert. Dazu traten sie Beweis an durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin. Das Landgericht wies die Klagen ab.
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Gegen das jeweilige Urteil legten die Beschwerdeführer Berufung ein. In der Berufungsinstanz vertieften sie ihren Vortrag zu einzelnen Prospektfehlern (Unterlassen eines Hinweises auf das bei Herausgabe der Emissionsprospekte laufende Ermittlungsverfahren, nachteilige Veränderung der Vertriebsvereinbarung im Falle von Stornierungen).
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Das Oberlandesgericht wies in den gesondert geführten Verfahren auf seine Absicht hin, die Berufungen durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen: Über die nachträgliche Änderung der Absprachen zwischen dem Vermittler und der Fondsgesellschaft 1 habe zwar informiert werden müssen. Diese Änderung könne im Falle der Stornierung von Anlageverträgen zu einem höheren Provisionseinbehalt der Vertriebsgesellschaft führen; dadurch könne sich das zur Investition zur Verfügung stehende Kapital verringern. Ein Prospektfehler liege indes im Ergebnis nicht vor. Die Beschwerdeführer hätten nur unzureichend dazu vorgetragen, dass die Regelungen in der Nachtragsvereinbarung für einen potentiellen Anleger von wesentlicher Bedeutung seien und daher einen Prospektfehler darstellten. Nicht vorgetragen sei, in welchem Ausmaß sich das für Investitionen zur Verfügung stehende Kapital durch die geänderten Stornierungsregeln verringere. Zudem habe das Landgericht zutreffend hervorgehoben, die Auswirkungen der Änderung der Vereinbarung würden teilweise dadurch ausgeglichen, dass der betreffende Anleger im Falle der Stornierung seiner Beteiligung eine sogenannte "Abgangsentschädigung" an die Fondsgesellschaft zahlen müsse. Soweit die Beschwerdeführer eine nachträgliche Änderung der Vereinbarung auch für die Fondsgesellschaft 2 behaupteten, sei der Vortrag schon deshalb unbeachtlich, weil die Behauptung ins Blaue hinein aufgestellt sei.
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In ihren Stellungnahmen zu den Hinweisbeschlüssen boten die Beschwerdeführer zur Berechnung der Auswirkungen der Stornoregeln Beweis durch Sachverständigengutachten sowie weiteren Zeugenbeweis dafür an, dass die Stornoregeln der Fondsgesellschaften 1 und 2 denen in anderen Gesellschaften der G. Gruppe angeglichen worden waren. Die Emissionsprospekte seien auch in Bezug auf die "Abgangsentschädigung" falsch. Es habe nie die Absicht bestanden, eine solche "Abgangsentschädigung" zu verlangen. Sie sei ausscheidenden Anlegern auch tatsächlich erlassen worden. Mit der Erstellung der Erlassverträge sei der benannte Zeuge, der damals ein Mitarbeiter der Holding der G. Gruppe gewesen sei, beauftragt gewesen. Die Beschwerdeführer legten zudem ein Angebot zum Abschluss eines solchen Erlassvertrags mit einer Anlegerin vor und benannten diese als Zeugin dafür, dass sie keine "Abgangsentschädigung" gezahlt habe.
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Das Oberlandesgericht wies durch die jeweils mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Beschlüsse die Berufungen zurück. Es nahm Bezug auf die Hinweisbeschlüsse und führte ergänzend aus, der Vortrag der Beschwerdeführer zu einem Erlass der "Abgangsentschädigung" sei unsubstantiiert, weil das Angebot eines Erlassvertrags nur für eine einzige Anlegerin dargelegt sei und auch bei dieser die Annahme des Angebots nicht ausgeführt werde. Die Anhörungsrügen der Beschwerdeführer hatten keinen Erfolg.
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II.
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Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Sie tragen unter anderem vor, das Oberlandesgericht habe unter Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs unterstellt, es stelle keinen wesentlichen Prospektfehler dar, dass der Prospekt auf künftig entstehende hohe Kosten für die Vermittlung auch im Falle einer Stornierung nicht hingewiesen habe. Es habe weiter ihren Vortrag und Beweisangebote dazu übergangen, dass die verkürzte Stornonachhaftung des Vermittlers nicht durch "Abgangsentschädigungen" der Anleger im Falle einer vorzeitigen Stornierung ihrer Beteiligung habe kompensiert werden können, weil von Anfang an die Absicht bestanden habe, stornierenden Anlegern die "Abgangsentschädigung" zu erlassen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerden sind dem Niedersächsischen Justizministerium und den Beklagten des Ausgangsverfahrens zugestellt worden. Der Bundesgerichtshof wurde in einem Parallelverfahren (betreffend den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 147/08 -, aufgehoben durch Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 -, WM 2012, S. 492) um eine Stellungnahme gebeten. Die Akten der Ausgangsverfahren sind beigezogen.
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Das Niedersächsische Justizministerium vertritt die Auffassung, das Oberlandesgericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführer nicht verletzt. Es habe den Vortrag zur fehlenden Angabe der Nachtragsvereinbarung zur Stornonachhaftung als unsubstantiiert gewürdigt. Die dazu angebotenen Beweisanträge hätten sich damit als nicht entscheidungserheblich erwiesen. Dies gelte auch für die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass ein Prospektfehler insoweit jedenfalls nicht wesentlich sei wegen der Kompensation der Stornoeffekte durch eine Abgangsentschädigung der Anleger von 15 % der Anlagesumme.
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Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren Äußerungen des Vorsitzenden des II. und des III. Zivilsenats übermittelt. Der Vorsitzende des II. Zivilsenats hat mitgeteilt, der Senat sei mit der Haftung für Prospektmängel unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Änderung der Vereinbarung mit einem Vermittler und dem nachträglichen Erlass von Abgangsentschädigungen bislang nicht befasst gewesen. Der Vorsitzende des III. Zivilsenats hat ausgeführt, Prospektangaben zu Vertriebsprovisionen dürften nicht irreführend sein. Der Anleger dürfe auch erwarten, dass die "Weichkosten" wie prospektiert verwendet würden. An die Substantiierungspflicht des Anlegers dürften dabei keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden; die Kausalität einer unrichtigen Prospektdarstellung für die Anlageentscheidung werde vermutet. Ob eine unrichtige Prospektdarstellung, die in Fällen der Stornierung der Anlage von einem zu hohen Rückfluss von Provisionen ausgehe, dadurch aufgewogen werden könne, dass der Prospekt die Zahlungen von Abgangsentschädigungen vorsehe, sei zweifelhaft. Soweit vorgetragen und unter Beweis gestellt worden sei, dass entgegen dem Prospektinhalt auf die Zahlung einer solchen Abgangsentschädigung von vornherein verzichtet worden sei, dürften auch an die Substantiierung dieses Vortrags, der sich prinzipiell auf Vorgänge außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Anlegers beziehe, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.
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Die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben von einer Stellungnahme abgesehen.
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IV.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihnen statt. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 103 Abs. 1 GG auch offensichtlich begründet.
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Die jeweils angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG; der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist insoweit im Hinblick auf den Vortrag der Beschwerdeführer im Anhörungsrügeverfahren erschöpft.
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Das Oberlandesgericht hat sich nur unzureichend und unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG mit dem durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin sowie dem Antritt von Zeugen- und Sachverständigenbeweis unterlegten Vorbringen der Beschwerdeführer befasst, die Fondsgesellschaft habe nachträglich in eine Änderung der Vertriebsbedingungen zu ihrem Nachteil eingewilligt, ohne dass der dadurch unrichtig gewordene Emissionsprospekt korrigiert worden sei, was einen wesentlichen Prospektfehler darstelle. Hier lag keiner der möglichen Gründe vor, derentwegen die Beweisantritte der Beschwerdeführer hätten unbeachtet bleiben dürfen, ohne dadurch Art. 103 Abs. 1 GG zu verletzen. Der Vortrag der Beschwerdeführer war ersichtlich hinreichend konkret und in den Einzelheiten hinlänglich ausgeführt. Das Oberlandesgericht hat insoweit die Anforderungen überspannt, die an die Substantiierung des Vortrags eines Anlegers vernünftigerweise gestellt werden können. Wegen der Begründung wird im Einzelnen auf den Beschluss der Kammer vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 - (WM 2012, S. 492) Bezug genommen, der in einem Parallelverfahren zu den hier gegenständlichen Verfassungsbeschwerden ergangen ist.
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Die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufungen sind danach aufzuheben und die Sachen jeweils an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Damit wird der jeweilige Beschluss des Oberlandesgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos. Ob zugleich eine Verletzung weiterer, als verletzt gerügter verfassungsmäßiger Rechte der Beschwerdeführer im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG gegeben ist, bedarf deshalb keiner Entscheidung mehr.
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V.
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Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>). Der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt, wenn der Verfassungsbeschwerde durch die Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen hier Besonderheiten auf, die eine Abweichung veranlassen.
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