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BFH 01.02.2012 - VII B 234/11
BFH 01.02.2012 - VII B 234/11 - Erzwingungsverbot und strafbefreiende Selbstanzeige
Normen
§ 371 Abs 2 AO, § 162 AO, § 393 Abs 1 S 2 AO, § 90 AO
Vorinstanz
vorgehend Thüringer Finanzgericht, 24. Mai 2011, Az: 3 K 447/09, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Das Erzwingungsverbot des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO verbietet die Anwendung von Zwangsmitteln nicht nur im Strafverfahren, sondern bereits im Besteuerungsverfahren, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Zur Selbstbezichtigung könnte die geforderte Mitwirkung nur dann werden, wenn der Kläger --falls er eine Steuerstraftat begangen oder versucht haben sollte-- nicht den Weg der strafbefreienden Selbstanzeige wählte. Diese Möglichkeit steht ihm offen, solange die Steuerfahndung noch keinen konkreten Tatverdacht gegen den Kläger hat, so dass keiner der die Straffreiheit ausschließenden Fälle des § 371 Abs. 2 AO vorliegt.
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2. NV: Die Beantwortung der Rechtsfrage, ob ein Steuerpflichtiger durch Zwangsmittel zur Beschaffung ihm nicht vorliegender Unterlagen verpflichtet werden könne, obwohl das FA berechtigt gewesen wäre, wegen der Nichtvorlage der Bescheinigung die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, hängt von den konkreten Umständen ab. Dient die Anforderung der Unterlagen zunächst der Ermittlung , ob überhaupt ein steuerbarer Sachverhalt vorliegt, ist die Steuerschätzung keine Alternative zur Mitwirkung des Steuerpflichtigen.
Tatbestand
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I. Im Rahmen von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der Steuerfahndung über Kundenbeziehungen deutscher Kapitalanleger zu Schweizer Vermögensverwaltungsgesellschaften wurde bekannt, dass der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) vom 23. April 1999 bis 20. Februar 2003 als Kunde bei der X-AG geführt worden ist. Daraufhin forderte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den Kläger auf, im Zusammenhang mit der X-AG stehende Konto- und Depotauszüge einzureichen, die Herkunft der ggf. in der Schweiz angelegten Mittel zu erklären und sich zur Besteuerung der daraus ggf. resultierenden Beträge zu äußern. Auf die Mitteilung des Klägers, lediglich mit einer --ergebnislos gebliebenen-- Kreditanfrage im Jahre 1999 Kontakt mit der X-AG gehabt zu haben, forderte das FA von ihm, diese Angaben bzw. das Nichtbestehen von Geschäftsbeziehungen durch entsprechende Bescheinigungen der X-AG zu belegen.
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Auf die Mitteilung des Klägers, er könne über nicht bestehende Geschäftsbeziehungen keine Bescheinigungen vorlegen, drohte das FA die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 400 € an und setzte nach ergebnislosem Ablauf der für die Vorlage der Bescheinigungen gesetzten Frist das Zwangsgeld fest.
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Einspruch und Klage blieben erfolglos. Im Klageverfahren legte der Kläger ein Schreiben der X-AG vor, wonach unter den von ihm angegebenen Kundendaten in den letzten fünf Jahren keine Geschäftsbeziehungen bestanden hätten. Das Finanzgericht (FG) urteilte, entgegen der Auffassung des Klägers greife das Zwangsmittelverbot nach § 393 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) wegen der Gefahr der Selbstbelastung nicht. Die Steuerfahndung habe keine steuerstrafrechtlichen Ermittlungen geführt, sondern sei zur Ermittlung unbekannter Fälle nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO tätig geworden. Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand bestehe noch kein Anfangsverdacht für Steuerstraftaten oder Steuerordnungswidrigkeiten. Wie sich aus dem Begriff "belasten" i.S. des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO ergebe, seien steuerliche Zwangsmittel im Zusammenhang mit straflosen Vorbereitungshandlungen zulässig. Dem Kläger verbleibe die Möglichkeit der Selbstanzeige. Die Anforderung der Unterlagen sei auch weiterhin gerechtfertigt, da das Schreiben der X-AG nicht den Ermittlungszeitraum betreffe.
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage geltend. Zu klären sei, ob ein Steuerpflichtiger durch Zwangsmittel zur Beschaffung ihm nicht vorliegender Unterlagen verpflichtet werden könne, obwohl das FA berechtigt gewesen wäre, wegen der Nichtvorlage der Bescheinigung die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Die angebliche Verpflichtung widerspreche der Systematik der AO und sei deshalb geeignet, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. Insbesondere würden die Grenzen zwischen steuerlichen und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren verwischt und die Norm des § 393 AO ad absurdum geführt. Die Revision sei auch zur Rechtsfortbildung hinsichtlich der vorgenannten Frage zuzulassen. Schließlich sei die Entscheidung des FG ermessensfehlerhaft und die Entscheidungsgründe ließen nicht erkennen, wie er, der Kläger, sich korrekt habe verhalten müssen, nachdem er die von der X-AG erteilte Bescheinigung im Klageverfahren vorgelegt und seine Verpflichtung damit erfüllt habe.
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Das FA hält die Nichtzulassungsbeschwerde für unzulässig.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist --bei Zweifeln an ihrer Zulässigkeit-- jedenfalls unbegründet. Keiner der vom Kläger genannten Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegt vor.
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1. Die Rechtsfrage, ob ein Steuerpflichtiger durch Zwangsmittel zur Beschaffung ihm nicht vorliegender Unterlagen verpflichtet werden könne, obwohl das FA berechtigt gewesen wäre, wegen der Nichtvorlage der Bescheinigung die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, ist in dieser allgemeinen Form im Streitfall nicht klärungsfähig und kann schon deshalb nicht die Zulassung der Revision erfordern. Denn die Beantwortung dieser Frage hängt von den konkreten Umständen ab, die zur Anforderung der Unterlagen geführt haben.
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2. Bezogen auf den Streitfall ist die Frage nicht klärungsfähig, weil die Steuerschätzung keine Alternative zur geforderten Beschaffung von Unterlagen ist. Denn die Steuerschätzung nach § 162 AO setzt voraus, dass das FA die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln kann und keine weitere Aufklärung --ggf. unter Mitwirkung des Steuerpflichtigen (§ 162 Abs. 2, § 90 AO)-- möglich ist. Die Anforderung der Unterlagen diente aber zunächst der Ermittlung, ob überhaupt ein steuerbarer Sachverhalt vorlag.
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3. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich auch nicht aus der --vom Kläger zwar so nicht formulierten, aber wohl gemeinten-- Frage, ob die Festsetzung des Zwangsgeldes während der Vorermittlungen i.S. des § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO wegen des Erzwingungsverbots des § 393 AO unzulässig ist. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig. Ihr kommt deshalb weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordert sie eine Rechtsfortbildung (vgl. zur Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung z.B. den Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. Januar 2011 V B 65/10, BFH/NV 2011, 646, und zur Zulassung wegen Rechtsfortbildung z.B. Beschluss vom 3. Dezember 2010 V B 29/10, BFH/NV 2011, 563).
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An der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage fehlt es, wenn sich die Antwort auf die Rechtsfrage ohne weiteres aus dem klaren Wortlaut und Sinngehalt des Gesetzes ergibt oder diese offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das FG getan hat (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juli 2011 VII B 3/11, BFH/NV 2011, 2079; BFH-Beschlüsse vom 18. August 2005 II B 90/04, BFH/NV 2006, 62; vom 26. Mai 2004 III B 89/03, BFH/NV 2004, 1221; vom 10. Oktober 1994 X B 9/94, BFH/NV 1995, 472, m.w.N.).
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Das FG hat im Streitfall die Voraussetzungen des Erzwingungsverbots des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO zu Recht verneint. Die Regelung verbietet die Anwendung von Zwangsmitteln nicht nur im Strafverfahren, sondern bereits im Besteuerungsverfahren, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Unbeschadet dessen, ob die Vorschrift im Rahmen der sog. Vorfeldermittlungen i.S. des § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO, um die es sich im Streitfall nach den insoweit den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) handelt, überhaupt anwendbar ist, würde die Beschaffung der geforderten Unterlagen noch zu keiner Selbstbezichtigung des Klägers geführt haben. Denn selbst wenn aus den Unterlagen hervorginge, dass der Kläger im Inland steuerpflichtiges Einkommen auf Schweizer Konten transferiert hat, so hätte es --wie das FG zutreffend ausgeführt hat-- in seiner Hand gelegen, die Strafverfolgung zu verhindern. Zur Selbstbezichtigung hätte die geforderte Mitwirkung nur dann werden können, wenn der Kläger --falls er eine Steuerstraftat begangen oder versucht haben sollte-- nicht den Weg der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO wählte. Diese Möglichkeit stand und steht ihm nach den mit der Beschwerde nicht angefochtenen Feststellungen des FG offen, da die Steuerfahndung die Mitwirkung des Klägers zu einem Zeitpunkt forderte, in dem sie noch keinen konkreten Tatverdacht gegen den Kläger hatte, so dass keiner der die Straffreiheit ausschließenden Fälle des § 371 Abs. 2 AO vorlag.
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4. Mit dem Vorwurf, die Entscheidung des FG sei ermessensfehlerhaft und das FG habe nicht beachtet, dass er mit der Vorlage der von der X-AG erteilten Bescheinigung im Klageverfahren seine Verpflichtung erfüllt habe, rügt der Kläger materiell-rechtliche Fehler des FG, die --selbst wenn sie vorlägen-- nicht zur Zulassung der Revision führen. Die Rügen betreffen auch keine offensichtlichen Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer willkürlichen oder greifbar gesetzeswidrigen Entscheidung, die ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO führen könnten (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 28. August 2007 VII B 357/06, BFH/NV 2008, 113; BFH-Beschluss vom 7. Juli 2005 IX B 13/05, BFH/NV 2005, 2031, m.w.N.).
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