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BSG 19.09.2024 - B 12 KR 9/23 B
BSG 19.09.2024 - B 12 KR 9/23 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Erkrankung des Beteiligten - Urteil ohne Teilnahme des Beteiligten - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Mündlichkeitsgrundsatz - Zurückverweisung
Normen
§ 62 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Gotha, 27. Juni 2019, Az: S 9 KR 2868/18, Urteil
vorgehend Thüringer Landessozialgericht, 21. April 2022, Az: L 2 KR 803/19, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 21. April 2022 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Verfahren streiten die Beteiligten um den Erlass von Beitragsforderungen zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 1.4.2012 bis zum 31.10.2013.
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Der als Fotograf selbstständig tätige Kläger war bis zum 31.3.2012 und erneut ab 1.11.2013 aufgrund des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II bei den Beklagten versichert. Nachdem er seine Krankenversicherungskarte am 30.4.2012 in einer Notfallambulanz genutzt hatte, stellte die Beklagte zu 1. (im Folgenden: Beklagte) das Bestehen einer Auffangpflichtversicherung ab 1.4.2012 nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V fest (Bescheid vom 18.4.2013). Sie berechnete Beiträge auf Grundlage des ermäßigten Mindesteinkommens und forderte für die Zeit von April 2012 bis August 2013 Beiträge in Höhe von 3874,12 Euro nach (Bescheid vom 26.9.2013). Nachdem die Beklagte den ersten Antrag des Klägers von Dezember 2013 auf Erlass der Forderung wegen Inanspruchnahme von Leistungen abgelehnt hatte (Bescheid vom 5.12.2013; Widerspruchsbescheid vom 25.3.2014), beantragte er im März 2018 erneut, die Forderung der Beklagten (inzwischen 5695,46 Euro) nach dem "Beitragsschuldengesetz" zu erlassen. Die Beklagte lehnte den Erlass aufgrund des zum 1.8.2013 neu eingefügten § 256a SGB V ab (Bescheid vom 21.8.2018; Widerspruchsbescheid vom 9.10.2018).
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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27.6.2019). Im Berufungsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 19.4.2022 (Eingang bei Gericht am 20.4.2022) dem LSG mitgeteilt, die "Ladung am 21.04.2022 kann ich aufgrund der Behandlung einer schweren Nierenkolik (Nierenstein) nicht wahrnehmen". Außerdem hat er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einer urologischen Fachärztin über den Zeitraum vom 18.4. bis zum 21.4.2022 vorgelegt. Das LSG hat in Abwesenheit des Klägers die Berufung zurückgewiesen. Der Senat habe entscheiden können, obwohl der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten gewesen sei. Ein Anlass, den Termin wegen der Erkrankung des Klägers zu verschieben, habe nicht bestanden, zumal er zuvor mitgeteilt habe, den Termin ohne anwaltliche Vertretung ohnehin nicht wahrzunehmen. Voraussetzung für die Ermäßigung der Beitragsschulden sei nach § 256a SGB V die Anzeige der Voraussetzungen für die Auffangpflichtversicherungspflicht durch den Versicherten; die Vorlage der Versichertenkarte in der Notfallambulanz stehe einer Meldung nicht gleich. Im Übrigen komme nur ein Erlass im Nacherhebungszeitraum in Frage; dieser ende aber bereits mit dem Monat, der dem Tag der Anzeige vorausgehe (Urteil vom 21.4.2022).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.
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II. 1. Die zulässige Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
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a) Der Kläger macht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör wegen der Durchführung der mündlichen Verhandlung in seiner Abwesenheit geltend. Er hat damit einen Verfahrensmangel wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) in Verbindung mit dem Grundsatz der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 SGG) zulässig gerügt.
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b) Die Beschwerde ist insoweit auch begründet. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG iVm § 124 Abs 1 SGG verletzt, indem es ohne weitere Nachfrage trotz der vom Kläger geltend gemachten Erkrankung den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht verlegt oder vertagt, sondern entschieden hat.
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aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (BSG Beschluss vom 28.8.1991 - 7 BAr 50/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5; BSG Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 27.6.2019 - B 5 RE 10/18 B - juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 13.12.2018 - B 5 R 192/18 B - juris RdNr 8). Liegt ein erheblicher Grund für eine Terminverlegung iS des § 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO vor und wird dies ordnungsgemäß beantragt, besteht grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung (stRspr; zB BSG Urteil vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 378/16 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 27.6.2019 - B 5 RE 10/18 B - juris RdNr 13), selbst wenn das persönliche Erscheinen des Klägers - wie vorliegend - nicht angeordnet worden ist (stRspr; zB BSG Beschluss vom 21.7.2005 - B 11a/11 AL 261/04 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - juris RdNr 10). Dabei hat die zeitliche wie inhaltliche Behandlung von Anträgen auf Terminverlegung der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 58 f - juris RdNr 13 mwN).
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bb) Diesen Anforderungen ist das LSG nicht gerecht geworden. Unabhängig davon, dass der Kläger mit seinem Schreiben vom 19.4.2022 (Eingang bei Gericht am 20.4.2022) keinen ausdrücklichen Verlegungsantrag wegen des Termins am 21.4.2022 gestellt hat, und unbeschadet der Frage, ob die aufgrund einer Nierenkolik geltend gemachte Unfähigkeit, am Termin teilzunehmen, allein mit der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits iS von § 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 2 ZPO glaubhaft gemacht worden ist, waren dadurch jedenfalls hinreichende Zweifel veranlasst, denen das LSG hätte nachgehen müssen. Das LSG durfte nicht in Abwesenheit des anwaltlich nicht vertretenen Klägers verhandeln und entscheiden, ohne ent-weder den Kläger zur weiteren Erklärung und gegebenenfalls Vorlage eines aussagekräftigeren Attests aufzufordern oder selbst eine nähere medizinische Stellungnahme einzuholen (zu dieser Pflicht vgl BSG Beschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 10.12.2019 - B 12 KR 69/19 B - juris RdNr 11). Der angegebene Grund einer kurzfristigen Erkrankung (Nierenkolik) deutete auch nicht darauf hin, dass der Wunsch nach einer Terminverlegung durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte (vgl BSG Urteil vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - juris RdNr 18).
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Die Begründung des LSG, eine Terminverlegung wegen der Erkrankung des Klägers sei nicht veranlasst gewesen, zumal dieser zuvor mitgeteilt hätte, den Termin ohne anwaltliche Vertretung ohnehin nicht wahrzunehmen, rechtfertigt die Entscheidung in Abwesenheit des Klägers nicht. Denn der (wiederholte) Antrag des Klägers vom 5.4.2021 (richtig: 2022) auf Terminverlegung wegen mangelnder anwaltlicher Vertretung unter Hinweis auf eine deshalb erhobene Verfassungsbeschwerde ist vom Vorsitzenden bereits am 11.4.2022 mit der Begründung abgelehnt worden, dem Schriftsatz vom 5.4.2021 (richtig: 2022) sei kein die Terminverlegung rechtfertigender Grund zu entnehmen. Hätte der Kläger an der Verhandlung weiterhin nicht alleine teilnehmen wollen, hätte daher kein Anlass für ein erneutes Schreiben und zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bestanden. Ohne Nachfrage beim nicht rechtskundig vertretenen Kläger konnte daher nicht ausgeschlossen werden, dass dieser unter den gegebenen Umständen doch auch ohne Rechtsanwalt an der Verhandlung teilnehmen und konkludent einen erneuten Verlegungsantrag stellen wollte.
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Behauptet ein Beschwerdeführer, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein, ist davon auszugehen, dass dies für die Entscheidung ursächlich geworden ist (BSG Beschluss vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7 f; BSG Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 27.6.2019 - B 5 RE 10/18 B - juris RdNr 17). Aus der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung als Kernstück des Gerichtsverfahrens folgt im Allgemeinen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Verhinderung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.11.2018 - B 2 U 17/18 B - juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62 - juris RdNr 18, jeweils mwN). Deshalb erübrigen sich Ausführungen dazu, inwieweit das angefochtene Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 27.6.2019 - B 5 RE 10/18 B - juris RdNr 17; vgl BSG Beschluss vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B - juris RdNr 7).
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c) Wegen des Verstoßes gegen das rechtliche Gehör des Klägers kommt es nicht mehr darauf an, ob er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hinreichend dargelegt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Das BSG kann in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160a Abs 5 SGG das angefochtene LSG-Urteil auch dann wegen eines Verfahrensmangels aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn die Beschwerde zusätzlich auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt wird (vgl BSG Beschluss vom 18.6.2019 - B 9 V 38/18 B - juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 14.12.2016 - B 13 R 204/16 B - juris RdNr 18; BSG Beschluss vom 19.11.2009 - B 13 R 303/09 B - juris RdNr 20, jeweils mwN). Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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2. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Beck
Geiger
Bergner
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