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BFH 31.05.2017 - I B 102/16
BFH 31.05.2017 - I B 102/16 - Keine Nichtigkeit eines Steuerbescheids wegen Verwendung einer veralteten Gesetzesfassung - Auslegung eines auf einen Schriftsatz bezugnehmenden Klageantrags
Normen
§ 125 Abs 1 AO, § 76 Abs 2 FGO, § 8c Abs 1 S 6 KStG 2002, KStG VZ 2011, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 24. August 2016, Az: 10 K 126/15, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Ein Steuerbescheid, in dem eine für den Steuerpflichtigen günstige Gesetzesklausel (hier: die sog. Stille-Reserven-Klausel des § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG) nicht geprüft und angewendet worden ist, ist nicht deswegen nichtig, weil der den Bescheid vorbereitenden Sachbearbeiterin des FA nur eine Gesetzesfassung für einen früheren Veranlagungszeitraum zur Verfügung stand, in der die Klausel noch nicht existiert hat.
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2. NV: Bezieht sich ein in der mündlichen Verhandlung von einem fachkundigen Prozessbevollmächtigten gestellter Klageantrag auf einen schriftsätzlichen Antrag, wie er vor der Vornahme einer Klageerweiterung formuliert worden war, kann er grundsätzlich nur dahin verstanden werden, dass die Klageerweiterung nicht mit umfasst ist. Das gilt auch, wenn der Vorsitzende Richter zuvor seine Pflicht, auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken, verletzt hat.
Tenor
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Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 24. August 2016 10 K 126/15 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
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I. An der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), einer GmbH, waren ursprünglich drei Gesellschafter zu je einem Drittel beteiligt. Den verbleibenden Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer zum 31. Dezember 2010 stellte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) auf ... € fest. Zum 31. Dezember 2011 schied einer der Gesellschafter aus und trat seinen Geschäftsanteil an die Klägerin ab. Das FA nahm aufgrund der Übertragung des Geschäftsanteils an, dass die bis zum 31. Dezember 2011 von der Klägerin erwirtschafteten Verluste gemäß § 8c Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes in der im Streitjahr (2011) geltenden Fassung (KStG) um ein Drittel zu kürzen seien. Es kam auf dieser Grundlage im Rahmen des Körperschaftsteuerbescheids 2011 zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von ... € und setzte die Körperschaftsteuer auf ... € fest. Einen entsprechend gekürzten Verlustanteil berücksichtigte das FA auch im Rahmen der gesonderten Feststellungen des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer und des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2011. Alle drei genannten Bescheide datieren vom 28. Dezember 2012 und wurden bestandskräftig.
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Mit Schreiben vom 8. Februar 2014 beantragte die Klägerin beim FA die Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide. Zur Begründung trug sie vor, die Verlustvorträge hätten nicht gemäß § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG gekürzt werden dürfen, weil in ihrem Fall die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG (sog. Stille-Reserven-Klausel) vorgelegen hätten. Die Nichtanwendung der Klausel habe nach Rückfrage beim FA darauf beruht, dass der zuständigen Sachbearbeiterin nur eine Gesetzessammlung mit der für den Veranlagungszeitraum 2008 anzuwendenden Fassung des Körperschaftsteuergesetzes zur Verfügung gestanden habe. § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG sei jedoch erst mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2009 in das Gesetz eingefügt worden. Da es der Sachbearbeiterin demnach unmöglich gewesen sei, die richtige Norm anzuwenden, liege ein strukturelles Vollzugsdefizit vor, welches zur Verfassungswidrigkeit des Verwaltungshandelns führe. Überdies sei eine endgültige "Vernichtung" von Verlustabzügen stets verfassungsrechtlich relevant.
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Das FA lehnte den Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Körperschaftsteuerbescheids 2011 mit Bescheid vom 20. Februar 2014 ab und wies den Einspruch der Klägerin mit Einspruchsentscheidung vom 13. April 2015 --ebenfalls nur bezogen auf den Körperschaftsteuerbescheid 2011-- zurück.
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Gegen die Ablehnung des Antrags auf Feststellung der Nichtigkeit des Körperschaftsteuerbescheids 2011 erhob die Klägerin Klage vor dem Niedersächsischen Finanzgericht (FG); sie beantragte in der Klageschrift vom 18. Mai 2015, den Ablehnungsbescheid aufzuheben und die Nichtigkeit des Körperschaftsteuerbescheids 2011 festzustellen. Im Klagebegründungsschriftsatz vom 29. Juni 2015 erklärte die Klägerin sodann, die Klage richte sich gegen die Ablehnung ihres Antrags vom 8. Februar 2014 auf Feststellung der Nichtigkeit des Körperschaftsteuerbescheids 2011 sowie der beiden Verlustfeststellungsbescheide zum 31. Dezember 2011. In der mündlichen Verhandlung vor dem FG stellten die prozessbevollmächtigten Steuerberater der Klägerin den "Antrag aus dem Schriftsatz vom 18. Mai 2015".
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Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG hat sie mit Urteil vom 24. August 2016 10 K 126/15 als unbegründet abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. In Rubrum und Tatbestand des FG-Urteils wird nur der Körperschaftsteuerbescheid 2011 als Streitgegenstand bezeichnet. Einen Antrag der Klägerin auf Berichtigung des Urteilstatbestands dahingehend, auch die Bescheide über die gesonderten Feststellungen des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer und des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2011 als Verfahrensgegenstände zu bezeichnen, lehnte das Niedersächsische FG mit Beschluss vom 21. November 2016 10 K 126/15 ab. Zur Begründung bezog sich das FG auf den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag aus der Klageschrift vom 18. Mai 2015, der sich ausschließlich auf den Körperschaftsteuerbescheid 2011 bezogen habe.
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Die Klägerin beantragt mit ihrer Beschwerde, die Revision gegen das FG-Urteil zuzulassen. Sie beruft sich insoweit auf die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und macht Verfahrensmängel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
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Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Es kann offen bleiben, ob die Klägerin die geltend gemachten Zulassungsgründe entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO hinreichend dargelegt hat. Dann jedenfalls ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet, weil die Zulassungsgründe nicht vorliegen.
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1. Eine BFH-Entscheidung zur Fortbildung des Rechts ist im Streitfall nicht erforderlich, weil die Sache offensichtlich so zu entscheiden ist, wie es das FG getan hat und es folglich an der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2015 I B 68/14, BFH/NV 2016, 558, m.w.N.).
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Ein Verwaltungsakt ist gemäß § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Ein Steuerbescheid ist daher regelmäßig auch dann nicht nichtig, wenn ihm eine unvollständige oder fehlerhafte Recherche der einschlägigen Normen zugrunde liegt. So liegt der Fall hier: Nach Darstellung der Klägerin hat die zuständige Sachbearbeiterin des FA eine der Klägerin günstige Gesetzesklausel nicht zur Anwendung gebracht, weil diese ihr infolge der Verwendung einer veralteten Gesetzesfassung nicht bekannt war; aufgrund dieses Fehlers ist in dem Körperschaftsteuerbescheid 2011 ein zu hoher Gesamtbetrag der Einkünfte zum Ansatz gekommen. Der Bescheid war daher auf der Grundlage des Klagevorbringens zwar rechtswidrig und hätte von der Klägerin ggf. im Wege des Einspruchs bzw. der Anfechtungsklage erfolgreich angegriffen werden können, was jedoch unterblieben ist. Zur Nichtigkeit des Festsetzungsbescheids führt der Rechtsanwendungsfehler indessen nicht.
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Die von der Klägerin geltend gemachte Verfassungswidrigkeit des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG in der bis zum Veranlagungszeitraum 2008 geltenden Fassung (s. jetzt auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. März 2017 2 BvL 6/11, Deutsches Steuerrecht 2017, 1094) spielt für die Beurteilung der Nichtigkeit des angegriffenen Bescheids keine Rolle. Denn die Fehlerhaftigkeit des Bescheids beruht auf der Grundlage der Darstellung der Klägerin nicht auf der Verfassungswidrigkeit des § 8c KStG in der bis zum Veranlagungszeitraum 2008 geltenden Fassung. Sie beruht danach vielmehr auf der Nichtanwendung der für den in Rede stehenden Veranlagungszeitraum 2011 tatsächlich geltenden, für die Klägerin günstigen Gesetzesbestimmung des § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG durch das FA.
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2. Das FG-Urteil weicht nicht in entscheidungserheblicher Weise von dem BFH-Urteil vom 15. Mai 2002 X R 33/99 (BFH/NV 2002, 1415) ab.
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Jenes Urteil betraf einen offenkundigen Schätzungsfehler und enthält die Aussage, dass ein Schätzungsbescheid willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten sein kann. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweiche und in keiner Weise erkennbar sei, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt worden seien, wenn somit ein "objektiv willkürlicher" Hoheitsakt vorliege, sei Nichtigkeit gegeben. Es sei dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang stehe, weil das FA grundsätzlich gehalten sei, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen. Die Schätzung dürfe nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten; "Strafschätzungen" eher enteignungsgleichen Charakters gelte es zu vermeiden.
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Mit einer derart auf objektiver Willkür beruhenden Schätzung kann der im Streitfall in Rede stehende Fehler der Anwendung einer nicht auf dem aktuellen Stand befindlichen Gesetzessammlung durch das FA auch nicht annähernd gleichgesetzt werden. Das gilt umso mehr, als nichts dafür ersichtlich ist, dass die Klägerin sich im Veranlagungsverfahren gegenüber dem FA vor Ergehen des Bescheids in irgendeiner Weise auf § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG berufen und zu den Voraussetzungen der Stille-Reserven-Klausel vorgetragen hatte, sodass der Sachbearbeiterin die Problematik bei der Vorbereitung des Bescheids hätte vor Augen stehen müssen.
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3. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Insbesondere hat das FG den in der mündlichen Verhandlung gestellten Klageantrag zutreffend dahin verstanden, dass die Klägerin nur die Feststellung der Nichtigkeit des Körperschaftsteuerbescheids 2011 und nicht zusätzlich auch die Nichtigkeit der beiden Verlustfeststellungsbescheide geltend gemacht hat. Der von der fachkundig vertretenen Klägerin in Bezug genommene Antrag aus der Klageschrift vom 18. Mai 2015 ist eindeutig und einer Auslegung dahingehend, der Feststellungsantrag beziehe sich nicht nur auf den Körperschaftsteuerbescheid, sondern auch auf die erst später in das Verfahren eingeführten Verlustfeststellungsbescheide, nicht zugänglich.
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Zwar mag es sein, dass der Vorsitzende Richter des FG seiner Pflicht, auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken (§ 76 Abs. 2 FGO), insoweit nicht nachgekommen ist. Das ändert indessen nichts an dem gefundenen Auslegungsergebnis und daran, dass im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur über jene Streitgegenstände zu entscheiden ist, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren und auf die sich das daraufhin ergangene Urteil bezieht. Anders ist die Sachlage nur dann, wenn das FG den Klageantrag unzutreffend auslegt und dadurch bewusst nur über einen Teil des tatsächlichen Klagebegehrens entscheidet (vgl. zu einem solchen Fall Senatsbeschluss vom 30. Mai 2014 I B 118/13, BFH/NV 2014, 1556).
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Da offenkundig weder dem FG noch der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bewusst gewesen ist, dass die Klage nach dem Eingang der Klageschrift erweitert worden war, ist davon auszugehen, dass die weiteren Streitgegenstände, über die bislang weder mündlich verhandelt noch entschieden worden ist, weiterhin beim FG anhängig sind. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass in Bezug auf die beiden Verlustfeststellungsbescheide nach der für den Senat ersichtlichen Aktenlage das Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen sein dürfte, weil über die diesbezüglichen Nichtigkeitsfeststellungsanträge weder im Ablehnungsbescheid des FA vom 20. Februar 2014 noch in der Einspruchsentscheidung vom 13. April 2015 entschieden worden ist.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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5. Von einer weiteren Begründung dieses Beschlusses sieht der Senat ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
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