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BVerfG 21.06.2011 - 2 BvR 1879/10
BVerfG 21.06.2011 - 2 BvR 1879/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Aufrechterhaltung von Sicherungsverwahrung in Anwendung von § 67d Abs 3 S 1 StGB sowie § 2 Abs 6 StGB - Anforderungen für Entscheidung auf Grundlage der übergangsweise fortgeltenden Vorschriften nicht gewahrt
Normen
Art 104 Abs 1 S 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 6 StGB, § 67d Abs 3 S 1 StGB, § 67d Abs 4 StGB
Vorinstanz
vorgehend OLG Koblenz, 16. Juli 2010, Az: 2 Ws 253/10, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 16. Juli 2010 - 2 Ws 253/10 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
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Der Beschluss wird aufgehoben.
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Die Sache wird an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen.
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Gründe
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I.
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Der 1950 geborene Beschwerdeführer wurde seit 1967 wiederholt zu Freiheitsstrafen verurteilt. Unter anderem wurde er in den Jahren 1980 wegen versuchter Vergewaltigung, 1983 wegen versuchter sexueller Nötigung und 1986 wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Zuletzt erfolgte eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren wegen Vergewaltigung durch Urteil des Landgerichts Landau vom 31. Juli 1989. Zugleich ordnete das Landgericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.
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Die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wird seit dem 26. Februar 1996 vollzogen. Mehrfach wurde die Aussetzung der Sicherungsverwahrung auf Bewährung abgelehnt. Ab 2003 wurde die Möglichkeit von Vollzugslockerungen in den Gutachten und den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt thematisiert. In der Folgezeit wurde - letztlich ergebnislos - versucht, den Beschwerdeführer in eine sozialtherapeutische Abteilung zu verlegen.
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Am 25. Februar 2006 war der Beschwerdeführer seit 10 Jahren in der Sicherungsverwahrung untergebracht. In einem Beschluss vom April 2006 lehnte die Strafvollstreckungskammer es ab, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären, weil weiterhin die Gefahr bestehe, dass er infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden. Zugleich führte die Kammer aus, es erscheine sinnvoll, ihn in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen, um ihn später durch Lockerungen auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten.
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Zuletzt lehnte das Landgericht Koblenz - Große Strafvollstreckungskammer Diez - es mit Beschluss vom 4. August 2008 ab, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären oder diese zur Bewährung auszusetzen.
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Mit Beschluss vom 19. Mai 2010 erklärte das Landgericht Koblenz - Große Strafvollstreckungskammer Diez - die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung für erledigt, stellte fest, dass der Beschwerdeführer nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses zu entlassen sei und sodann Führungsaufsicht eintrete. Zugleich erteilte es dem Beschwerdeführer verschiedene Weisungen zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht. Zur Begründung verwies die Strafvollstreckungskammer auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009. Danach sei die Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung als abgelaufen im Sinne des § 67d Abs. 4 StGB anzusehen. Zu diesem Ergebnis führe auch die verfassungskonforme Auslegung von § 2 Abs. 6 StGB.
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Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht Koblenz mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 16. Juli 2010 den Beschluss der Strafvollstreckungskammer auf: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebe keine Veranlassung, anders als auf Grundlage des geltenden § 67d Abs. 3 StGB über die Fortdauer der Unterbringung zu entscheiden. Zwar bestehe eine Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaats, eine durch den Gerichtshof festgestellte Konventionsverletzung auch in Parallelfällen zu beenden. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätten jedoch keine Gesetzeskraft. Sie könnten von den Gerichten nur insoweit beachtet werden, als dies innerhalb der bestehenden Rechtsordnung im Wege einer methodisch vertretbaren Gesetzesauslegung möglich sei. Eine Beseitigung der festgestellten Konventionsverstöße dahingehend, dass in den "Altfällen" eine Höchstdauer der Unterbringung von 10 Jahren gelte und nach deren Ablauf die Maßnahme für erledigt zu erklären sei, könne durch Auslegung der gegebenen Gesetzeslage jedoch nicht erreicht werden. Da somit § 67d Abs. 3 StGB in der derzeit geltenden Fassung zur Anwendung komme, sei der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts aufzuheben. Eine Zurückverweisung des Verfahrens an die Kammer sei hingegen nicht geboten gewesen, da die aufgehobene Entscheidung allein zur Umsetzung der Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 getroffen worden sei, sich jedoch nicht mit dem Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB auseinander setze. Die Kammer werde jedoch nunmehr in die Überprüfung der Unterbringungsvoraussetzungen einzutreten haben, da seit der letzten Fortdauerentscheidung vom 8. August 2008 nahezu zwei Jahre verstrichen seien.
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Gegen den am 22. Juli 2010 zugestellten Beschluss des Oberlandesgerichts hat der Beschwerdeführer am 19. August 2010 Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG.
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Dem Justizministerium Rheinland-Pfalz, dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und allen Landesregierungen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
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II.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
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1. Der dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) ist, wie das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. -festgestellt hat, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und, soweit er in Verbindung mit § 2 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über 10 Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBI I S. 160) begangen wurden, darüber hinaus mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar (vgl. Nummer II.1. Buchstaben a) und b) sowie Nummer II.2. des Tenors).
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Aufgrund der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts unter Nummer III.2. Buchstabe a) des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - ist die Vorschrift längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter anwendbar, mit der Maßgabe, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) - Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) - leidet. Zudem haben die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, ordnen sie die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 an (vgl. Nummer III.2. Buchstabe b) des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. -). Die Überprüfungsfrist für die Erledigung der Sicherungsverwahrung beträgt überdies in der Konstellation des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Rahmen der Weitergeltung der Vorschrift abweichend von § 67e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ein Jahr (vgl. Nummer III.2. Buchstabe c) des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. -).
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2. Dies zugrundegelegt verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Er ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der angefochtene Beschluss beruht auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160). Er genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschriften aus den Maßgaben unter Nummer III. des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - ergeben.
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III.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 105, 1 17> m.w.N.).
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