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BVerfG 12.04.2022 - 1 BvR 798/19, 1 BvR 2894/19
BVerfG 12.04.2022 - 1 BvR 798/19, 1 BvR 2894/19 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 1 iVm 20 Abs 3 GG durch die Anwendung von § 8 Abs 7 S 2 KAB Bbg (juris: KAG BB) nach Wechsel des Aufgabenträgers - Verstoß gegen die Bindungwirkung des Beschlusses BVerfG, 12.11.2015, 1 BvR 2961/14
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 31 BVerfGG, § 31 Abs 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 8 Abs 7 S 2 KAG BB vom 17.12.2003, § 12 Abs 3a KAG BB vom 02.10.2008, § 19 Abs 1 KAG BB vom 05.12.2013
Vorinstanz
vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 5. März 2019, Az: OVG 9 N 174.17, Beschluss
vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 19. November 2019, Az: OVG 9 N 50.19, Beschluss
vorgehend VG Cottbus, 25. April 2017, Az: VG 6 K 852/14, Urteil
vorgehend VG Potsdam, 4. Juli 2019, Az: VG 8 K 1716/14, Urteil
nachgehend BVerfG, 12. Oktober 2022, Az: 1 BvR 2894/19, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
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1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. März 2019 - OVG 9 N 174.17 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 25. April 2017 - VG 6 K 852/14 -, der Widerspruchsbescheid des Märkischen Abwasser- und Wasserzweckverbands vom 14. Mai 2014 - (…) - und der Bescheid des Märkischen Abwasser- und Wasserzweckverbands vom 6. März 2014 - (…) - verletzen die Beschwerdeführerin zu I. in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts und das Urteil des Verwaltungsgerichts werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
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2. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. November 2019 - OVG 9 N 50.19 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 4. Juli 2019 - VG 8 K 1716/14 -, der Widerspruchsbescheid des Wasser- und Abwasserzweckverbands "Nieplitz" in der Fassung des Teilrücknahmebescheids vom 11. August 2015 - (…) - und der Bescheid des Wasser- und Abwasserzweckverbands "Nieplitz" vom 2. April 2014 - (…) - verletzen die Beschwerdeführerin zu II. in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts und das Urteil des Verwaltungsgerichts werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
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3. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen ihre Heranziehung zu Anschlussbeiträgen nach erfolgtem Wechsel des Aufgabenträgers. Eingelegte Rechtsbehelfe blieben erfolglos.
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II.
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Mit ihren Verfassungsbeschwerden machen die Beschwerdeführerinnen unter anderem eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend. Sie meinen, dass der verfassungsrechtlich garantierte Vertrauensschutz die Erhebung von Anschlussbeiträgen durch einen neuen Aufgabenträger verbiete, wenn unter dem alten Aufgabenträger hypothetische Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Zudem seien die hypothetisch verjährten Beitragsforderungen des vormaligen Aufgabenträgers aus Gründen der Gleichbehandlung auf die Beitragsforderungen des neuen Einrichtungsträgers anzurechnen, jedenfalls dann, wenn dieser eine Anrechnung von Beiträgen vornehme, die Grundstückseigentümer an den damaligen Aufgabenträger tatsächlich gezahlt hätten.
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Die Beklagten der Ausgangsverfahren haben zu den Verfassungsbeschwerden Stellung genommen. Die Akten der Ausgangsverfahren lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
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III.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden an und gibt ihnen statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerinnen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen diesbezüglich vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Die Verfassungsbeschwerden sind überwiegend zulässig. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde allerdings in dem Verfahren 1 BvR 2894/19, soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG geltend macht und sich mittelbar gegen § 8 Abs. 7 Satz 2 n.F., § 12 Abs. 3a und § 19 Abs. 1 Kommunalabgabengesetz Brandenburg (KAG Bbg) wendet. Sie genügt insofern nicht den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG.
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2. Die Verfassungsbeschwerden sind auch offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen bereits gegen die Bindungswirkung des Beschlusses der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 - (a). Darüber hinaus verletzten sie den Grundsatz des Vertrauensschutzes und damit die Beschwerdeführerinnen ebenfalls in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (b). Ob die Entscheidungen zugleich gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, bedarf demgegenüber keiner Entscheidung.
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a) Bereits nach dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, Rn. 39 ff., verstößt die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. nicht mehr erhoben werden könnten, gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Grundsatz des Vertrauensschutzes). Diese Entscheidungen waren für das Verwaltungsgericht gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Januar 2006 - 1 BvQ 4/06 -, Rn. 26 ff.).
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Dies gilt auch dann, wenn es zwischenzeitlich zu einem Wechsel des Aufgabenträgers gekommen ist. Auch im Falle der erfolgten Eingemeindung in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 sah die Kammer einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG als gegeben an, ging also davon aus, dass der Wechsel eines Aufgabenträgers nicht dazu führt, dass sich die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die hypothetische Festsetzungsverjährung berufen kann. Bei einem Beitritt einer Gemeinde zu einem Zweckverband oder der Gründung eines Zweckverbands durch mehrere Gemeinden gilt nichts anderes.
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Der Vergleich der einzelnen Feststellungen zeigt, dass der Kammer durchaus bewusst war, dass bei der Beschwerdeführerin in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 der Anschluss an die Schmutzwasserkanalisation der Beklagten erst im Jahre 2003 erfolgte, wobei bereits kurz nach dem 3. Oktober 1990 − unter einem anderen Aufgabenträger − die Möglichkeit des Anschlusses bestand. Im Gegensatz zum Verfahren 1 BvR 2961/14 heißt es in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 nämlich gerade nicht, dass bereits kurz nach dem 3. Oktober 1990 die Möglichkeit des Anschlusses im Gebiet der beklagten Stadt gegeben war. Darüber ergibt sich die Eingemeindung in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 eindeutig aus den Tatbeständen in den angegriffenen − und später aufgehobenen − Entscheidungen (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 8. Juni 2011 - VG 6 K 1033/09 -, Rn. 3 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. November 2013 - OVG 9 B 35.12 -, Rn. 2).
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b) Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte lassen sich auch nicht mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Grundsatz des Vertrauensschutzes) vereinbaren (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 6. Oktober 2021 - 9 C 9.20 -, Leitsatz 2 und Rn. 22; - 9 C 10.20 -, Leitsatz 1 und Rn. 16 ff.).
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aa) Verjährungsregelungen schöpfen ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit aus dem Umstand, dass Einzelne auch gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürfen, irgendwann nicht mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat. Ein Vorteilsempfänger muss in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen können, ob und in welchem Umfang er die erlangten tatsächlichen Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62 m.w.N.).
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Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 63 m.w.N.).
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bb) Dieser Verpflichtung ist der Gesetzgeber in Brandenburg zwar nachgekommen, indem er Verjährungsregelungen und eine (verfassungsgemäße) Regelung zur zeitlichen Höchstfrist (§ 19 Abs. 1 KAG Bbg) getroffen hat. Die Auslegungspraxis der Verwaltungsgerichte führt jedoch dazu, dass das durch den Eintritt der hypothetischen Verjährung begründete Vertrauen der Beschwerdeführerinnen, dass die erlangten tatsächlichen Vorteile nicht mehr durch Beiträge ausgeglichen werden müssen, für unbeachtlich erklärt wird, ohne dass Gründe ersichtlich wären, die es rechtfertigen könnten, nachträglich in die von Verfassungs wegen geschützte Vertrauensposition einzugreifen.
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cc) Die Verwaltungsgerichte gehen zwar der Sache nach noch von der zutreffenden Annahme aus, dass wenn das Gemeinwesen in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe eine besondere Einrichtung zur Verfügung stellt, diejenigen, die daraus besonderen wirtschaftlichen Nutzen ziehen oder ziehen können, auch zu den Kosten ihrer Errichtung und Unterhaltung beitragen sollen. Wesentlich für den Begriff des Beitrags ist nämlich der Gedanke der angebotenen Gegenleistung, des Ausgleichs von Vorteilen und Lasten (vgl. BVerfGE 137, 1 22 Rn. 52>).
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Ist die abzugeltende Vorteilslage eingetreten, dann muss somit der Bürger damit rechnen, dass er zur Zahlung von Beiträgen herangezogen wird. Je weiter dieser Zeitpunkt zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich allerdings die Legitimation zur Erhebung von Beiträgen für diese Vorteilslage (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62). Sie ist ausgeschlossen, wenn (hypothetische) Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
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Daran kann auch der bloße Wechsel des Aufgabenträgers nichts ändern. Die Leistung der (früheren) Kommune, hier der Anschluss an die Wasser- und Abwasseranlage, hat sich durch das Aufgehen in ein größeres Verbandsgebiet nicht verändert. Damit beginnt auch die Frist für das Vertrauen nicht wieder neu zu laufen. Anderenfalls würden Beitragspflichtige wegen eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs letztlich doch dauerhaft im Unklaren gelassen, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen.
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Das wäre mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung nicht zu vereinbaren. Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, genießt zwar, sofern keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Das diesen Grundsatz rechtfertigende Anliegen, die notwendige Flexibilität der Rechtsordnung zu wahren, zielt indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung für die Vergangenheit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, Rn. 65; Beschluss des Ersten Senats vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62).
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IV.
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Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die gerichtlichen Entscheidungen sind daher nach § 93c in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sachen an die Verwaltungsgerichte zurückzuverweisen (vgl. BVerfGE 104, 337 356>).
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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