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BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1843/10
BVerfG 21.05.2012 - 1 BvR 1843/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung
Vorinstanz
vorgehend OLG Braunschweig, 2. Juni 2010, Az: 3 U 173/08, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 173/08 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
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Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 30. November 2010 - 3 U 173/08 - gegenstandslos.
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2. ...
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3. Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") wegen der Beteiligung eines Anlegers an einer Fondsgesellschaft.
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Der Beschwerdeführer beteiligte sich über eine als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisierte Treuhandkommanditistin, eine der Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Treuhandkommanditistin), auf der Grundlage eines Emissionsprospekts an einer als Kommanditgesellschaft organisierten Fondsgesellschaft, der F. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft). Komplementärin der Fondsgesellschaft war eine weitere Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ebenfalls Beklagte des Ausgangsverfahrens. Sowohl die Treuhandkommanditistin als auch die Komplementärin verfügten über jeweils einen Geschäftsführer, die weiteren Beklagten des Ausgangsverfahrens.
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Der Beschwerdeführer nahm die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und deren Geschäftsführer im Ausgangsverfahren auf Leistung von Schadenersatz unter anderem aus Verschulden bei Vertragsschluss ("Prospekthaftung im weiteren Sinne") in Anspruch. Zur Begründung trug er unter anderem vor, die Treuhandkommanditistin, die Komplementärin und die Geschäftsführer hätten in dem Emissionsprospekt auf ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen die Geschäftsführer hinweisen müssen. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz ergänzte er sein Vorbringen zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Außerdem behauptete er unter Verweis auf die Praktiken bei der parallel initiierten Fondsgesellschaft V. GmbH & Co. KG (im Folgenden: V. KG), für die er entsprechende Unterlagen vorlegte, der Geschäftsführer der Komplementärin habe nach Herausgabe des Emissionsprospekts, aber vor dem Beitritt der Anleger die mit dem Vermittler der Anlage getroffene Absprache über die geschuldete Provision für den Fall einer Stornierung von Verträgen zum Nachteil der Fondsgesellschaft geändert. Dazu trat er Beweis an durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin. Das Landgericht wies die Klage ab und führte unter anderem aus: Da der Beschwerdeführer seine Annahmeerklärung bereits am 10. Januar 2001 abgegeben habe, die behauptete Änderung der Provisionsbedingungen jedoch erst am 15. Januar 2001 vereinbart worden sein solle, sei sie ungeeignet, Prospektfehler, Täuschungshandlungen oder sonstige haftungsbegründende Handlungen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Unterzeichnung der streitgegenständlichen Beitrittserklärung zu belegen.
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Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Berufung ein. In der Berufungsinstanz vertiefte er seinen Vortrag zu einzelnen Prospektfehlern (Unterlassen eines Hinweises auf das bei Herausgabe des Emissionsprospekts laufende Ermittlungsverfahren, nachteilige Veränderung der Vertriebsvereinbarung im Falle von Stornierungen).
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Das Oberlandesgericht wies auf seine Absicht hin, die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen: Soweit der Beschwerdeführer eine nachträgliche Änderung der Provisionsvereinbarungen für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft behaupte, sei der Vortrag schon deshalb unbeachtlich, weil die Behauptung ins Blaue hinein aufgestellt sei.
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In seiner Stellungnahme zum Hinweisbeschluss bot der Beschwerdeführer zur Berechnung der Auswirkungen der geänderten Stornoregeln Beweis durch Sachverständigengutachten an sowie weiteren Zeugenbeweis dafür, dass die Stornoregeln der streitgegenständlichen Fondsgesellschaft denen in anderen Gesellschaften der G. Gruppe angeglichen worden seien.
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Das Oberlandesgericht wies durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss die Berufung zurück. Es nahm Bezug auf den Hinweisbeschluss und wiederholte, dass die Behauptung einer nachträglich geänderten Provisionsvereinbarung für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft ins Blaue hinein aufgestellt und damit unbeachtlich sei. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers hatte keinen Erfolg.
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II.
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Der Beschwerdeführer sieht sich in seinen verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Er trägt unter anderem vor, das Oberlandesgericht habe unter Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs unterstellt, es stelle keinen wesentlichen Prospektfehler dar, dass in dem Prospekt der V. KG auf künftig entstehende hohe Kosten für die Vermittlung auch im Falle einer Stornierung nicht hingewiesen werde. Es habe weiter seinen Vortrag einschließlich Beweisantritte übergangen, dass eine identische Nachtragsvereinbarung auch für die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft geschlossen worden sei. Schließlich sei der Vortrag unberücksichtigt geblieben, dass die verkürzte Stornonachhaftung des Vermittlers nicht durch "Abgangsentschädigungen" der Anleger im Falle einer vorzeitigen Stornierung ihrer Beteiligung habe kompensiert werden können, weil von Anfang an die Absicht bestanden habe, stornierenden Anlegern die "Abgangsentschädigung" zu erlassen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerde ist dem Niedersächsischen Justizministerium und den Beklagten des Ausgangsverfahrens zugestellt worden. Der Bundesgerichtshof wurde in einem Parallelverfahren (betreffend den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2010 - 3 U 147/08 -, aufgehoben durch Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 -, WM 2012, S. 492) um eine Stellungnahme gebeten. Die Akte des Ausgangsverfahrens ist beigezogen.
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Das Niedersächsische Justizministerium vertritt die Auffassung, das Oberlandesgericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers nicht verletzt. Es habe den Vortrag zur fehlenden Angabe der Nachtragsvereinbarung zur Stornonachhaftung als unsubstantiiert gewürdigt. Die dazu angebotenen Beweisanträge hätten sich damit als nicht entscheidungserheblich erwiesen. Dies gelte auch für die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass ein Prospektfehler insoweit jedenfalls nicht wesentlich sei wegen der Kompensation der Stornoeffekte durch eine Abgangsentschädigung der Anleger von 15 % der Anlagesumme.
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Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren Äußerungen des Vorsitzenden des II. und des III. Zivilsenats übermittelt. Der Vorsitzende des II. Zivilsenats hat mitgeteilt, der Senat sei mit der Haftung für Prospektmängel unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Änderung der Vereinbarung mit einem Vermittler und dem nachträglichen Erlass von Abgangsentschädigungen bislang nicht befasst gewesen. Der Vorsitzende des III. Zivilsenats hat ausgeführt, Prospektangaben zu Vertriebsprovisionen dürften nicht irreführend sein. Der Anleger dürfe auch erwarten, dass die "Weichkosten" wie prospektiert verwendet würden. An die Substantiierungspflicht des Anlegers dürften dabei keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden; die Kausalität einer unrichtigen Prospektdarstellung für die Anlageentscheidung werde vermutet. Ob eine unrichtige Prospektdarstellung, die in Fällen der Stornierung der Anlage von einem zu hohen Rückfluss von Provisionen ausgehe, dadurch aufgewogen werden könne, dass der Prospekt die Zahlungen von Abgangsentschädigungen vorsehe, sei zweifelhaft. Soweit vorgetragen und unter Beweis gestellt worden sei, dass entgegen dem Prospektinhalt auf die Zahlung einer solchen Abgangsentschädigung von vornherein verzichtet worden sei, dürften auch an die Substantiierung dieses Vortrags, der sich prinzipiell auf Vorgänge außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Anlegers beziehe, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.
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Die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben von einer Stellungnahme abgesehen.
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IV.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 103 Abs. 1 GG auch offensichtlich begründet.
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Die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG; der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist insoweit im Hinblick auf den Vortrag des Beschwerdeführers im Anhörungsrügeverfahren erschöpft.
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Das Oberlandesgericht hat sich nur unzureichend und unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG mit dem durch den Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Komplementärin sowie dem Antritt von Zeugen- und Sachverständigenbeweis unterlegten Vorbringen des Beschwerdeführers befasst, die hier streitgegenständliche Fondsgesellschaft habe nachträglich in eine Änderung der Vertriebsbedingungen zu ihrem Nachteil eingewilligt, ohne dass der dadurch unrichtig gewordene Emissionsprospekt korrigiert worden sei, was einen wesentlichen Prospektfehler darstelle. Hier lag keiner der möglichen Gründe vor, derentwegen die Beweisantritte des Beschwerdeführers hätten unbeachtet bleiben dürfen, ohne dadurch Art. 103 Abs. 1 GG zu verletzen. Das Oberlandesgericht hat insoweit die Anforderungen überspannt, die an die Substantiierung des Vortrags eines Anlegers vernünftigerweise gestellt werden können.
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Der Vortrag des Beschwerdeführers war ersichtlich hinreichend konkret und - die Fondsgesellschaft V. KG betreffend - hinlänglich in den Einzelheiten ausgeführt. Dass bei der hier streitgegenständlichen Fondsgesellschaft, die parallel initiiert wurde, in gleicher Weise verfahren worden war, lag nahe. Den Vortrag, dass bei ihr ebensolche nachträglichen Änderungen vereinbart worden seien, durfte das Oberlandesgericht jedenfalls nicht mit der Begründung übergehen, es handele sich um eine willkürliche Behauptung ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Sinne der Definition einer Behauptung "ins Blaue hinein". Insoweit wird auf den Beschluss der Kammer vom 24. Januar 2012 - 1 BvR 1819/10 - (WM 2012, S. 492) Bezug genommen. Auf die vom Landgericht zusätzlich als Begründung angeführte, im weiteren Verfahren noch aufklärungsbedürftige zeitliche Abfolge von behaupteter Aufklärungspflichtverletzung und behaupteter Nachtragsvereinbarung stützt das Oberlandesgericht seine Entscheidung nicht.
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Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung ist danach aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos. Ob zugleich eine Verletzung weiterer, als verletzt gerügter verfassungsmäßiger Rechte des Beschwerdeführers im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG gegeben ist, bedarf deshalb keiner Entscheidung mehr.
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V.
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Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>). Der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt, wenn der Verfassungsbeschwerde durch die Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen hier Besonderheiten auf, die eine Abweichung veranlassen.
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