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BVerfG 05.12.2024 - 1 BvR 2406/24
BVerfG 05.12.2024 - 1 BvR 2406/24 - Nichtannahmebeschluss: Kostentragungspflicht des Klägers trotz Erfolgs der Klage wegen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des entscheidungserheblichen Gesetzes im Laufe des fachgerichtlichen Verfahrens dürfte Willkürverbot verletzen - allerdings Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels Fristwahrung - Rüge inhaltlicher Fehler im Gewand der Anhörungsrüge hält Beschwerdefrist nicht offen
Normen
Art 3 Abs 1 GG, § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 1 S 4 Nr 1 AsylbLG vom 13.08.2019, § 178a SGG, § 193 Abs 1 S 1 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Darmstadt, 17. September 2024, Az: S 16 AY 11/24 RG, Beschluss
vorgehend SG Darmstadt, 29. Dezember 2023, Az: S 16 AY 31/23, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen eine Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts Darmstadt.
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1. Mit ihrer zum Sozialgericht erhobenen Klage hat die Beschwerdeführerin die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) begehrt und die Verfassungswidrigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG in der Fassung vom 13. August 2019 (BGBl I S. 1290) geltend gemacht. Während des laufenden Klageverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht diese Regelung durch Beschluss vom 19. Oktober 2022 (- 1 BvL 3/21 -, BVerfGE 163, 254 ff.) für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unvereinbar erklärt. Der im Ausgangsverfahren beklagte Landkreis hat danach in der Hauptsache ein Anerkenntnis abgegeben, das die Beschwerdeführerin angenommen hat. Dem Kostenantrag der Beschwerdeführerin ist der Landkreis aber entgegengetreten.
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Mit angefochtenem Beschluss vom 29. Dezember 2023 - S 16 AY 31/23 - hat das Sozialgericht den Landkreis verpflichtet, der Beschwerdeführerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten zu erstatten, den Kostenantrag im Übrigen aber abgelehnt. Der Landkreis sei zwar letztlich unterlegen und habe den geltend gemachten Anspruch anerkannt. Allerdings beruhe das Anerkenntnis auf einer nach der Klageerhebung durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21) eingetretenen Änderung der Rechtslage. Es fehle an einer Veranlassung der Klageerhebung durch den Landkreis, weil dieser sich an der zuvor für ihn verpflichtend gegebenen Rechtslage orientiert habe. Die gegen diese Entscheidung erhobene Anhörungsrüge ist erfolglos geblieben (angefochtener Beschluss des Sozialgerichts vom 17. September 2024 - S 16 AY 11/24 RG -).
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2. Mit ihrer am 25. Oktober 2024 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG), des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie des Justizgewährleistungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
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II.
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Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 lit. a) BVerfGG zu, und ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 lit. b) BVerfGG), weil die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>). Zwar dürfte die Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot verstoßen (1.). Allerdings hat die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde nicht fristgemäß erhoben, soweit sie sich hiergegen wendet (2.).
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1. Es liegt nahe, dass die Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot verstößt. Nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen eines Verstoßes gegen das Willkürverbot (vgl. BVerfGE 87, 273 278 f.>; 112, 185 216>) ist die Entscheidung des Sozialgerichts - trotz des bei Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG gegebenen weiten gerichtlichen Ermessens (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 2024 - 1 BvR 1021/24 -, Rn. 8) - wohl nicht vertretbar.
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Die ganz herrschende Meinung geht im Anwendungsbereich von § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG von einer vollen Kostentragungspflicht der Behörde aus, wenn sich der Erfolg der Klage daraus ergibt, dass das entscheidungserhebliche Gesetz im Laufe des Verfahrens für verfassungswidrig erklärt worden ist (BSG, Beschluss vom 13. Februar 1961 - 6 RKa 19/59 -, BSGE 14, 25 ff., Rn. 5 ff. <juris>; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Juni 2003 - L 8 B 28/03 AL -, Rn. 8 ff. <juris>; Evers in: BeckOGK SGG, § 193 Rn. 35 (November 2024); Hauck in: Hennig, SGG, § 193 Rn. 83, Stand Juni 2020; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 193 Rn. 12a; vgl. auch BSG, Beschluss vom 5. August 1992 - 10 RKg 16/91 -, Rn. 5 ff. <juris>). Rechtsprechung und Literatur zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 1966 - II C 66.64 -, Buchholz 310 § 161 Abs. 2 VwGO Nr. 19; BVerwG, Beschluss vom 13. Oktober 1967 - VII B 3.64 -, Rn. 2 ff. <juris>; OVG Münster, Beschluss vom 13. Juli 1966 - II B 123/66 -, NJW 1966, S. 2377 2378>; Clausing in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 161 Rn. 23 (Januar 2024); Neumann/Schaks in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 161 Rn. 93; R. P. Schenke in: Kopp/Schenke, 30. Aufl. 2024, § 161 Rn. 18) sowie zum finanzgerichtlichen Verfahren (vgl. nur BFH, Beschluss vom 28. Mai 1991 - IX B 189/90 -, Rn. 3 <juris>; Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 138 FGO Rn. 74 (Oktober 2024); Morsch in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 138 FGO Rn. 137 (November 2024)) vertreten in vergleichbarer Weise - wenn auch zum Teil mit leicht variierenden Begründungsansätzen -, dass die Behörde, die sich auf ein für verfassungswidrig erklärtes Gesetz berufen hat, die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, wenn das Verfahren unstreitig beendet wird und das Gericht eine Kostenentscheidung nach billigem Ermessen zu treffen hat (vgl. § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, § 138 Abs. 1 FGO).
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Die Erwägungen des Sozialgerichts, dass dennoch eine Kostenteilung zu erfolgen habe, weil "von einer Veranlassung der Klageerhebung durch den Beklagten nicht ausgegangen werden" könne, verkehren das Veranlasserprinzip in sein Gegenteil. Dieses soll in erster Linie die einzelfallbezogene Korrektur einer ausschließlich an den voraussichtlichen Erfolgsaussichten orientierten Betrachtung ermöglichen: Derjenige, der die Klage "veranlasst" hat, kann unter Umständen trotz formalen Obsiegens mit kostenrechtlichen Nachteilen belastet werden. Nach dem Verständnis des Sozialgerichts in der hier angegriffenen Entscheidung wäre die Veranlassung der Klage durch die Behörde aber eine kumulativ zu erfüllende, zusätzliche Voraussetzung neben dem voraussichtlichen Obsiegen, damit ein Rechtsschutz Suchender Kostenerstattung in voller Höhe verlangen kann.
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2. Soweit sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung wendet, hat sie jedoch die einmonatige Beschwerdefrist gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht gewahrt. Die Frist hat mit der Zustellung der Kostengrundentscheidung am 19. Januar 2024 begonnen. Nicht maßgeblich war insoweit die Zustellung des Beschlusses über die Anhörungsrüge. Die Erhebung der fachgerichtlichen Anhörungsrüge war hier nicht geeignet, die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten (vgl. zu den Maßstäben m.w.N. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 2000 - 2 BvR 191/00 -, Rn. 3; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2020 - 2 BvR 412/20 -, juris, Rn. 2), denn sie war von vornherein unzulässig.
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Die Beschwerdeführerin hat mit ihrer Anhörungsrüge unter Verweis auf den Beschluss des Sozialgerichts Kassel und den zeitlich älteren Beschluss der erkennenden Kammer des Sozialgerichts vom 30. Mai 2023 allein die inhaltliche Unrichtigkeit der Kostengrundentscheidung geltend gemacht. Darin, dass ein Gericht der Rechtsauffassung des Rechtsschutzsuchenden nicht folgt, liegt indessen kein Gehörsverstoß, der im Gewand der Anhörungsrüge verfassungsbeschwerdefristwahrend gerügt werden könnte (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2020 - 2 BvR 412/20 -, juris, Rn. 3; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juli 2023 - 1 BvR 58/23 -, Rn. 15).
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Dass der Inhalt der Kostengrundentscheidung für sie "überraschend" gewesen sei, weil die erkennende Kammer des Sozialgerichts noch im Mai 2023 in einer vergleichbaren Fallkonstellation dem dort beklagten Landkreis die außergerichtlichen Kosten in voller Höhe auferlegt habe, hat die Beschwerdeführerin erstmals in der Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde vorgebracht.
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3. Von einer weitergehenden Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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