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BFH 16.04.2020 - VII S 35/19
BFH 16.04.2020 - VII S 35/19 - Anforderung von Steuerakten durch FG - In-camera-Verfahren vor dem BFH
Normen
§ 71 Abs 2 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 86 Abs 3 FGO, § 143 Abs 1 FGO
Leitsatz
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NV: Grundsätzlich ist es Sache des FG, im Rahmen der ihm obliegenden Sachverhaltsermittlung (§ 76 Abs. 1 FGO) zu entscheiden, welche Steuerakten zum Verfahren beigezogen werden sollen (Einschätzungsprärogative). Ausnahmsweise ist aber der BFH im sog. In-camera-Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO als das zur Entscheidung berufene Gericht nicht an die Rechtsauffassung des FG gebunden, wenn diese Rechtsauffassung offensichtlich fehlerhaft ist .
Tenor
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Der Antrag wird abgelehnt.
Tatbestand
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I.
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Der Kläger und Antragsteller (Kläger) war seit dem 01.12.2014 vorläufiger Sachwalter und später Sachwalter in dem mit Beschluss vom 01.03.2015 eröffneten und inzwischen mit Beschluss vom 14.01.2016 wieder aufgehobenen Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH.
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Der Geschäftsführer der GmbH hatte im November 2014, also noch vor Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter, die Abrechnung der Löhne für November 2014 veranlasst. Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag wurden am 20.11.2014 angemeldet und die Nettolöhne den Arbeitnehmern am 30.11.2014 in voller Höhe ausgezahlt. Da jedoch in der Folgezeit für November 2014 weder Lohnsteuer noch Solidaritätszuschlag entrichtet wurden, meldete der Beklagte und Antragsgegner (das Finanzamt --FA--) beide Beträge zur Insolvenztabelle an. Die Beträge wurden auch zur Tabelle festgestellt und schließlich mit einer Insolvenzquote von 2,39 % an das FA ausgezahlt.
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Mit Haftungsbescheid vom 21.04.2016 nahm das FA den Kläger wegen Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag für November 2014 nach § 69 i.V.m. §§ 34, 35 der Abgabenordnung (AO) in Haftung. Der Kläger legte dagegen Einspruch ein und beantragte u.a. Akteneinsicht. Den Einspruch wies das FA mit Entscheidung vom 09.12.2016 als unbegründet zurück. Akteneinsicht gewährte das FA nicht.
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Der Kläger hat dagegen Klage erhoben und im Rahmen des Klageverfahrens auch beantragt, "sämtliche beim Beklagten geführten Akten betreffenden die GmbH im Zusammenhang mit der Haftungsinanspruchnahme des Klägers und sämtliche beim Beklagten geführten Akten betreffend den Kläger im Zusammenhang mit seiner Haftungsinanspruchnahme" gemäß § 86 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beizuziehen und ihm Akteneinsicht zu gewähren.
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Das FA hat dem Finanzgericht (FG) mit Schriftsatz vom 03.04.2017 einen Band Lohnsteuerakten übersandt.
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Mit Verfügung vom 06.03.2019 hat das FG das FA um Übersendung der Steuerakten der GmbH "im Zusammenhang mit der Haftungsinanspruchnahme des Klägers hinsichtlich der Lohnsteuer für den Monat November 2014" gebeten. Nach Rückfrage beim Kläger hat das FG die Aktenanforderung dahingehend konkretisiert, dass die Steuerakten der GmbH ab dem Jahr 2012 vorgelegt werden sollen.
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Das FA hat daraufhin mitgeteilt, dass zur Prüfung der Haftungsinanspruchnahme lediglich die bereits übersandten Lohnsteuerakten herangezogen worden seien. Hieraus ergäben sich sämtliche Erkenntnisse, die für die Haftungsinanspruchnahme benötigt würden. Es sei nicht ersichtlich, inwieweit die in den übrigen Akten der GmbH enthaltenen Informationen Grundlage für die Haftungsinanspruchnahme gewesen sein sollten. Das FA sehe sich daher durch das Steuergeheimnis gehindert, weitere Akten zu übersenden.
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Mit Schriftsatz vom 14.05.2019 hat der Kläger beantragt, der Bundesfinanzhof (BFH) möge gemäß § 86 Abs. 3 FGO feststellen, dass die Verweigerung der Aktenvorlage durch das FA nicht rechtmäßig ist.
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Das FA hat das FG mit Schriftsatz vom 02.07.2019 gebeten darzulegen, welche weiteren Steuerakten der GmbH für das Lohnsteuerhaftungsverfahren November 2014 entscheidungserheblich sein sollen. Die vorgelegte Lohnsteuerakte enthalte die Prüfung der Haftungsvoraussetzungen, die Anhörung des Klägers, den Haftungsbescheid, das Einspruchsverfahren, den Vorgang zur Minderung der Haftungssumme und die Einspruchsentscheidung. Darüber hinaus sei eine weitere Lohnsteuerakte an das FG übersandt worden, die das Klageverfahren des Geschäftsführers betreffe, der ebenfalls in Haftung genommen worden sei. Eine Übersendung weiterer Akten sei nach § 30 AO nicht zulässig.
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Das FG hat mit Verfügung vom 31.07.2019 seine Aktenanforderung --mit dem Zusatz "Körperschaftsteuer, Bilanz, BP und Vertragsakte"-- wiederholt und zur Begründung ausgeführt, es sei nicht auszuschließen, dass sich aus den angeforderten Akten weitere für die Sachverhaltsfeststellung bedeutsame Tatsachen ergeben; welche Akten dann anschließend unter Beachtung des Steuergeheimnisses an den Kläger zur Einsicht weiterzuleiten seien, entscheide das Gericht in eigener Zuständigkeit.
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Das FA hat daraufhin mitgeteilt, dass eine Übersendung weiterer Akten nur in Betracht komme, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren bestehe. Es werde daher erneut entweder um Konkretisierung der Aktenanforderung oder hilfsweise um die Eröffnung des Verfahrens nach § 86 FGO gebeten.
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Das FG hat die Sache dem BFH vorgelegt.
Entscheidungsgründe
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II.
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Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Antrag ist zulässig.
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Nach § 86 Abs. 1 FGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden und Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet, soweit nicht durch das Steuergeheimnis (§ 30 AO) geschützte Verhältnisse Dritter unbefugt offenbart werden. Hat das FG eine entsprechende Anordnung erteilt und weigert sich die ersuchte Behörde, dieser Aufforderung nachzukommen, stellt gemäß § 86 Abs. 3 FGO der BFH auf Antrag eines Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss fest, ob die Verweigerung der Vorlage rechtmäßig ist.
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Diese Voraussetzungen sind mit der wiederholten Aufforderung des FG zur Übersendung der Steuerakten der GmbH ab dem Jahr 2012 und der Weigerung des FA, über die bereits vorgelegte Haftungsakte hinaus weitere Akten zu übersenden, erfüllt.
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Das FG seinerseits hat mit der Weitergabe des Antrags an den BFH deutlich gemacht, dass es an der Aktenanforderung festhält.
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2. Der Antrag ist nicht begründet. Die Weigerung des FA, dem FG die angeforderten Akten vorzulegen, ist rechtmäßig.
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Nach § 71 Abs. 2 FGO hat die beteiligte Finanzbehörde dem FG "die den Streitfall betreffenden Akten" zu übermitteln. Bei diesen handelt es sich im vorliegenden Fall erkennbar allein um die dem FG bereits übersandten Lohnsteuerakten.
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Zwar ist das FG im Rahmen der ihm obliegenden Sachverhaltsermittlung (§ 76 Abs. 1 FGO) berechtigt, weitere Behördenakten beizuziehen und die jeweiligen Behörden sind unter den in § 86 Abs. 1 und 2 FGO genannten Voraussetzungen zu deren Vorlage verpflichtet. Auch ist es grundsätzlich Sache des FG zu entscheiden, welche Akten es für entscheidungserheblich hält. Dem FG kommt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu; der BFH ist in dem Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO grundsätzlich an diese Einschätzung gebunden (vgl. BFH-Beschluss vom 16.01.2013 - III S 38/11, BFH/NV 2013, 701, m.w.N.; s.a. Krumm in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 86 FGO Rz 20; Stiepel in Gosch, FGO § 86 Rz 76). Das gilt jedoch nicht, wenn die Rechtsauffassung des FG offensichtlich fehlerhaft ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 701, m.w.N.; zustimmend Stiepel in Gosch, FGO § 86 Rz 76). In Zweifelsfällen hat das FG den konkreten Zusammenhang mit dem Streitfall darzulegen (Senatsbeschluss vom 03.06.2015 - VII S 11/15, BFH/NV 2015, 1100; ebenso: Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 86 Rz 4).
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Im vorliegenden Streitfall ist nicht erkennbar --und seitens des FG trotz entsprechender Bitte des FA auch nicht nachvollziehbar begründet worden--, welche Bedeutung für die Entscheidung über den Haftungsbescheid wegen Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag für November 2014 die Akten der Jahre ab 2012 zur Körperschaftsteuer der GmbH sowie die Bilanz-, Betriebsprüfungs- und Vertragsakten haben sollen. Auch dem Vorbringen des Klägers ist nichts zu entnehmen, was eine Einsichtnahme in diese Akten in Bezug auf den vorliegenden Rechtsstreit rechtfertigen könnte. Der nicht näher substantiierte Hinweis auf Anhaltspunkte für ein Verhalten des FA, das im Rahmen des Ermessens der Haftungsinanspruchnahme für den Kläger vorteilhaft sein könnte, reicht nicht aus, um die Notwendigkeit einer Einsichtnahme zu belegen und einen konkreten Zusammenhang mit dem Streitfall darzulegen.
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3. Das Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO ist jedenfalls dann, wenn der Antrag erfolglos geblieben ist, ein unselbständiges Zwischenverfahren, so dass es keiner eigenständigen Kostenentscheidung bedarf (s. BFH-Beschluss vom 25.02.2014 - V B 60/12, BFHE 244, 234, BStBl II 2014, 478, unter Hinweis darauf, dass der I. und X. Senat des BFH an ihrer gegenteiligen Auffassung --BFH-Beschlüsse vom 17.09.2007 - I B 93/07, BFH/NV 2008, 387, und vom 15.10.2009 - X S 9/09, BFH/NV 2010, 54-- nicht mehr festhalten; zustimmend: Stiepel in Gosch, FGO § 86 Rz 80; Gräber/Herbert, a.a.O., § 86 Rz 20, und ebenso Gräber/Ratschow, a.a.O., § 143 Rz 8; ohne Einschränkung von einem unselbständigen Zwischenverfahren ohne Kostenentscheidung ausgehend: BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 701; offengelassen im BFH-Beschluss vom 12.03.2019 - XI B 9/19, BFH/NV 2019, 837). Soweit der beschließende Senat seinerseits für den Fall eines erfolglosen Antrags nach § 86 Abs. 3 FGO unter Hinweis auf den BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 54 von einem selbständigen Nebenverfahren ausgegangen ist (s. Senatsbeschluss in BFH/NV 2015, 1100), hält er daran nicht mehr fest.
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