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BSG 22.01.2020 - B 9 SB 46/19 B
BSG 22.01.2020 - B 9 SB 46/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - überlange Verfahrensdauer kein Revisionsgrund - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Übergehen eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags - Aufrechterhaltung des Beweisantrags - Wiederholung und Protokollierung in der mündlichen Verhandlung - Gehörsverletzung - Darlegungsanforderungen
Normen
§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 62 SGG, § 103 SGG, § 122 SGG, § 160 Abs 4 S 1 ZPO, § 198 Abs 1 S 1 GVG, § 198 Abs 3 S 1 GVG, ÜberlVfRSchG, Art 6 Abs 1 S 1 MRK, Art 103 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Hannover, 27. Februar 2018, Az: S 42 SB 717/15
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 27. Mai 2019, Az: L 10 SB 56/18, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. Mai 2019 wird als unzulässig verworfen.
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Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
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I. In der Hauptsache begehrt der Kläger noch die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) ab dem 8.5.2015. Diesem Begehren hat das LSG mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 27.5.2019 lediglich ab dem 6.2.2019 entsprochen, weil die Voraussetzungen nach dem Gutachten des Dr. Ge. vom 13.2.2019 und entsprechend dem Teilanerkenntnis des Beklagten vom 13.3.2019 erst ab dem 6.2.2019 festgestellt werden könnten. Erst die zunehmende Beinnervenstörung mit mittlerweile auch Befall des rechten Beines sowie die erstmals durch den Sachverständigen Dr. Ge. festgestellten erheblichen Funktionsstörungen im Bereich beider Sprunggelenke rechtfertigten die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Dass dieser Gesundheitszustand entsprechend der Behauptung des Klägers bereits im Februar 2018, also sechs Monate nach der neurologischen Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. Gi. mit Gutachten vom 5.9.2017 vorgelegen habe, sei weder ersichtlich noch nachgewiesen.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Er rügt das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, weil das LSG den vorliegenden Beweisanträgen nicht ausreichend nachgegangen sei, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe und die Entscheidung auf einer überlangen Verfahrensdauer beruhe.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der ausschließlich behauptete Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
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1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden.
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a) Bereits insoweit genügt die Beschwerdebegründung nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, weil der Kläger den Sachverhalt, der dem angefochtenen Urteil des LSG zugrunde liegt, nicht hinreichend mitgeteilt hat. Seinen Schilderungen sind nur Teile der entscheidungserheblichen Tatsachen zu entnehmen. Eine Sachverhaltsschilderung gehört jedoch zu den Mindestanforderungen an die Darlegung bzw Bezeichnung des Revisionszulassungsgrundes. "Bezeichnet" ist der Verfahrensmangel noch nicht, wenn einzelne Sachverhaltselemente herausgegriffen werden und anhand dieser der behauptete Verfahrensmangel diskutiert wird, sondern nur dann, wenn er in der Gesamtheit der ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird. Denn das Beschwerdegericht muss sich bereits anhand der Beschwerdebegründung ein Urteil darüber bilden können, ob die geltend gemachten Tatsachen - ihre Richtigkeit unterstellt - es als möglich erscheinen lassen, dass die angegriffene Entscheidung darauf beruhe (vgl Senatsbeschluss vom 26.8.2019 - B 9 V 6/19 B - juris RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 13 R 234/17 B - juris RdNr 5).
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b) Abgesehen davon genügt die Beschwerdebegründung aber auch im Übrigen nicht den Darlegungsanforderungen im Hinblick auf die von ihr gerügten Verfahrensmängel.
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Soweit der Kläger meint, die aus seiner Sicht überlange Dauer des Verfahrens in den beiden Vorinstanzen begründe einen Verfahrensmangel, weshalb ein Verstoß gegen Art 6 Europäische Menschenrechtskonvention vorliege, so übersieht er, dass sich die Rechtslage durch den Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) im Jahr 2011 grundsätzlich geändert hat. Falls Gerichtsverfahren unangemessen lange dauern, kann dies inzwischen nach § 198 GVG einerseits einen eigenständigen Entschädigungsanspruch der Beteiligten begründen. Andererseits regelt Abs 3 der Vorschrift für sie die Möglichkeit und die Obliegenheit, einer sich abzeichnenden überlangen Verfahrensdauer mit einer Verzögerungsrüge vorzubeugen. Dieser mit einer vorbeugenden Verzögerungsrüge kombinierte Entschädigungsanspruch soll das Rechtsschutzproblem überlanger Verfahrensdauer abschließend lösen und die Funktion richterrechtlich entwickelter Rechtsbehelfe übernehmen (vgl Senatsbeschluss vom 15.10.2015 - B 9 V 15/15 B - juris RdNr 9 mwN). Mit dieser geänderten Rechtslage setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Sie trägt weder vor, eine Verzögerungsrüge erhoben zu haben noch einen Anspruch nach § 198 GVG bei dem dafür zuständigen Entschädigungsgericht eingeklagt zu haben. Noch weniger legt die Beschwerde dar, warum neben der neu geschaffenen Entschädigungsregelung in § 198 GVG gleichwohl die Überlänge eines Gerichtsverfahrens noch einen Verfahrensmangel begründen könnte, der im vermeintlich überlangen Ausgangsverfahren mit der Revision gerügt werden kann.
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Ebenfalls nicht substantiiert dargelegt hat die Beschwerde den vermeintlichen Verstoß des LSG gegen seine Amtsermittlungspflicht. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärung rügen (§ 103 SGG), muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist (vgl Senatsbeschluss vom 3.7.2019 - B 9 SB 37/19 B - juris RdNr 6). Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht.
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Der Kläger behauptet lediglich, das LSG sei den vorliegenden Beweisanträgen nicht ausreichend nachgegangen und habe sein Schreiben vom 26.3.2019 nicht als Beweisantrag gewürdigt, obwohl er darin zum Ausdruck gebracht habe, dass er davon ausgehe, dass das Merkzeichen "aG" ab dem 27.2.2018 zuzuerkennen sei. Damit hat der Kläger nicht einmal behauptet, dass er einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt habe. Zur Darlegung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags muss nicht nur die Stellung des Antrags, sondern auch aufgezeigt werden, über welche Punkte im einzelnen Beweis erhoben werden sollte. Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Denn ein Beweisantrag hat in sozialgerichtlichen Verfahren eine Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält. Diese Warnfunktion des Beweisantrags verfehlen Beweisgesuche, die lediglich in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind, da es sich insoweit nur um Hinweise oder bloße Anregungen handelt (vgl BSG Beschluss vom 27.8.2015 - B 5 R 178/15 B - juris RdNr 9 mwN). Um die Warnfunktion zu aktivieren, muss ein rechtskundig vertretener Beschwerdeführer sein Beweisbegehren deshalb in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG als prozessordnungsgemäßen "Beweisantrag" iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG wiederholen und protokollieren lassen (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 4 Satz 1 ZPO). Wird ein Verfahren - wie vorliegend - ohne mündliche Verhandlung entschieden, ist ein zuvor gestellter Antrag dann nicht mehr aufrechterhalten, wenn sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklären, ohne den zuvor bereits formulierten Beweisantrag gleichzeitig zu wiederholen (vgl BSG Beschluss vom 5.3.2002 - B 13 RJ 193/01 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 74 mwN). Hierzu hat der Kläger jedoch nichts vorgetragen. Dies gilt auch hinsichtlich der geringeren Anforderungen, die das BSG an die Beweisanträge nicht rechtskundig vertretener Beteiligter vor dem LSG - wie beim Kläger - stellt (vgl Senatsbeschluss vom 6.10.2011 - B 9 SB 6/11 B - juris RdNr 8 ff mwN).
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Die schließlich vom Kläger gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 62 SGG, Art 103 GG hat er gleichfalls nicht substantiiert dargelegt. Um diesen Anspruch und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (vgl BSG Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - juris RdNr 12) zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl Senatsbeschluss vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B - juris RdNr 20 mwN). Derartige Gesichtspunkte oder ein Vorbringen, an dem der Kläger gehindert gewesen sein könnte, legt er jedoch nicht dar. Insoweit fehlt es auch an Vorbringen dazu, weshalb sich das LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung zu weiteren Beweisaufnahmen hätte gedrängt fühlen müssen. Da der Kläger bereits den Sachverhalt nicht vollständig mitgeteilt hat, fehlt es auch an Ausführungen dazu, welche Beweismittel insgesamt vorliegen und weshalb die bereits eingeholten Sachverständigengutachten nicht ausreichen sollten, um die entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen. Letztlich kritisiert der Kläger die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung. Hierauf kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nicht gestützt werden, weil nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann.
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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