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BFH 16.06.2011 - XI B 120/10
BFH 16.06.2011 - XI B 120/10 - Kein strukturelles Vollzugsdefizit bei der Umsatzbesteuerung sexueller Dienstleistungen von Prostituierten - Umsatzsteuerliche Aufzeichnungspflichten bei Prostituierten - Keine grundsätzliche Bedeutung wegen behaupteter faktischer Abgeltungswirkung im "Düsseldorfer Verfahren"
Normen
§ 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, Art 3 Abs 1 GG, § 22 Abs 1 S 1 UStG 1999, § 22 Abs 1 S 1 UStG 2005
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 27. Oktober 2010, Az: 16 K 65/10, Urteil
Leitsatz
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NV: Bei der Besteuerung der Umsätze aus sexuellen Dienstleistungen von Prostituierten besteht keine durch Vollzugsmängel hervorgerufene Belastungsungleichheit, die zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung führt .
Gründe
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Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat keinen Erfolg.
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Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) noch erfordert die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Streitfall (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO). Ferner liegt ein i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend gemachter Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könnte, nicht vor.
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a) Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn die für ihre Beurteilung maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Dies ist nur der Fall, wenn die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 17. Juni 2010 XI B 88/09, BFH/NV 2010, 1875, m.w.N.).
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An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die Rechtsfrage anhand der gesetzlichen Grundlagen oder der bereits vorliegenden Rechtsprechung beantwortet werden kann und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH geboten erscheinen lassen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 1875, m.w.N.).
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Die von der Klägerin für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage, ob die Erhebung der Umsatzsteuer auf sexuelle Dienstleistungen von Prostituierten wegen eines bestehenden strukturellen Vollzugsdefizits gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstoße, ist nicht klärungsbedürftig.
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aa) Die aufgeworfene Rechtsfrage, die im Kern darauf zielt, ob die Steuer erhoben werden darf, wenn eine mangelhafte Durchsetzung die gleichmäßige Steuerbelastung in Frage stellt, kann anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des BFH beantwortet werden.
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(1) Es ist bereits geklärt, dass der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG für das Steuerrecht verlangt, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Eine durch Vollzugsmängel hervorgerufene Belastungsungleichheit führt zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung, wenn sich eine Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig auswirkt, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 1. Juli 2010 V B 62/09, BFH/NV 2010, 2136, m.w.N.; BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654). Ein verfassungsrechtlich bedeutsames strukturelles Vollzugsdefizit ist jenseits eines solchen normativen Erhebungsdefizits nur denkbar, wenn die Besteuerung aus politischen Gründen nicht vollzogen wird oder in einer Anlaufphase erkennbare Umsetzungsprobleme nicht beseitigt werden (zum Kontenabrufverfahren vgl. BFH-Entscheidungen vom 19. Dezember 2007 IX B 219/07, BFHE 219, 353, BStBl II 2008, 382; vom 29. November 2005 IX R 49/04, BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178, unter II.2.d).
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(2) Ein in diesem Sinne strukturelles Vollzugsdefizit besteht im Streitfall nicht. Es mag zwar für die Finanzämter rein tatsächlich schwierig sein, Umsätze aus sexuellen Dienstleistungen zu besteuern und Kenntnis von steuerrelevanten Sachverhalten zu erlangen. Die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen führt jedoch nicht ohne weiteres zur Gleichheitswidrigkeit (vgl. BFH-Urteile vom 22. April 2008 IX R 29/06, BFHE 221, 97, BStBl II 2009, 296; vom 4. Juni 1987 V R 9/79, BFHE 150, 192, BStBl II 1987, 653; BVerfG-Urteil vom 9. März 2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56). Die Festsetzung der Steuer auf Umsätze aus sexuellen Dienstleistungen ist nicht --wie es etwa bei der Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 der Fall war-- aus einem Zusammenspiel ermittlungsbeschränkender und fehlender ermittlungsfördernder Normen geprägt (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter C.III.3.). Das Gesetz enthält keinerlei Vorschriften, welche die Verifikation der auch in diesen Fällen zu erklärenden Umsätze hindern. Vielmehr ist nach der geltenden Gesetzeslage auch eine sexuelle Dienstleistung erbringende Prostituierte als Unternehmerin nach § 22 Abs. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes verpflichtet, zur Feststellung der Steuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Eine verfassungswidrige, nicht auf gleichmäßigen Belastungserfolg angelegte Gesetzeslage besteht somit selbst dann nicht, wenn die mit der Beschwerde vorgebrachte unzureichende steuerliche Erfassung sexueller Dienstleistungen empirisch zutreffen sollte. Anhaltspunkte für eine mangelnde Vollziehung der Besteuerungsregelungen im Bereich dieser Dienstleistungen aus politischen oder sonstigen, dem Gesetzgeber anzulastenden Gründen sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
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bb) Neue Gesichtspunkte, die eine erneute Prüfung dieser Rechtsprechung erfordern würde, vermag der Senat nicht zu erkennen. Auch der Hinweis der Klägerin auf das nach ihrem Vorbringen seit 2002, mithin im streitgegenständlichen Zeitraum zunehmend zur Anwendung kommende "Düsseldorfer Verfahren" gibt hierzu keinen Anlass. Dieses auf Vorauszahlung gerichtete vereinfachte Verwaltungsverfahren der Finanzbehörden zielt darauf ab, den Vollzug der Besteuerung im Bereich der Prostitution zu verbessern und zu vereinheitlichen (vgl. Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten --Prostitutionsgesetz--, BTDrucks 16/4146, S. 40). Soweit die Klägerin vorbringt, dieses Verwaltungsverfahren habe faktische Abgeltungswirkung, und sie hierdurch die an diesem Verfahren teilnehmenden Prostituierten untereinander je nach Region und gegenüber anderen ungleich bessergestellt sieht, ist darauf hinzuweisen, dass der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis und damit auf Gleichheit im Unrecht vermittelt (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 2136, m.w.N.).
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b) Die Revision ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO zuzulassen.
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Eine Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts ist nur erforderlich, wenn über bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfragen zu entscheiden wäre (BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 2136, m.w.N.).
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aa) Die mit der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage ist, wie sich den vorstehenden Ausführungen entnehmen lässt, als geklärt anzusehen.
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bb) Dies gilt gleichermaßen, soweit die Klägerin im Zusammenhang mit dem Zulassungsgrund der Rechtsfortbildung ferner die weitere Frage aufwirft, ob gerade der Umstand, dass Prostituierte trotz des BFH-Urteils aus dem Jahre 1987 (BFHE 150, 192, BStBl II 1987, 653) langjährig nicht und erst recht nicht im Regelverfahren besteuert worden seien, ein strukturelles Vollzugsdefizit begründe.
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c) Der vermeintliche Verfahrensverstoß in Gestalt einer Überraschungsentscheidung liegt nicht vor.
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Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verlangt von dem erkennenden Gericht vornehmlich, dass es die Beteiligten über den Verfahrensstoff informiert, ihnen Gelegenheit zur Äußerung gibt, ihre Ausführungen sowie Anträge zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung in Erwägung zieht (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 16. August 2005 III S 23/05, BFH/NV 2005, 2234, m.w.N.). Das rechtliche Gehör ist verletzt, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 22. April 2008 X S 3/08, Zeitschrift für Steuern und Recht --ZSteu-- 2008, R608, m.w.N.; vom 12. November 2008 V S 11/08, nicht veröffentlicht --n.v.--, juris, m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt jedoch nicht, dass das Gericht die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend erörtert. Es ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in ZSteu 2008, R608, m.w.N.; vom 19. Dezember 2008 V S 44-46/07, n.v., juris, m.w.N.; vom 31. Januar 2007 III S 33/06, BFH/NV 2007, 953, m.w.N.).
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Nach diesen Maßstäben war das Finanzgericht nicht gehalten, vor Erlass der angefochtenen Entscheidung auf seine Ansicht hinzuweisen, dass im Übrigen die Finanzämter auch bei anderen, am "Düsseldorfer Verfahren" teilnehmenden Prostituierten auf Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung der steuerrechtlichen Pflichten nicht verzichten würden.
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