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BVerfG 24.10.2019 - 1 BvR 887/17
BVerfG 24.10.2019 - 1 BvR 887/17 - Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde gegen disziplinarrechtliche Sanktion eines "Warnstreiks" mehrerer Vertragsärzte unzulässig, mithin erfolglos - Verletzung der Koalitionsfreiheit (Art 9 Abs 3 GG) bzw der Berufsausübungsfreiheit (Art 12 Abs 1 GG) nicht hinreichend substantiiert dargelegt (§§ 23 Abs 1 S 2, 92 BVerfGG)
Normen
Art 9 Abs 3 GG, Art 12 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 17 Abs 1 BMV-Ä, § 17 Abs 1a BMV-Ä, § 81 Abs 5 SGB 5, § 98 Abs 1 S 1 SGB 5, § 24 Abs 2 ZO-Ärzte
Vorinstanz
vorgehend BSG, 30. November 2016, Az: B 6 KA 38/15 R, Urteil
vorgehend SG Stuttgart, 23. Juli 2015, Az: S 4 KA 3147/13, Urteil
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind ein von der Kassenärztlichen Vereinigung erteilter disziplinarrechtlicher Verweis sowie diesen bestätigende sozialgerichtliche Entscheidungen.
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1. Der Beschwerdeführer ist Facharzt für Allgemeinmedizin und als Vertragsarzt zugelassen. Am 10. Oktober 2012 schloss er nach entsprechender Ankündigung gegenüber der für ihn zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (im Folgenden: Beklagte) zusammen mit fünf anderen Kollegen während der Sprechzeiten seine Praxis zum Zwecke eines "Warnstreiks". Durch diesen "Streik" sollte der Forderung nach einem ärztlichen Honorarsystem, das feste Preise ohne irgendeine Form von Mengenbegrenzungen vorsieht, Ausdruck verliehen werden. Auf einen die Notfallversorgung übernehmenden Kollegen wies der Beschwerdeführer durch einen Aushang und per Anrufbeantworter hin. Am 21. November 2012 schloss er seine Praxis nach entsprechender Ankündigung erneut. Nachdem er die "Streiks" durchgeführt hatte, erteilte die Beklagte dem Beschwerdeführer einen disziplinarrechtlichen Verweis. Dagegen wandte sich dieser erfolglos vor dem Sozial- und Bundessozialgericht.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.
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Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG erfasse auch das Streikrecht von Vertragsärzten. Das vom Bundessozialgericht angenommene vollständige Streikverbot entbehre schon einer gesetzlichen Grundlage; jedenfalls aber sei es unverhältnismäßig. Die Teilnahme an den beiden Warnstreiks sei schon deshalb rechtmäßig gewesen, weil der Beschwerdeführer seine vertragsärztlichen Pflichten erfüllt und stets die Mindestzahl an wöchentlichen Sprechstunden in Höhe von 20 Stunden abgehalten habe. Zwar habe er die angekündigten Sprechzeiten nicht eingehalten; diese könnten aber auch aus anderen beruflichen oder privaten Gründen geändert werden. Es sei kein Grund erkennbar, warum ein Vertragsarzt nicht in seiner Freizeit streiken oder demonstrieren könne.
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Jedenfalls aber könne sich der Beschwerdeführer "gegen das Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen" auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit berufen. In jedem Fall stünde ihm das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>; 96, 245 250>; 108, 129 136>; stRspr).
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1. Die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht dargelegt.
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a) Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen, ihnen fernzubleiben oder sie zu verlassen. Geschützt ist zudem das Recht der Vereinigungen selbst, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, wobei die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, mit Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen selbst überlassen ist (vgl. BVerfGE 146, 71 114 Rn. 130> m.w.N.). Koalitionsspezifische Verhaltensweisen beziehen sich insbesondere auf die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht (vgl. BVerfGE 116, 202 219>; 146, 71 114 f. Rn. 131> m.w.N.); vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst sind auch Arbeitskampfmaßnahmen (vgl. BVerfGE 84, 212 224 f.>; 88, 103 114>; 92, 365 393 f.>; 146, 71 114 f. Rn. 131>; 148, 296 359 Rn. 140>). Entscheidend für die Zugehörigkeit solcher Maßnahmen zum Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ist, dass es sich um gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen handelt (vgl. BVerfGE 148, 296 359 Rn. 140>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2014 - 1 BvR 3185/09 -, Rn. 26 ff.).
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b) Hier ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer als "Warnstreik" bezeichneten Schließung seiner ärztlichen Praxis um eine koalitionsmäßige Betätigung im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG handelte. Der bloße Hinweis darauf, dass er an zwei Tagen "zusammen mit fünf anderen Kollegen" seine Praxis schloss, nachdem er zuvor der Beklagten gegenüber erklärt hatte, dass er damit das allen Berufsgruppen zustehende Streikrecht ausübe, reicht insofern nicht aus.
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c) Aus einer Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG unter Berücksichtigung des Art. 11 Abs. 1 EMRK und sonstigen einschlägigen Völkerrechts (vgl. BVerfGE 146, 71 143 ff. Rn. 206 f.>) ergibt sich nichts anderes. Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, der in allen Konventionsstaaten bekannte Begriff der "Gewerkschaft" setze einen Zusammenschluss abhängig Beschäftigter zur Vertretung ihrer Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis voraus, ist nicht dargelegt, was sich daraus für Angehörige eines freien, wenn auch verkammerten und vielfach regulierten Berufs schließen lässt.
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2. Die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG genügt ebenfalls nicht den Substantiierungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist insoweit der mit einer Verletzung der Präsenzpflicht begründete Verweis gegenüber dem Beschwerdeführer durch die beklagte Kassenärztliche Vereinigung.
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a) Rechtsgrundlage dieser Disziplinarmaßnahme ist § 81 Abs. 5 SGB V in Verbindung mit § 3 Abs. 2 der Satzung der Beklagten. Danach kann die Beklagte gegen Mitglieder, die ihre vertragsärztlichen Pflichten nicht oder in nicht ausreichender Weise erfüllen, eine Disziplinarmaßnahme verhängen. Zum Pflichtenkatalog gehört die sich aus der Gesamtschau von § 24 Abs. 2 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) in Verbindung mit § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 17 Abs. 1, 1a Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) - in der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt gültigen Fassung - ergebende Präsenzpflicht des Vertragsarztes.
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Der dem Beschwerdeführer erteilte Verweis gründet auf einer Verletzung dieser Präsenzpflicht. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä sind Sprechstunden entsprechend dem Bedürfnis nach einer ausreichenden und zweckmäßigen vertragsärztlichen Versorgung festzusetzen und bekannt zu geben. Die Sprechstunden sind grundsätzlich mit festen Uhrzeiten auf dem Praxisschild anzugeben (§ 17 Abs. 1 Satz 2 BMV-Ä). Unstreitig war der Beschwerdeführer an zwei Tagen zu den angekündigten Sprechzeiten nicht vor Ort.
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b) Die Verfassungsbeschwerde zeigt jedoch nicht den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG entsprechend substantiiert auf, inwiefern mit dem Verweis ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Berufsfreiheit und damit eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG gegeben sein kann. Die Beschwerdeschrift setzt sich nicht hinreichend mit der Reichweite der Präsenzpflicht und deren verfassungsrechtlicher Rechtfertigung auseinander.
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aa) Die die Berufsausübung regelnde Präsenzpflicht der am Vertragsarztsystem teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte folgt aus der Verpflichtung zur vertragsärztlichen Versorgung nach § 95 Abs. 3 SGB V. Ziel des kassenärztlichen Systems ist es, wie das Bundessozialgericht zutreffend herausstellt, die ärztliche Versorgung der gesetzlich Versicherten sicherzustellen (§ 72 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung stellt dabei ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut dar (vgl. BVerfGE 103, 172 184 f.>), das grundsätzlich auch Einschränkungen der Berufsausübungsfreiheit rechtfertigen kann (vgl. schon BVerfGE 7, 377 405 ff.>; 22, 1 20 f.>; 87, 363 382 ff.>). Wird ein solches legitimes Ziel verfolgt, sind neben den Anforderungen an die gesetzliche Regelung auch die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
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bb) Das Bundessozialgericht hat insoweit zutreffend die Möglichkeit von ungeschriebenen Ausnahmen von der Präsenzpflicht in Erwägung gezogen. Im Rahmen dessen verlangt Art. 12 Abs.1 GG für die Ausgestaltung der Berufsausübung darüber hinaus allerdings auch die Prüfung, inwieweit eine Praxisschließung trotz Erfüllung der vorgegebenen Mindeststunden zulässig sein kann, oder ob allein die Nichteinhaltung von angekündigten Sprechstunden an in beiden Fällen jeweils nur einem Wochentag überhaupt zu einer Gefährdung der vertragsärztlichen Versorgung führen kann. Dazu trägt der Beschwerdeführer jedoch nicht weiter vor.
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c) Von vornherein unzureichend ist auch der Vortrag des Beschwerdeführers, das in den Entscheidungen zum Ausdruck kommende Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen stelle eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG dar. Ob Arbeitskampfmaßnahmen in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fallen, hat das Bundessozialgericht in der angegriffenen Entscheidung offengelassen. Zwar hat auch das Bundesverfassungsgericht über diese Frage noch nicht ausdrücklich entschieden. Dies entbindet den Beschwerdeführer aber nicht von jeglicher Darlegungslast. Ein Verweis auf einen Aufsatz, der insoweit aber keine Begründung enthält, genügt dem nicht.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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