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BSG 26.04.2010 - B 3 P 5/10 B
BSG 26.04.2010 - B 3 P 5/10 B - sozialgerichtliches Verfahren - Zulässigkeit der Revision - Verfahrensmangel - formgerechte Bezeichnung
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Kiel, 28. April 2009, Az: S 18 P 48/07, Urteil
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 27. Januar 2010, Az: L 10 P 4/09, Urteil
Tatbestand
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Die 1951 geborene Klägerin war bis zum 28.2.2007 Mitglied der AOK Schleswig-Holstein, von deren Pflegekasse sie seit dem 1.7.2005 Pflegegeld der Pflegestufe I erhielt. Zum 1.3.2007 wechselte sie zur IKK Direkt. Nach deren Vereinigung mit der Techniker Krankenkasse (TKK) zum 1.1.2009 ist sie dort Mitglied. Ihren Antrag vom 20.3.2007 auf weitere Zahlung des Pflegegeldes lehnte die Pflegekasse der IKK Direkt aufgrund eines - noch von der Pflegekasse der AOK Schleswig-Holstein im Rahmen einer Wiederholungsbegutachtung eingeholten - Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 4.1.2007 ab, weil die Klägerin mittlerweile wieder als Raumpflegerin arbeite und ihr Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht mehr den für die Pflegestufe I erforderlichen täglichen Mindestzeitwert von "mehr als 45 Minuten" (§ 15 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB XI) erreiche (Bescheid vom 30.3.2007, Widerspruchsbescheid vom 19.9.2007). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen (Urteil vom 28.4.2009). Das Landessozialgericht (LSG) hat die - nunmehr gegen die Pflegekasse der TKK gerichtete - Berufung der Klägerin nach weiterer Beweisaufnahme zurückgewiesen (Urteil vom 27.1.2010). Ein nach der Berufungsverhandlung erstelltes neues MDK-Gutachten vom 3.2.2010 kam zu dem Ergebnis, ab 8.11.2009 liege der tägliche Grundpflegebedarf wieder bei 46 Minuten, sodass die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt seien.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG richtet sich die Beschwerde der Klägerin, die auf Divergenz zu höchstrichterlicher Rechtsprechung (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) gestützt wird. Das erstinstanzlich ohne förmlichen Beweisbeschluss erstellte und im gerichtlichen Verfahren nicht erläuterte Gutachten von Frau Dr. B. vom 7.9.2008 (Grundpflegebedarf nur 29 Minuten) sei vom LSG zu Recht nur im Wege des Urkundsbeweises verwertet worden. Das LSG habe aber nicht beachtet, dass einem solchen Gutachten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht der gleiche Beweiswert zukommen könne wie einem gerichtlichen Gutachten. Dem - ebenfalls erstinstanzlich - nach § 109 SGG eingeholten Gutachten von Dr. G. vom 30.1.2009 (Grundpflegebedarf 46 Minuten) komme deshalb der höhere Beweiswert zu. Das vom LSG zusätzlich eingeholte Gutachten von Dr. T. vom 27.1.2010 (Grundpflegebedarf deutlich weniger als 45 Minuten) sei in sich widersprüchlich und deshalb nur von "mäßigem" Beweiswert. Das neue MDK-Gutachten vom 3.2.2010 sei vom LSG ohne Grund nicht abgewartet worden. Ohne die Abweichung von der BSG-Rechtsprechung und ohne die Verfahrensfehler hätte der Klage voraussichtlich stattgegeben werden müssen.
Entscheidungsgründe
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2, 160a Abs 2 Satz 3 SGG normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG).
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1. Zur formgerechten Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) muss vorgetragen werden, dass das LSG einen tragenden Rechtssatz in Abweichung von einem anderen Rechtssatz aufgestellt hat, den das BSG, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder das Bundesverfassungsgericht entwickelt und angewandt hat, und dass die Entscheidung des LSG auf dieser Abweichung beruht. Hierzu ist notwendig, den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz des LSG herauszuarbeiten und die Unvereinbarkeit mit einem Rechtssatz des BSG oder eines der anderen Rechtsprechungsorgane aufzuzeigen. Eine Divergenz liegt indes nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig subsumiert hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67). Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
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a) Die Klägerin hat zwar eine Entscheidung des 2. Senats des BSG vom 26.5.2000 - B 2 U 90/00 B - benannt, von der das LSG im angefochtenen Urteil abgewichen sein soll, und dazu ausgeführt, dort (und in - nicht näher bezeichneten - anderen Entscheidungen des BSG) finde sich der Rechtssatz, dass "nicht als gerichtliche Sachverständigengutachten erstellten ärztliche Gutachten" ein geringerer Beweiswert zukomme als einem in gerichtlichem Auftrag angefertigten ärztlichen Gutachten. Diesem Rechtssatz hat sie jedoch schon keinen konkreten Rechtssatz des LSG gegenübergestellt, mit dem das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des BSG abgewichen sein soll. Sie wendet sich vielmehr gegen die Beweiswürdigung des LSG, das dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten von Dr. G. der einen Grundpflegebedarf von täglich 46 Minuten ermittelt hatte, nicht gefolgt sei, und sich stattdessen auf das gerichtliche Gutachten von Dr. T. gestützt habe, dessen Ergebnis (Grundpflegebedarf deutlich weniger als 45 Minuten) es für überzeugend erachtet habe. Dabei habe das LSG ergänzend darauf hingewiesen, dass die Einschätzung von Dr. T. im Übrigen auch mit dem Gutachten von Frau Dr. B. übereinstimme, das jedenfalls im Wege des Urkundsbeweises verwertbar gewesen sei. Es fehlt damit an der Darlegung einer Nichtübereinstimmung in den abstrakten Rechtsaussagen (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX. Kap, RdNr 196 mwN).
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b) Aus diesen Ausführungen folgt zugleich, dass die behauptete Divergenz - ihr Vorliegen unterstellt - für die Entscheidung des LSG nicht ursächlich gewesen sein kann. Das LSG hat - anders als noch das SG - dem Gutachten von Frau Dr. B. gerade nicht die entscheidende Bedeutung für die Überzeugungsbildung beigemessen, sondern sich ganz maßgeblich auf das von ihm zusätzlich eingeholte gerichtliche Gutachten von Dr. T. gestützt, während es das Gutachten von Frau Dr. B. lediglich mit Blick auf die Übereinstimmung des Ergebnisses ergänzend erwähnt hat. Die von der Klägerin herausgestellte Prämisse für die Entscheidungsfindung, nämlich das Vorliegen zweier ärztlicher Gutachten mit (angeblich) unterschiedlichem Beweiswert, galt schon nach ihrer eigenen Darstellung nur für das Klageverfahren vor dem SG, nicht aber für das Berufungsverfahren vor dem LSG.
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c) Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme der Klägerin, das Gutachten von Frau Dr. B. sei ein "nicht als gerichtliches Sachverständigengutachten erstelltes ärztliches Gutachten", das sich "nur zufällig" in den Gerichtsakten befunden habe, nach dem Akteninhalt nicht zutrifft. Frau Dr. B. ist mit Verfügung des SG vom 2.7.2008 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vom 23.9.2008 in ihrer Eigenschaft als "Pflegesachverständige" mit der Erstellung eines Gutachtens zum Umfang des täglichen Pflegebedarfs beauftragt worden. Die Beweisfragen waren dem Gutachtenauftrag beigefügt (SG-Akten Bl 81, 82). Die Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung hat am 1.8.2008 stattgefunden. Das Gutachten ist am 10.9.2008 beim SG eingegangen und den Beteiligten mit Verfügung vom gleichen Tage zugeleitet worden (SG-Akten Bl 101). Frau Dr. B. war in der mündlichen Verhandlung am 23.9.2008 als Sachverständige anwesend, ist aber mit Rücksicht auf den Antrag, ein Gutachten von Dr. G. nach § 109 SGG einzuholen, nicht angehört worden. Ein Antrag auf Erläuterung des Gutachtens in der mündlichen Verhandlung am 28.4.2009 (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO) ist nicht gestellt worden. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme der Klägerin, hierbei handele es sich nicht um ein in gerichtlichem Auftrag eingeholtes - und deshalb mit geringerem Beweiswert ausgestattetes - ärztliches Gutachten, nicht nachvollziehbar.
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2. Ein Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist nur dann formgerecht bezeichnet, wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben sind und - in sich verständlich - den behaupteten Verfahrensfehler ergeben; außerdem muss dargelegt werden, dass und warum die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Darüber hinaus muss der behauptete Verfahrensmangel auch tatsächlich vorliegen (so schon BSGE 1, 150, 151; allg Meinung - vgl Krasney/Udsching, aaO, RdNr 136 mit zahlreichen Nachweisen). Diesen Anforderungen wird die Beschwerde ebenfalls nicht gerecht.
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a) Die Klägerin rügt, das LSG habe - ebenso wie das SG - den (angeblich) geringeren Beweiswert des Gutachtens von Frau Dr. B. nicht beachtet, weil es ohne förmlichen Beweisbeschluss erstellt und in der mündlichen Verhandlung nicht erläutert worden sei; dies stelle sich als Verstoß gegen die §§ 109 und 117 SGG dar. Diese Rüge geht schon deshalb ins Leere, weil das LSG - wie ausgeführt - seine Entscheidung maßgeblich auf das Gutachten von Dr. T. gestützt hat.
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b) Nicht formgerecht ist auch das Vorbringen, das LSG habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) dadurch verletzt, dass es das neue MDK-Gutachten vom 3.2.2010 nicht abgewartet habe, dessen Vorbereitung aus den beigezogenen Verwaltungsakten ersichtlich gewesen sei. Ein Verstoß gegen § 103 SGG kann nur dann als Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht werden, wenn gerügt wird, das LSG sei einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Nach der Sitzungsniederschrift vom 27.1.2010 ist ein Antrag auf Beiziehung des - auf der Untersuchung der Klägerin am 1.2.2010 beruhenden - MDK-Gutachtens nicht gestellt worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat auch keinen Vertagungsantrag gestellt, um die Einbeziehung dieses neuen Gutachtens in das Berufungsverfahren zu ermöglichen.
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3. Der Vorwurf einer unrichtigen, den - aus der Sicht der Klägerin - "mäßigen" Beweiswert des Gutachtens von Dr. T. nicht berücksichtigenden Beweiswürdigung kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Ein Verstoß des LSG gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) kann nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht als Verfahrensmangel geltend gemacht werden.
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4. Der dem Beschwerdevorbringen immanente Vorwurf, das LSG habe mit Blick auf das die Pflegestufe I bestätigende neue MDK-Gutachten vom 3.2.2010 in der Sache falsch entschieden, kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Mit diesem Vorbringen kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht begründet werden. Damit möchte die Klägerin offensichtlich das Berufungsurteil vom BSG inhaltlich überprüfen lassen. Dies ist jedoch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde über die in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründe hinaus grundsätzlich nicht möglich. Das BSG ist keine weitere Tatsacheninstanz; es geht auch nicht darum, die sachliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG rechtlich in vollem Umfang erneut zu überprüfen (Krasney/Udsching, aaO, RdNr 182 mwN). Unabhängig davon ist aber darauf hinzuweisen, dass das neue MDK-Gutachten das Vorliegen der zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht etwa für den gesamten hier streitigen Zeitraum, sondern erst ab dem 8.11.2009 ergeben hat. Es bleibt der Klägerin unbenommen, bei der Beklagten ggf einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen, um die rückwirkende Zahlung von Pflegegeld für die Zeit ab 8.11.2009 zu erreichen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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