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BSG 18.12.2024 - B 8 SO 1/24 B
BSG 18.12.2024 - B 8 SO 1/24 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der Berufungsfrist - Zustellung des Urteils an den Bevollmächtigten - elektronisches Dokument - Fehlen eines elektronischen Empfangsbekenntnisses - Heilung von Zustellungsmängeln - tatsächlicher Zugang und Empfangsbereitschaft
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 63 Abs 2 SGG, § 73 Abs 6 S 6 SGG, § 173 Abs 1 ZPO, § 173 Abs 3 ZPO, § 189 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Hamburg, 16. Februar 2022, Az: S 7 SO 169/17, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Hamburg, 14. Dezember 2023, Az: L 4 SO 51/22 D, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Dezember 2023 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
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Den Klägern wird für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem bezeichneten Urteil Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. L, H, beigeordnet. Es sind weder Monatsraten aus dem Einkommen noch aus dem Vermögen zu zahlende Beträge zu leisten.
Gründe
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I. Zwischen den Beteiligten stehen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) und diesbezüglich die Zulässigkeit der Berufung im Streit.
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Der 1939 geborene Kläger und die 1940 geborene Klägerin sind verheiratet und erhielten als Altersrentner bis zum 30.9.2016 neben Leistungen zur Pflege und der Haushaltshilfe von der Beklagten aufstockende Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Eine weitere Leistungsgewährung lehnte die Beklagte wegen erheblicher Zweifel an der Hilfebedürftigkeit ab (Bescheid vom 12.10.2016; Widerspruchsbescheid vom 28.2.2017). Die Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG) Hamburg abgewiesen (Urteil vom 16.2.2022). Das SG hat das Urteil am 7.4.2022 dem damaligen Klägerbevollmächtigten elektronisch in sein besonderes Anwaltspostfach (beA) übersandt (eingegangen auf dem Server des Rechtsanwalts am 7.4.2022 um 10:55 Uhr) und ein elektronisches Empfangsbekenntnis angefordert. Der damalige Klägerbevollmächtigte hat das elektronische Empfangsbekenntnis trotz mehrfacher Erinnerung durch das SG nicht zurückgesandt. Das SG hat daraufhin das Urteil an den damaligen Klägerbevollmächtigten gegen Postzustellungsurkunde (PZU) am 1.7.2022 zugestellt. Die Kläger haben am 15.7.2022 Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung durch den Berichterstatter als Einzelrichter als unzulässig verworfen (Urteil vom 14.12.2023). Sie sei nicht fristgerecht erhoben worden.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger, mit der sie unter anderem geltend machen, dass das LSG zu Unrecht die Berufung als nicht fristgerecht angesehen und ein Prozessurteil erlassen habe, ohne die Begründetheit der Berufung zu prüfen.
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II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des mit dem klägerischen Vorbringen in der Sache geltend gemachten Verfahrensfehlers noch den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt vor, weil das LSG verfahrensfehlerhaft ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlassen hat. Auf diesem Verfahrensfehlern kann das Urteil auch beruhen. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
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Das LSG hat zu Unrecht die Berufung als nicht fristgerecht eingelegt angesehen und deshalb durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur Bundessozialgericht <BSG> vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - RdNr 5; BSG vom 5.6.2014 - B 4 AS 349/13 B - RdNr 9; BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - RdNr 5 jeweils mwN).
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Gemäß § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Zugestellt wird nach § 63 Abs 2 SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Ist - wie hier - ein Bevollmächtigter bestellt, sind die Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts an ihn zu richten (§ 73 Abs 6 Satz 6 SGG). Nach § 173 Abs 1 ZPO (hier in der Fassung des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5.10.2021 - BGBl I 4607) kann ein elektronisches Dokument elektronisch nur auf einem sicheren Übermittlungsweg zugestellt werden. Die elektronische Zustellung ua an Rechtsanwälte wird durch ein elektronisches Empfangsbekenntnis nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Für die Übermittlung ist der vom Gericht mit der Zustellung zur Verfügung gestellte strukturierte Datensatz zu verwenden. Stellt das Gericht keinen strukturierten Datensatz zur Verfügung, so ist dem Gericht das elektronische Empfangsbekenntnis als elektronisches Dokument zu übermitteln (§ 173 Abs 3 ZPO). Bei der Zustellung durch Empfangsbekenntnis ist Zustellungsdatum der Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt (stRspr; vgl zuletzt BSG vom 14.7.2022 - B 3 KR 2/21 R - BSGE 134, 265 = SozR 4-1500 § 65a Nr 8, RdNr 9). Erforderlich ist insbesondere eine Empfangsbereitschaft, also einen Annahmewillen des Zustellungsempfängers (vgl Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 45. Aufl 2024, § 175 RdNr 7). Fehlt es am Empfangsbekenntnis, ist die Zustellung grundsätzlich unwirksam und löst keine Fristen aus (vgl Rohe in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl 2022, § 173 RdNr 22). Dies gilt auch für ein elektronisches Empfangsbekenntnis (vgl Biallaß in jurisPK-ERV Band 2, 2. Aufl 2022, § 173 ZPO RdNr 72, 94, Stand 28.8.2024). Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch dieses gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (BSG vom 30.5.2023 - B 7 AS 21/23 B). Verstößt ein Zustellungsempfänger gegen die Pflicht, ein elektronisches Empfangsbekenntnis zurückzusenden, gelten grundsätzlich dieselben Rechtsfolgen, wie bei einem zurückzusendenden Empfangsbekenntnis in Papierform (vgl Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 45. Aufl 2024, § 173 RdNr 12; Rohe in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl 2022, § 173 RdNr 22; Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl 2024, § 173 RdNr 5, 19).
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Hier fehlt es an einem Nachweis der vom SG auf elektronischem Weg veranlassten Zustellung, weil kein elektronisches Empfangsbekenntnis vorliegt. Zwar ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass das Fehlen eines Empfangsbekenntnisses die Wirksamkeit der Zustellung nicht in jedem Fall hindert (vgl Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 17.5.2006 - 2 B 10.06) und eine Heilung nach § 189 ZPO in Betracht kommt. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es nach § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Für die Zustellung durch Empfangsbekenntnis oder elektronisches Empfangsbekenntnis kommt jedoch eine Heilung nur in Betracht, wenn nachgewiesen ist, dass dem Zustellungsempfänger das Dokument tatsächlich zugegangen ist und er bereit war, das Schriftstück entgegen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl BVerwG vom 17.5.2006 - 2 B 10.06 - RdNr 5 f; Bundesgerichtshof <BGH> vom 22.11.1988 - VI ZR 226/87 - NJW 1989, 1154). Für eine Anwendung von § 189 ZPO genügt es zwar, dass der Rechtsanwalt seine Empfangsbereitschaft konkludent zum Ausdruck bringt, etwa durch schriftsätzliches Einlassen auf das empfangene Schriftstück. Der tatsächliche Zugang des Dokuments reicht aber alleine nicht aus. Der Gesetzgeber hat auch für den Fall der elektronischen Übermittlung eines Dokuments an einen Rechtsanwalt daran festgehalten, den Nachweis der Zustellung an ein voluntatives Element zu knüpfen und hierfür nicht allein die automatisierte Eingangsbestätigung (ggf in Verbindung mit einem bestimmten Zeitablauf) ausreichen zu lassen (BGH vom 17.1.2024 - VII ZB 22/23 - RdNr 10; BVerwG vom 19.9.2022 - 9 B 2/22 - RdNr 10; Thüringer Oberverwaltungsgericht vom 22.5.2024 - 2 EO 603/23 - RdNr 38; Biallaß in jurisPK-ERV Band 2, 2. Aufl 2022, § 173 ZPO RdNr 100, Stand 28.8.2024; aA Bayerischer Verwaltungsgerichtshof vom 10.7.2023 - 12 BV 23.293 - RdNr 3, 6). Insoweit verbleibt es auch für das elektronische Empfangsbekenntnis bei der Privilegierung der Rechtanwälte hinsichtlich des Zeitpunkts einer Zustellung. Anhaltspunkte für die Annahme einer Bereitschaft des damaligen Klägerbevollmächtigten, das über das beA übermittelte Urteil entgegen und zur Kenntnis zu nehmen, wie sie höchstrichterliche Rechtsprechung hat ausreichen lassen, existieren nicht. Gerichtliche Erinnerungen an die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses, Schweigen des Rechtsanwalts zu den Umständen der Zustellung und die Zusage der Mitarbeiter des Büros des Rechtsanwalts, das elektronische Empfangsbekenntnis zu übersenden, reichen für die Wirksamkeit und Heilung der Zustellung nicht aus.
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Das Urteil ist dem damaligen Klägerbevollmächtigten damit erst am 1.7.2022 mittels Postzustellungsurkunde wirksam zugestellt worden. Damit lief die für die Kläger maßgebliche Berufungsfrist erst am 1.8.2022 ab (§ 64 Abs 2 SGG), sodass ihre Berufungseinlegung am 15.7.2022 die Berufungsfrist gewahrt hat. Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Berufung der Kläger aus anderen Gründen unzulässig sein könnte, bestehen nicht.
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Die Entscheidung des LSG kann auch auf dem vorliegenden Verfahrensfehler beruhen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Sachentscheidung zu einem anderen Ergebnis führt (vgl dazu nur Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160a RdNr 18 mwN). Ob die Kläger - was nach ihrem Vortrag denkbar erscheint - hilfebedürftig sind, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG nicht entscheiden.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
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