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BFH 20.03.2024 - I B 25/23
BFH 20.03.2024 - I B 25/23 - Bindung des FG an einen Beschluss des zuständigen AG zur Bestellung eines Nachtragsliquidators
Normen
§ 273 Abs 4 S 1 AktG, § 74 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG Köln, 24. April 2023, Az: 14 K 3066/15, Beschluss
Leitsatz
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NV: Die Bindungswirkung eines Beschlusses des zuständigen Amtsgerichts zur Bestellung eines Nachtragsliquidators für das finanzgerichtliche Verfahren entfällt nur dann, wenn er als schlechterdings nicht im Rahmen des § 273 Abs. 4 Satz 1 des Aktiengesetzes ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden ist oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb nach den Maßgaben der Rechtsprechung (Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 27.05.2008 - X ARZ 45/08, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht --NJW-RR-- 2008, 1309 und vom 17.05.2011 - X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364) als willkürlich betrachtet werden müsste.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Finanzgerichts Köln vom 24.04.2023 - 14 K 3066/15 aufgehoben.
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Das Verfahren ist fortzuführen.
Tatbestand
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I.
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Das Finanzgericht (FG) Köln hat das dort anhängige Verfahren mit Beschluss der Berichterstatterin vom 24.04.2023 - 14 K 3066/15 erneut mit der Begründung ausgesetzt, der Beschluss des Amtsgerichts (AG) X vom ….04.2021, mit dem die Nachtragsliquidation für die inzwischen gelöschte … Limited (Ltd.) mit Sitz in Großbritannien angeordnet und der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) zum Nachtragsliquidator bestellt wurde, sei zu Unrecht ergangen und deshalb nicht bindend, weil der Gerichtsstand durch arglistige Täuschung über zuständigkeitsbegründende Tatsachen erschlichen worden sei.
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Dagegen hat der Kläger Beschwerde erhoben, mit der er geltend macht, der Beschluss des AG vom ….04.2021 sei für das FG bindend, da er jedenfalls nicht nichtig sei. Er beantragt, den Beschluss des FG Köln vom 24.04.2023 - 14 K 3066/15 aufzuheben.
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Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt) hat sich nicht zur Sache geäußert und auch keinen Antrag gestellt.
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Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 12.06.2023).
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Beschwerde ist begründet und der angefochtene Beschluss des FG daher durch Beschluss (§ 132 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) aufzuheben. Der Beschluss des AG vom ….04.2021 ist nicht nichtig und daher für das FG bindend. Eine erneute Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO kam danach nicht in Betracht. Das Verfahren ist fortzuführen.
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1. Nach § 74 FGO kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung ganz oder teilweise vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Dies erfordert keine rechtliche Bindung der vorgreiflichen Entscheidung; ausreichend ist vielmehr, dass die Entscheidung in dem anderen Verfahren in rechtlicher Hinsicht für das auszusetzende Verfahren von Bedeutung ist (z.B. Senatsurteil vom 07.05.2014 - I R 59/13, BFH/NV 2014, 1752).
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2. Mit dem FG ist zwar die wirksame Bestellung eines Vertreters der gelöschten Ltd. erforderlich, um die gemäß dem Senatsbeschluss vom 10.12.2019 - I B 11/19 (BFH/NV 2022, 24) erforderliche notwendige Beiladung der Ltd. vorzunehmen; allerdings ist der Beschluss des AG vom ….04.2021 für das FG bindend und hat den Mangel der Vertretung beseitigt. Der genannte Beschluss mag auf einer --vom Kläger dem AG unzutreffend dargelegten-- fehlerhaften Tatsachengrundlage beruhen. Dies macht den Beschluss aber nicht nichtig, sondern nur rechtswidrig.
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a) Eine Gesellschaft ausländischen Rechts, die infolge der Löschung im Register ihres Heimatstaates durch eine behördliche Anordnung ihre Rechtsfähigkeit verliert, besteht für ihr in der Bundesrepublik Deutschland belegenes Vermögen als Restgesellschaft fort. Für eine danach bestehende Restgesellschaft kann auch ein Vertretungsorgan bestimmt werden. Wenn einzelne Abwicklungsmaßnahmen in Betracht kommen, ist entsprechend § 273 Abs. 4 Satz 1 des Aktiengesetzes (AktG) ein Nachtragsliquidator zu bestellen. Sind keine anderweitigen Anhaltspunkte vorhanden, ist für die Bestellung des Nachtragsliquidators dasjenige AG örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich das Vermögensrecht befindet (Beschluss des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 22.11.2016 - II ZB 19/15, BGHZ 212, 381).
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b) Der Beschluss des örtlich zuständigen AG über die Bestellung eines Nachtragsliquidators hat rechtsgestaltenden Charakter und entfaltet ohne Weiteres für jedermann Bindungswirkung (Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 02.08.1999 - 2 W 509/99, GmbH-Rundschau --GmbHR-- 1999, 1202). Dies gilt --entgegen der Annahme des FG-- grundsätzlich selbst dann, wenn die Nachtragsliquidation auf einer objektiv unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht, die dem Gericht mit dem Willen der Irrtumserregung zur "Erschleichung eines inländischen Gerichtsstandes" (hier: durch Behauptung eines Goldbestandes als inländisches Vermögen) unterbreitet worden ist. Der Senat kann es insoweit dahinstehen lassen, ob die fehlerhaften Angaben dem AG entsprechend der Ansicht des FG mit Täuschungsabsicht gemacht worden sind oder nicht. Denn selbst wenn dies zu bejahen wäre, würde dieser Umstand den Beschluss des AG nicht nichtig, sondern lediglich rechtswidrig machen; insoweit wäre es Aufgabe des FG gewesen, das AG über seine Sachverhaltserkenntnisse zu informieren, um ihm selbst die Möglichkeit der Aufhebung seines Beschlusses vom ….04.2021 zu geben.
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aa) Der Senat kann es offen lassen, ob ein Nachtragsliquidator auch ohne inländisches Vermögen zu bestellen wäre, schon weil die gelöschte Ltd. gedanklich so lange fortbesteht, bis das inländische Besteuerungsverfahren abgeschlossen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 28.01.2004 - I B 210/03, BFH/NV 2004, 670). Jedenfalls ist der Beschluss des AG vom ….04.2021 nicht nichtig.
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bb) Die Bindungswirkung des vorgenannten Beschlusses für das FG entfiele nur dann, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 273 Abs. 4 Satz 1 AktG ergangen anzusehen wäre, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruhte, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden wäre oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrte und deshalb als willkürlich betrachtet werden müsste (vgl. zu Verweisungsbeschlüssen BGH-Beschluss vom 17.05.2011 - X ARZ 109/11, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht --NJW-RR-- 2011, 1364). Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt vielmehr nur dann vor, wenn dem Beschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH-Beschlüsse vom 27.05.2008 - X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309 und vom 17.05.2011 - X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364).
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cc) So liegt der Streitfall aber erkennbar nicht. Denn selbst bei Bejahung einer "Zuständigkeitserschleichung" durch bewusst unrichtige Sachverhaltsangaben liegt keine im vorgenannten Sinne willkürliche Entscheidung des AG vor. Ist dem Gericht kein relevanter rechtlicher Fehler unterlaufen, bleibt die Anordnung einer Nachtragsliquidation auch dann bindend, wenn sich im weiteren Verlaufe des Rechtsstreits herausstellt, dass der Kläger oder eine Person, deren Verhalten ihm zuzurechnen ist, sie durch falsche Tatsachenangaben mitverursacht oder gar erschlichen hat (vgl. Beschluss des Oberlandesgerichts --OLG-- Dresden vom 18.06.2009 - 3 AR 0047/09, juris).
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dd) Nichts anderes folgt aus den vom FG zitierten Beschlüssen des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 08.09.2003 - 1Z AR 86/03 (GmbHR 2003, 1495) und des OLG Celle vom 16.12.2003 - 2 W 117/03 (NJW-RR 2004, 627). Sie betreffen durchweg die Verweisung von Insolvenzverfahren und behandeln die Frage einer insoweit bestehenden Bindungswirkung gemäß § 4 der Insolvenzordnung (InsO) i.V.m. § 281 Abs. 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung. Dabei wird vor allem die Pflicht des erstbefassten Insolvenzgerichts hervorgehoben, die differenzierten Zuständigkeitsregeln des § 3 Abs. 1 InsO sowie die insoweit bestehende Amtsermittlungspflicht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 InsO) zu beachten; in diesem Kontext hätten sich die Insolvenzgerichte gegebenenfalls auch mit der Frage eines rechtsmissbräuchlichen Erschleichens der Zuständigkeit auseinanderzusetzen, wenn es um "Firmenbestattungen" gehe und im Zuge der Insolvenzantragstellung etwa der eingetragene Sitz des Unternehmens verlagert worden sei oder der Geschäftsführer unter Aufgabe der bisherigen Geschäftsräume sämtliche Firmenunterlagen an seine Privatanschrift verbracht habe. Wenngleich die zitierten Beschlüsse im Ergebnis die Bindungswirkung der jeweiligen insolvenzgerichtlichen Verweisung verneint haben, ist dies nicht etwa deshalb geschehen, weil das verweisende Gericht vom Insolvenzantragsteller getäuscht worden war und auf diese objektiv unzutreffende Sachverhaltsgrundlage verwiesen hatte, sondern weil es seiner grundlegenden Pflicht, die Frage seiner (Un-)Zuständigkeit zu prüfen, nicht ausreichend nachgekommen war. Die jeweilige Verweisungsentscheidung selbst war also aus vom verweisenden Gericht zu verantwortenden Gründen "makelbehaftet" beziehungsweise willkürlich (Beschluss des OLG Dresden vom 18.06.2009 - 3 AR 0047/09, juris). So liegt der Streitfall aber gerade nicht.
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c) Soweit das FG für seine abweichende Auffassung auf den BGH-Beschluss vom 27.05.2020 - XII ZB 54/18 (Neue Juristische Wochenschrift 2020, 3026) beziehungsweise den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 27.01.2016 - VII B 119/15 (BFH/NV 2016, 1586) verwiesen hat, ist dies nicht erfolgreich. Der BGH hat in seinem Beschluss die angefochtene Entscheidung des Beschwerdegerichts deshalb aufgehoben und den Rechtsstreit an dieses zurückverweisen, weil seine Feststellungen nicht ausreichend waren, um der Entscheidung eines ausländischen Gerichts zur Volljährigenadoption die Anerkennung mit der Begründung zu versagen, es liege ein Verstoß gegen den sogenannten ordre public vor. Der BFH hat seinen Beschluss über die Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Anordnung maßgeblich auf das Fehlen eines Anordnungsgrundes und nicht darauf gestützt, dass eine ausländische Restschuldbefreiung wegen des Verstoßes gegen den sogenannten ordre public nicht anzuerkennen sei.
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3. Eine Kostenentscheidung ist in diesem unselbständigen Nebenverfahren nicht zu treffen; über die Kosten eines erfolgreichen Beschwerdeverfahrens ist im Rahmen der Entscheidung über die Hauptsache zu befinden (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 21.08.2015 - I B 113/14, BFH/NV 2016, 58; Brandis in Tipke/Kruse, § 143 FGO Rz 7, m.w.N.).
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