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BFH 24.02.2010 - III R 73/07
BFH 24.02.2010 - III R 73/07 - Ungewissheit über Wohnsitz von Kindern in Deutschland oder in Polen - Fehlende tatsächliche Festsetzungen des FG - Kostenentscheidung bei teilweisem Unterliegen
Normen
§ 32 Abs 4 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 3 EStG 2002, § 101 S 2 FGO, § 136 Abs 1 S 3 FGO, § 126 Abs 3 S 1 Nr 1 FGO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 18. Januar 2007, Az: 13 K 1940/05, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union macht es für die Gewährung von Kindergeld keinen Unterschied, ob Kinder ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland oder in Polen haben .
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2. NV: Fehlende tatsächliche Feststellungen des FG sind ein materiell-rechtlicher Fehler, den das Revisionsgericht auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten hat. Hat das FG die für die Gewährung von Kindergeld notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen, so verweist der BFH die Sache nicht an das FG zurück, vielmehr hat die Familienkasse über den Kindergeldantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des BFH erneut zu entscheiden .
Tatbestand
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Der aus Polen stammende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) beantragte am 3. Mai 2004 Kindergeld für den im Juli 1984 geborenen Sohn D, für den im Februar 1987 geborenen Sohn P sowie für die im Juni 1989 geborene Tochter N. Nach einer Bescheinigung der Stadt F vom 24. Juli 2004 lebten die Kinder in der Familie des Klägers in F. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. August 2004 ab, da der Kläger eine angeforderte Familienstandsbescheinigung nicht beigebracht hatte.
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Gegen den Ablehnungsbescheid wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch. Er legte Bescheinigungen vor, denen zufolge D seit dem 1. Oktober 2003 eine technische Universität in Polen und P seit dem 1. September 2003 eine Schule in Polen besuchte.
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Die Familienkasse wies den Einspruch des Klägers zurück, da dieser trotz mehrfacher Aufforderung nicht die ihrer Meinung nach erforderliche Familienstandsbescheinigung auf amtlichem Vordruck vorgelegt hatte.
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Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage, mit der der Kläger die Festsetzung von Kindergeld ab Mai 2004 begehrte, statt und verpflichtete die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld für die drei Kinder (Urteil vom 18. Januar 2007 13 K 1940/05). Zur Begründung führte es aus, nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 könne auch für Kinder, die in Polen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hätten, Kindergeld beansprucht werden. Nach dem Vortrag des Klägers hätten zwar die Kinder ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) beibehalten; für das Wintersemester 2006/2007 sei dies für die beiden Söhne durch Studienbescheinigungen inländischer Universitäten klargestellt worden. Es könne jedoch letztlich dahinstehen, ob die Kinder ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik oder in Polen gehabt hätten, da der Kläger in beiden Fällen anspruchsberechtigt sei. Ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in einem Drittstaat sei nicht ersichtlich.
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Zur Begründung der Revision führt die Familienkasse aus, dem FG könne darin gefolgt werden, dass es seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union nicht mehr darauf ankomme, ob sich der Wohnsitz der Kinder in der Bundesrepublik oder in Polen befunden habe. Allerdings habe das FG keine Feststellungen dazu getroffen, ob und in welchen Zeitabschnitten die beiden Söhne des Klägers für einen Beruf ausgebildet worden seien. Aus den polnischen Schulbescheinigungen gehe ein Ausbildungsbeginn am 1. September 2003 bzw. am 1. Oktober 2003 hervor, der Ausbildungszeitraum sei offen. Zur weiteren Verwirrung habe beigetragen, dass der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem FG vorgetragen habe, seine Söhne gingen in Polen zur Schule, dass er aber in Widerspruch hierzu Studienbescheinigungen für das Wintersemester 2006/2007 an deutschen Hochschulen vorgelegt habe.
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Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Streitsache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
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Er trägt vor, im Verfahren vor dem FG sei nicht streitig gewesen, dass sich die beiden Söhne lückenlos in Ausbildung befunden hätten.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist zum Teil begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, des Ablehnungsbescheids sowie der Einspruchsentscheidung hinsichtlich der Kindergeldgewährung für D ab Mai 2004 (Beginn des Streitzeitraums) und für P ab März 2005 (Monat nach Vollendung des 18. Lebensjahrs) sowie zur Verpflichtung der Familienkasse, insoweit über den Kindergeldantrag des Klägers unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Wegen des weiter gehenden Verpflichtungsbegehrens, Kindergeld für D und P festzusetzen, wird die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der den Sohn P betreffenden Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Mai 2004 bis Februar 2005 und des Kindergeldes für N wird die Revision der Familienkasse zurückgewiesen.
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1. Zwar ist das FG zu Recht davon ausgegangen, dass es für die Festsetzung von Kindergeld nicht darauf ankommt, ob die Kinder des Klägers ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik oder in Polen hatten. Denn nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 ist dies kindergeldrechtlich ohne Bedeutung. Nach § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist für Kinder, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, ebenso Kindergeld zu gewähren wie für Kinder mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik.
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2. Allerdings durfte das FG die Familienkasse nicht zur Festsetzung von Kindergeld ab Mai 2004 verpflichten. Es hat hinsichtlich D und P das Vorliegen der weiteren für eine Kindergeldgewährung maßgeblichen Voraussetzungen unterstellt, ohne tatsächliche Feststellungen dazu zu treffen, ob die bei volljährigen Kindern zu erfüllenden Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 EStG gegeben waren. D war seit Beginn des streitigen Zeitraums volljährig, P vollendete im Februar 2005 das 18. Lebensjahr. Kindergeld für volljährige Kinder ist nur zu gewähren, wenn einer der Tatbestände des § 32 Abs. 4 EStG erfüllt ist. Im Streitfall kommt in erster Linie eine Berufsausbildung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG in Betracht. Eine solche wurde jedoch durch die Bescheinigungen einer polnischen technischen Universität und einer polnischen Schule nicht nachgewiesen, da diese zumindest zum Teil in Widerspruch stehen zur Bescheinigung der Stadt F vom 24. Juli 2004, in der angegeben ist, dass die Kinder in der Familie des Klägers in F lebten. Das Fehlen entsprechender Feststellungen im Urteil des FG ist ein materiell-rechtlicher Fehler, den das Revisionsgericht auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten hat (z.B. Senatsurteil vom 30. Juli 2009 III R 8/07, BFH/NV 2010, 190, m.w.N.).
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3. Die Streitsache wird nicht an das FG zurückverwiesen. Vielmehr hat die Familienkasse nach der teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung über den Antrag des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld für D (ab Mai 2004) und für P (ab März 2005) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats, der zufolge es ohne Bedeutung ist, ob die Kinder des Klägers ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik oder in Polen hatten, erneut zu entscheiden (s. Senatsurteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184). Die Familienkasse wird insbesondere zu prüfen haben, ob und in welchen Zeiträumen sich die beiden Söhne des Klägers in Berufsausbildung befanden.
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4. Die Revision der Familienkasse wird insoweit zurückgewiesen, als das angefochtene Urteil die Kindergeldfestsetzung für P für den Zeitraum Mai 2004 bis Februar 2005 und für N betrifft, die im gesamten streitigen Zeitraum noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte. Der Anspruch des Klägers auf Kindergeld ist insoweit nicht zweifelhaft.
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5. Obwohl der Kläger zum Teil unterlegen ist, weil statt des beantragten Verpflichtungsurteils ein Bescheidungsurteil ergangen ist, werden die Kosten in entsprechender Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO in vollem Umfang der Familienkasse auferlegt (s. Senatsurteil in BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184).
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