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BSG 06.10.2022 - B 8 SO 15/22 B
BSG 06.10.2022 - B 8 SO 15/22 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten - Reichweite und Wirksamkeit
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Dortmund, 15. Juni 2018, Az: S 62 SO 148/14, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 2. Dezember 2021, Az: L 9 SO 441/18, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Dezember 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt im Zeitraum Oktober 2013 bis September 2014 höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) von der Beklagten.
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Der Kläger bezieht von der Beklagten Grundsicherungsleistungen ergänzend neben einer Altersrente und bewohnt mit seiner Ehefrau eine Wohnung (monatliche Kaltmiete 400 Euro; kalte Betriebskosten rund 120 Euro monatlich). Die Beklagte berücksichtigte bei der Leistungsbewilligung ua einen Bedarf für Unterkunft und Heizung (KdU) iHv 418 Euro monatlich als Bruttokaltmiete (Bescheide vom 28.12.2013 und 28.1.2014; Widerspruchsbescheide des Hochsauerlandkreises vom 12.3.2014 und weiterer Bescheid vom 18.3.2014 <Absetzung der Kosten für die Haftpflichtversicherung vom anzurechnenden Einkommen>). Die Klage, die sowohl auf Berücksichtigung eines höheren Regelbedarfs als auch auf Berücksichtigung höherer KdU-Bedarfe gerichtet gewesen ist, hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Dortmund vom 15.6.2018; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 2.12.2021). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Regelsatz sei verfassungskonform. Höhere KdU-Bedarfe seien nicht zu berücksichtigen. Der Kläger habe Kenntnis von der Kostensenkungsobliegenheit gehabt; ob ein schlüssiges Konzept nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vorliege, könne offenbleiben, denn mehr als die Werte nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich eines Sicherheitszuschlags iHv 10 % (hier: 418 Euro monatlich) stünden ihm nicht zu.
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Mit seiner Beschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) geltend; ua sei das Urteil des LSG ohne mündliche Verhandlung ergangen, obwohl ein wirksames Einverständnis von ihm nicht mehr vorgelegen habe; damit sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
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Die Beschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 SGG festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Er führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
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Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Nach § 124 Abs 2 SGG kann das Gericht unter der Voraussetzung, dass die Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt haben ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Der Sinn dieser Ausnahmeregelung besteht darin, die Gerichte zu entlasten und das Verfahren im Interesse der Beteiligten zu vereinfachen und zu beschleunigen (vgl BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 132/15 B - RdNr 10; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 mwN).
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Die Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten, steht unter dem Vorbehalt der im Wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 9; BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4), da die Erklärung unter der Voraussetzung abgegeben wird, die Entscheidung werde auf der Grundlage des bis zur Abgabe der Erklärung bekannten Sach- und Streitstandes erfolgen (vgl BSG vom 11.11.2004 - B 9 SB 19/04 B). Von einem Verbrauch ist insbesondere dann auszugehen, wenn sich die Tatsachengrundlage geändert hat, weil neue Erkenntnisse zu den Akten gelangt sind, neues schriftsätzliches Vorbringen des anderen Beteiligten erfolgt ist, die Rechtslage sich geändert hat oder sich das Gericht auf Gesichtspunkte stützen will, die im Zeitpunkt des Verzichts noch nicht von Bedeutung waren (vgl BSG vom 31.5.1978 - 12 BK 20/77 - SozR 1500 § 124 Nr 3; BSG vom 11.11.2003 - B 2 U 32/02 R - NZS 2004, 660; BSG vom 11.11.2004 - B 9 SB 19/04 B; weitere Beispiele bei Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 124 RdNr 3e). Das vom Kläger schriftsätzlich erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung des LSG ohne mündliche Verhandlung war nach den im späteren Verlauf des Berufungsverfahrens erfolgten weiteren Sachermittlungen von Amts wegen des LSG zur Frage der anzuerkennenden Unterkunftsbedarfe, zur Frage des Vorliegens eines schlüssigen Konzepts bzw dessen Nachholung und insbesondere zur Frage des Vorliegens einer wirksamen Kostensenkungsaufforderung verbraucht. Es hätte neu eingeholt werden müssen, wenn das LSG weiterhin ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden wollen. Das LSG hat mit seiner Verfahrensweise aus der Sicht eines objektiven Prozessbeobachters deutlich gemacht, dass es den Rechtsstreit noch nicht für entscheidungsreif gehalten, sondern eine weitere Sachverhaltsaufklärung für erforderlich erachtet hat.
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Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, hätte das LSG im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen müssen. Die Beteiligten sind bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - RdNr 14).
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Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Zivilprozessordnung <ZPO>), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) verstoßen wird, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1; BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4; BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 41/09 B - RdNr 10 f mwN). Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob auch die weiteren Verfahrensrügen durchgreifen. Es wäre in jedem Fall zu erwarten, dass ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen würde (vgl dazu BSG vom 23.5.2006 - B 13 RJ 253/05 B - und vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B), sodass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
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Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits unter Beachtung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.
Bieresborn Scholz Luik
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