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BVerfG 12.12.2024 - 1 BvR 2183/24
BVerfG 12.12.2024 - 1 BvR 2183/24 - Nichtannahmebeschluss: Mögliche Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG bei Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs unter grober Verkennung des Vorliegens einer Besorgnis der Befangenheit (Verknüpfung einer Klagerücknahme mit der Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen für eine Prozesspartei) - allerdings Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei Überprüfbarkeit der fachgerichtlichen Zwischenentscheidung in der Rechtsmittelinstanz
Normen
Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 60 Abs 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 42 Abs 1 ZPO, § 42 Abs 2 ZPO
Vorinstanz
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 26. August 2024, Az: L 13 SF 291/23 AB, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
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Der Antrag auf Erstattung der Auslagen wird abgelehnt, da die Voraussetzungen des § 34a Abs. 2 oder Abs. 3 BVerfGG nicht vorliegen.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine erfolglose Richterablehnung in einem noch laufenden Verfahren vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen.
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1. Der Beschwerdeführer begehrt einen früheren Beginn von Berufsschadensausgleichsleistungen nach dem Soldatenversorgungs- beziehungsweise Bundesversorgungsgesetz (SVG/BVG). Im Rahmen des nach Abweisung der Klage durch das Sozialgericht Gelsenkirchen betriebenen Berufungsverfahrens hat der berichterstattende Richter den Beschwerdeführer in insgesamt drei Schreiben und einem Erörterungstermin aufgefordert, seine Klage zurückzunehmen, und bat parallel in zwei Schreiben um die Zustimmung zu einer Entscheidung als Einzelrichter. Nach Weigerung des Beschwerdeführers, diesen Aufforderungen nachzukommen, äußerte sich der Richter dahingehend: "lesen Sie § 103, 106, 106a SGG: 'die Beteiligten sind heranzuziehen'. Noch Fragen? Frist: 1 Woche". Mangels weiterer Reaktion des Beschwerdeführers hat er wenig später wie folgt ergänzt: "… Es ergeht folgender Hinweis an alle Beteiligte: Die Klage hat nach jetzigem Beweisergebnis keine Aussicht auf Erfolg und sollte zurückgenommen werden - auch zur Vermeidung von Weiterungen, da sich die Frage - zunehmend - stellt, ob der Kläger wahrheitsgemäß vorträgt (versuchter Betrug?)." Der Beschwerdeführer hat den Berichterstatter daraufhin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das zuletzt ergangene Schreiben habe die Grenze zur widerrechtlichen Drohung zur Erzwingung von Prozesshandlungen überschritten.
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Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschluss hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen den Antrag zurückgewiesen. Eine Drohung liege nicht vor, dem Beschwerdeführer sei nach vorläufiger Prüfung lediglich ein "mahnender Hinweis auf dessen prozessuale Wahrheitspflicht" erteilt worden.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Er beruft sich für die Zulässigkeit seiner Verfassungsbeschwerde auf Entscheidungen des Bundessozial-, des Bundesarbeits- und des Bundesverwaltungsgerichts. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Zwischenentscheidung des Landessozialgerichts sei danach zulässig, da die Entscheidung weder mit der Beschwerde angreifbar noch revisibel sei.
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3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil keine Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil die maßgeblichen Fragen in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sind. Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte anzunehmen, da sie unzulässig ist und damit keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>).
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1. Eine Beschwerdebefugnis in Gestalt der Verletzung von Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG hat der Beschwerdeführer allerdings hinreichend substantiiert dargelegt.
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a) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 21, 139 145 f.>; 30, 149 153>; 82, 286 298>; 89, 28 36>). Daher kann in einer fehlerhaften Entscheidung über die Zurückweisung eines zulässigen und begründeten Ablehnungsgesuchs ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegen. Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung liegt aber erst dann vor, wenn die Auslegung des einfachen Rechts oder seine Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286 299>). Eine Besorgnis der Befangenheit ist dann gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 82, 30 38>) beziehungsweise der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität besteht (vgl. BVerfGE 46, 34 41>).
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b) Dies zugrunde gelegt hat der Beschwerdeführer die Möglichkeit der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG substantiiert gerügt. Indem das Landessozialgericht maßgeblich auf das Recht und die Pflicht des Richters zur Erteilung von Hinweisen nach § 139 ZPO abgestellt hat, hat es grob verkannt, dass die Verknüpfung der Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen vergangenen Verhaltens mit der begehrten Klagerücknahme und die zahlreichen vorausgehenden erfolglosen Bemühungen, den Beschwerdeführer zur Klagerücknahme zu bewegen, ausreichende Anhaltspunkte für die Besorgnis einer einseitigen Verfahrensführung erkennen lassen.
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2. Die gegen die Zwischenentscheidung des Landessozialgerichts über die Ablehnung des berichterstattenden Richters gerichtete Verfassungsbeschwerde ist allerdings unzulässig, weil ihr der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegensteht.
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a) Nach dem in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG angelegten und in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität hat ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 112, 50 60>; vgl. auch BVerfGE 145, 20 54>; 150, 309326>). Gerichtliche Entscheidungen, die der Entscheidung in der Sache vorausgehen, können daher grundsätzlich nicht selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, sofern diese nicht zu einem bleibenden rechtlichen Nachteil für den Betroffenen führen, der später nicht oder jedenfalls nicht vollständig behoben werden kann (vgl. BVerfGE 21, 139 143>). Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie Bindungswirkung für das weitere Verfahren entfalten, über eine wesentliche Rechtsfrage abschließend befinden und in weiteren Instanzen nicht mehr nachgeprüft und korrigiert werden können (vgl. BVerfGE 24, 56 60 f.>; 119, 292 294>).
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b) Der angegriffene Beschluss über das Ablehnungsgesuch ist eine solche Zwischenentscheidung, bei der allerdings die Möglichkeit der Nachprüfung in einem eingeschränkten Umfang im Rahmen der Verfahrensrüge gemäß §§ 160a Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG in der Revisionsinstanz besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2023 - 1 BvR 2221/22 -). Eine Unzumutbarkeit, den Ausgang der Hauptsache abzuwarten, wurde vom Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt. Ein Verhandeln vor einem mutmaßlich befangenen Richter begründet für sich allein keine Unzumutbarkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 2017 - 1 BvR 1904/17 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2023 - 1 BvR 2221/22 -).
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3. Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen hat keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen nach § 34a Abs. 3 BVerfGG nicht vorliegen. Eine Erstattung entspricht hier nicht der Billigkeit, weil die Verfassungsbeschwerde vom Zeitpunkt ihrer Einlegung an unzulässig war (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2022 - 1 BvR 828/21 -, Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Oktober 2024 - 1 BvR 770/24 -, Rn. 11).
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4. Von einer weiteren Begründung der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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