Darüber hinaus ergeben auch die Aussagen zu Entwicklung und Funktion des nationalsozialistischen Ghettos in der aktuellen historischen Fachliteratur ein heterogenes Bild. Nach Benz wurden Ghettos zunächst in rudimentärer Gestalt der "Judenhäuser" im Deutschen Reich, dann als Orte der Konzentration jüdischer Bevölkerung im eroberten Polen errichtet. Sie hätten der Internierung, Ausbeutung und Vernichtung gedient und seien oft Plätze von Massakern gewesen. Zugleich hätten sie als Arbeitskräftereservoir und Produktionsstätten für die Rüstung fungiert (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24 und 28; zur Arbeitskräfteausbeutung vgl auch Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLVI). Ökonomische Gründe wie die Ausbeutung der Arbeitskraft hätten dabei im Widerstreit mit den ideologischen Zielen der Verelendung, gezielter Deportation und, dies betont Benz, schließlich der Vernichtung gestanden (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24), selbst wenn sich ihre Zweckrationalität oft erst in der Rückschau erschließe (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24; vgl auch Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Bd I, 1989, 535, Stichwort Ghetto). Obwohl mindestens die Hälfte aller ermordeten Juden Europas eine Zeit lang unfreiwillig in einem Ghetto lebte (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 35; Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 41; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 185), begegnet die Interpretation der Errichtung von Ghettos als allgemeines Phänomen einer vorbereitenden Phase der totalen Vernichtung jedoch auch Kritik (vgl Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 29; Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 184). Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die Shoa das Ergebnis eines offenen historischen Prozesses gewesen sei (Zarusky, Gutachten für das SG Lübeck in dem Rechtsstreit S 21 R 381/13 - beim BSG anhängig unter B 13 R 4/20 R - S 5 unter Bezug auf Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 1990, Bd 1, 56). So habe sich der Vernichtungsprozess zwar nach einem feststehenden Schema entfaltet, gleichwohl sei er aber keinem grundlegenden Plan entsprungen. 1933 habe kein Bürokrat voraussagen können, welche Art von Maßnahmen man 1938 ergreifen würde, noch sei es 1938 möglich gewesen, den Ablauf des Geschehens im Jahr 1942 vorauszusehen. Der Vernichtungsprozess sei eine Schritt für Schritt erfolgende Operation gewesen und der beteiligte Beamte habe selten mehr als den jeweils folgenden Schritt überschauen können (Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 9. Aufl 1999, Bd 1, 56).