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BVerfG 21.04.2011 - 2 BvR 633/11
BVerfG 21.04.2011 - 2 BvR 633/11 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung der Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten mit Neuroleptika - Abwägung zwischen erheblichem Grundrechtseingriff infolge der Zwangsbehandlung einerseits und begrenzter Verzögerung der Behandlung bei Aussetzung andererseits
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 138 Abs 1 StVollzG, § 15 Abs 1 UbrgG BW 1991, § 8 Abs 3 UbrgG BW 1991
Vorinstanz
vorgehend OLG Karlsruhe, 8. Februar 2011, Az: 2 Ws 161/10, Beschluss
vorgehend LG Heidelberg, 3. Mai 2010, Az: 7 StVK 139/09, Beschluss
nachgehend BVerfG, 12. Oktober 2011, Az: 2 BvR 633/11, Beschluss
Tenor
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Dem P. Zentrum W., und dem Klinikum W. wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt, die am 22. Juni 2009 angedrohte Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers mit dem Neuroleptikum Abilify zu vollziehen.
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Gründe
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I.
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Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die angedrohte Zwangsbehandlung eines nicht unter Betreuung stehenden Maßregelpatienten mit einem Neuroleptikum.
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1. Am 22. Juni 2009 wurde dem Beschwerdeführer seitens der Maßregelvollzugsklinik, in der er zum damaligen Zeitpunkt untergebracht war (P. Zentrum W.), die Absicht erklärt, ihn medikamentös mit dem Neuroleptikum Abilify zu behandeln und diese Behandlung notfalls zwangsweise durchzuführen.
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2. Hiergegen beantragte der Beschwerdeführer Rechtsschutz in der Hauptsache und vorläufigen Rechtsschutz. Die zwangsweise Verabreichung von Neuroleptika sei rechtswidrig. Nach § 15 Abs. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 3 UBG-BW dürfe eine mit einer erheblichen Gefahr für Leben und Gesundheit verbundene Behandlung nur mit dem Willen des Untergebrachten erfolgen. Eine solche Gefahr liege hier vor, weil angesichts seiner Vorerkrankung die Gefahr von Nebenwirkungen des vorgesehenen Medikaments höher sei. Auch greife die Zwangsmedikation massiv in seine Grundrechte ein.
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Er beantragte, ein unabhängiges, anstaltsexternes Gutachten zur Erforderlichkeit der neuroleptischen Medikation einzuholen.
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3. Die Strafvollstreckungskammer holte eine telefonische Stellungnahme einer behandelnden Ärztin des P. Zentrums ein. Diese gab nach den Feststellungen des Landgerichts im angegriffenen Beschluss an, dass sich die Notwendigkeit einer neuroleptischen Medikation aus dem Misstrauen des Beschwerdeführers und seiner Feindseligkeit gegenüber seinen Behandlern ergebe, die allein mit psychotherapeutischer Behandlung nicht zu beseitigen seien. Entsprechend wissenschaftlichen Empfehlungen solle am 29. Juni 2009 mit der neuroleptischen Medikation mit Abilify zunächst in niedriger Dosierung begonnen werden, um die feindseligen, zerstörenden und besonders leicht kränkbaren Persönlichkeitsanteile des Beschwerdeführers zurückzudrängen. Dadurch bestehe die Chance, die schizoiden und paranoiden Anteile der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers zurückzudrängen; ansonsten sei mit einer unabsehbar langen Verweildauer des Beschwerdeführers im Maßregelvollzug zu rechnen.
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4. Mit Beschluss vom 26. Juni 2009 untersagte die Strafvollstreckungskammer dem P. Zentrum durch einstweilige Anordnung die Verabreichung von Abilify oder anderen Neuroleptika.
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5. Mitangegriffenem Beschluss wies die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück. Nach dem zu der Frage, ob die Verabreichung von Neuroleptika, insbesondere von Abilify, beim Beschwerdeführer aus kardiologischer und internistischer Sicht zu gesundheitlichen Risiken führen könne, welche den Nutzen der Medikation überstiegen, eingeholten Gutachten seien solche gesundheitlichen Risiken ausgeschlossen. Es sei nicht erforderlich, das vom Beschwerdeführer beantragte Gutachten zur Notwendigkeit seiner neuroleptischen Behandlung einzuholen, weil die Klinik diese Notwendigkeit bereits überzeugend mit dem Misstrauen und der Feindseligkeit des Beschwerdeführers gegenüber seinen Behandlern begründet habe.
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6. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde ein.
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Die Behandlung sei unverhältnismäßig, denn an ihm solle nur "herumexperimentiert" werden. Es sei kein Behandlungsziel definiert. Ein unklarer Behandlungserfolg rechtfertige nicht die Eingehung gesundheitlicher Risiken.
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Auch sei die nach gutachterlicher Einschätzung erforderliche strenge psychiatrische Indikation einer solchen Behandlung nicht gegeben. Bisher seien bei ihm nur Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert worden, nicht aber Psychosen, die allein mit Neuroleptika behandelt würden. Es bestünden keinerlei Zielsymptome, welche eine neuroleptische Medikation rechtfertigen könnten. Seine Abwehrhaltung gegen die Behandlung sei nicht krankheitsbedingt.Sein Verhalten gestatte keine neuroleptische Medikation. Die Klinik wolle nach sechs Jahren erfolgloser Behandlung Neuroleptika quasi versuchsweise einsetzen. Dies sei eine Körperverletzung.
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Demgemäß sei auch die Einholung eines unabhängigen psychiatrischen Gutachtens beantragt worden.
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7. Mitangegriffenem Beschluss verwarf das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig.
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Die Nachprüfung der Entscheidung sei nicht zur Fortbildung des Rechts geboten, weil der Fall hinsichtlich der gesetzlichen Vorgaben keine besonderen Probleme aufweise. Rechtsgrundlage einer Zwangsbehandlung sei § 138 Abs. 1 StVollzG in Verbindung mit den Landesunterbringungsgesetzen. Danach sei eine Behandlung gegen den Willen des Untergebrachten zulässig, wenn sie auf der Grundlage und unter Berücksichtigung der Voraussetzungen einer landesrechtlichen Vorschrift erfolge und der Bekämpfung der Anlasserkrankung diene. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme vorausgesetzt, sei die erzwungene Behandlung nicht unzulässig. Das Landesrecht verpflichte den Untergebrachten, diejenigen Behandlungsmaßnahmen zu dulden, welche nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich seien, um die Anlasserkrankung zu behandeln und zu heilen. Bei der Diagnose und Indikation der Behandlung verfügten die behandelnden Ärzte über einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraum.
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Die Nachprüfung sei auch nicht zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung geboten, weil die angefochtene Entscheidung rechtsfehlerfrei ergangen sei. Dass eine Behandlung mit Neuroleptika im vorliegenden Fall indiziert sei, habe die Strafvollstreckungskammer - die dies nur eingeschränkt überprüfen könne - aufgrund der nachvollziehbaren Stellungnahme der Klinik angenommen. Es sei nicht ersichtlich, dass die Regeln der ärztlichen Kunst dabei außer acht gelassen worden seien. Hinsichtlich der Gesundheitsgefahrenhabe die Strafvollstreckungskammer ein Gutachten eingeholt und das Vorliegen dieser Gefahren auf der Grundlage des Gutachtens nachvollziehbar verneint.
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8. Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit.
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Eine mit einer erheblichen Gefahr für Leben und Gesundheit verbundene Behandlung bedürfe nach § 15 Abs. 1 und § 8 Abs. 3 UBG-BW der Einwilligung des Betroffenen. Seine Herzerkrankung und seine Allergien seien indes nicht berücksichtigt worden. Zudem erlaube Baden-Württemberg etwas, was sonst unzulässig sei, nämlich eine Behandlung mit Neuroleptika, obwohl der Betroffene nicht an einer Psychose oder Schizophrenie leide. Es sei keine psychiatrische Indikation gestellt worden. Die körperliche Unversehrtheit sei verletzt, denn er leide unter den Nebenwirkungen des Medikaments. Auch habe die Klinik mit der Zwangsmedikation begonnen, ohne das bevorstehende Entlassungsgutachten abzuwarten.
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Der Beschwerdeführer beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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9. Zwischenzeitlich wurde der Beschwerdeführer in das Klinikum W. für die Dauer von sechs Monaten verlegt. Dort wird die Behandlung, weiterhin gegen seinen Willen, fortgesetzt.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, über den wegen Eilbedürftigkeit ohne Anhörung des Justizministeriumsentschieden werden kann, hat Erfolg.
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1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Kann letzteres nicht festgestellt werden, muss der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens also als offen angesehen werden, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 91, 70 74 f.>; 105, 365 370 f.>; stRspr).
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2. Danach ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung hier geboten. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet (a). Die Folgenabwägung fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus (b).
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls insoweit zulässig, wie der Beschwerdeführer rügt, die Maßnahme sei unverhältnismäßig und das Gericht habe hinsichtlich der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer zwangsweisen medikamentösen Behandlung den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.
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Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit ausreichend begründet. Insbesondere benennt der Beschwerdeführer das nach seiner Auffassung verletzte Grundrecht sowie die als grundrechtsverletzend angesehenen Maßnahmen, legt die angegriffenen Entscheidungen vor und setzt sich mit ihnen in einer Weise auseinander, die erkennen lässt, inwiefern er sich in den benannten Grundrechten verletzt sieht. Ausweislich der vorgelegten Schriftsätze aus dem fachgerichtlichen Verfahren hat er auch dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität (vgl. BVerfGE 107, 395 414>; 112, 50 60>) Rechnung getragen.
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Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 - 2 BvR 882/09 -, juris).
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b) Die demnach gebotene Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde aber später als begründet, muss der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung von erheblichem Gewicht bis auf weiteres hinnehmen. Unabhängig von etwaigen nachteiligen Wirkungen des Medikaments, das dem Beschwerdeführer verabreicht werden soll, läge auch bereits in der zwangsweisen Verabreichung als solcher ein schwerer Eingriff. Dem steht für den hypothetischen Vergleichsfall, dass die einstweilige Anordnung ergeht, die Verfassungsbeschwerde sich aber später als nicht begründet erweist, nur eine begrenzte Verzögerung der beabsichtigten Medikation entgegen. Die angegriffenen Entscheidungen stützen sich nicht auf die Annahme, dass im Falle des Unterbleibens der beabsichtigten Behandlung irgendwelche akuten Gefahren drohen. Unter diesen Umständen überwiegen deutlich die grundrechtlichen Belange des Beschwerdeführers, die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechen.
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Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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