BVerfG 17.07.2013 - 1 BvR 3167/08 - Stattgebender Kammerbeschluss: Zum Ausgleich zwischen dem Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherungsnehmers einerseits und des Offenbarungsinteresses des Versicherungsunternehmens andererseits - hier: Berufsunfähigkeitsversicherung - Obliegenheit des Versicherungsnehmers zu Schweigepflichtentbindungen im Leistungsfall - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Artikel 1, Artikel 2, Artikel 12, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 213
Vorinstanz
vorgehend OLG Nürnberg, 2. Oktober 2008, Az: 8 U 1300/08, Beschluss
vorgehend LG Nürnberg-Fürth, 26. Mai 2008, Az: 11 O 9725/07, Urteil
Tenor
1. Das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26. Mai 2008 - 11 O
9725/07 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 2. Oktober
2008 - 8 U 1300/08 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht
aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des
Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die im
Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu
erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten:
fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
- 1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Datenschutz im privaten
Versicherungsrecht. Sie wendet sich gegen versicherungsvertragliche
Obliegenheiten bei der Feststellung des Versicherungsfalls.
- 2
1. Die Beschwerdeführerin schloss mit der Beklagten des
Ausgangsverfahrens, einem Lebensversicherungsunternehmen, einen Vertrag über
eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Die dem Vertrag zugrunde liegenden
Tarifbedingungen enthielten unter anderem die folgende Bestimmung:
- 3
"§ 5 Welche Mitwirkungspflichten sind zu beachten, wenn
Leistungen verlangt werden? |
(1) […] |
(3) Bei Berufsunfähigkeit der versicherten Person sind zusätzlich
einzureichen: […] |
b) ausführliche Berichte der Ärzte, die die versicherte Person
gegenwärtig behandeln bzw. behandelt oder untersucht haben, über
Ursache, Beginn, Art, Verlauf und voraussichtliche Dauer des
Leidens sowie über den Grad der Berufsunfähigkeit bzw. bei
Berufsunfähigkeit infolge Pflegebedürftigkeit über Art und
Umfang der Pflegebedürftigkeit; […] |
(4) Wir können außerdem - allerdings auf unsere Kosten - weitere
ärztliche Untersuchungen durch von uns beauftragte Ärzte sowie
notwendige Nachweise - auch über die wirtschaftlichen
Verhältnisse und ihre Veränderungen - verlangen, insbesondere
zusätzliche Auskünfte und Aufklärungen. |
Die versicherte Person hat Ärzte, Krankenhäuser und sonstige
Krankenanstalten sowie Alten- und Pflegeheime, bei denen sie in
Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen,
andere Personenversicherer und Behörden zu ermächtigen, uns auf
Verlangen Auskunft zu erteilen." |
- 4
Die Beschwerdeführerin machte gegenüber der Beklagten Ansprüche
wegen eingetretener Berufsunfähigkeit aufgrund von Depressionen geltend. Die
auf dem Antragsformular der Beklagten vorgedruckte
Schweigepflichtentbindungserklärung, die eine Ermächtigung zur Einholung
sachdienlicher Auskünfte bei einem weiten Kreis von Auskunftsstellen
enthielt, strich die Beschwerdeführerin durch und unterschrieb das
Antragsformular nur im Übrigen. Anschließend korrespondierten die Beklagte
und die Beschwerdeführerin mehrfach über eine Schweigepflichtentbindung. Die
Beschwerdeführerin erklärte sich durch ihren damaligen Rechtsanwalt zur
Erteilung von Einzelermächtigungen bereit. Daraufhin übersandte die Beklagte
ihr folgende, vorformulierte Erklärungen zur Schweigepflichtentbindung ihrer
Krankenkasse, zweier Ärztinnen sowie der Deutschen Rentenversicherung Bund:
- 5
"Im Zusammenhang mit meinem Antrag auf
Berufsunfähigkeitsleistungen gebe ich ausdrücklich mein Einverständnis,
dass [die Krankenkasse beziehungsweise die jeweilige Ärztin] der
[Beklagten] umfassend anhand der vorliegenden Unterlagen über meine
Gesundheitsverhältnisse, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Behandlungsdaten
Auskunft erteilt. […]"
- 6
Die Erklärung hinsichtlich der Deutschen Rentenversicherung Bund
lautete:
- 7
"Im Zusammenhang mit meinem Antrag auf
Berufsunfähigkeitsleistungen gebe ich ausdrücklich mein Einverständnis,
dass die Deutsche Rentenversicherung Bund […] der [Beklagten] umfassend
über meine Gesundheitsverhältnisse, bzw. über meine berufliche Situation
Auskunft erteilt.
Ich ermächtige den o.g. Sozialversicherungsträger, gemäß § 67 b SGB
X alle vorliegenden
medizinischen Gutachten und Berichte der [Beklagten] in
Kopie zur Verfügung zu stellen. […]" (Hervorhebung im Original)
- 8
Die Beklagte forderte von der Beschwerdeführerin für die
Mehrkosten im Zusammenhang mit den Einzelermächtigungen eine
Kostenbeteiligung in Höhe von 20 Euro je Ermächtigung. Der Leistungsantrag
werde nach Eingang der Ermächtigungen und des Gesamtbetrages weiter
bearbeitet. Die Beschwerdeführerin bat um Konkretisierung der gewünschten
Auskünfte. Dem kam die Beklagte nicht nach; der Leistungsantrag könne erst
nach Erhalt der unterschriebenen Schweigepflichtentbindungen sowie des
geforderten Betrages weiter bearbeitet werden.
- 9
Die Beschwerdeführerin klagte auf Zahlung der monatlichen Rente
aus der Versicherung.
- 10
2. Das Landgericht wies die Klage ab. Die Beschwerdeführerin
sei der ihr zumutbaren Obliegenheit der Vorlage beziehungsweise der
Ermöglichung der Vorlage im Hinblick auf ärztliche Unterlagen zum
behaupteten Versicherungsfall schuldhaft nicht nachgekommen. Daher sei die
Beklagte leistungsfrei. Der Beschwerdeführerin habe das Recht zugestanden,
die allgemeine Schweigepflichtentbindung im Rahmen des schriftlichen
Leistungsantragsformulars nicht zu unterzeichnen. Spätestens durch Zusendung
der Einzelermächtigungsformulare sei klar gewesen, dass die Beklagte weitere
Auskünfte für erforderlich hielt. Selbst wenn der inhaltliche Umfang der
Einzelermächtigungen zu weit gefasst sein sollte, habe es gleichwohl der
Beschwerdeführerin oblegen, dem von ihr erkannten Interesse der Beklagten an
Auskünften nachzukommen.
- 11
3. Das Oberlandesgericht wies die Berufung mit angegriffenem
Beschluss zurück. Richtigerweise habe das Landgericht offengelassen, ob die
Beschwerdeführerin zur Zahlung der von der Beklagten für die Bearbeitung
geforderten Kostenpauschale und zur uneingeschränkten Abgabe der
Einzelermächtigungen verpflichtet gewesen sei.
- 12
Die Beklagte habe der Beschwerdeführerin mit der Übersendung
der vorbereiteten Einzelermächtigungen eine Möglichkeit geboten, ihre
informationelle Selbstbestimmung zu wahren und zugleich ihrer
Mitwirkungspflicht nachzukommen. Es sei zumutbar gewesen, zur Erhaltung
ihres Leistungsanspruchs die Einzelermächtigungen, wenn sie ihr noch zu
weitgehend erschienen seien, entsprechend - etwa durch Streichung des Wortes
"umfassend" oder auch in zeitlicher Hinsicht - einzuschränken und dann
unterzeichnet zurückzusenden, oder die in den Einzelermächtigungen genannten
Unterlagen selbst zu beschaffen und der Beklagten in dem Umfang zur
Verfügung zu stellen, in dem sie hierzu bereit gewesen wäre. In beiden
Fällen wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, auch mit den auf dieser
eingeschränkten Basis zur Verfügung stehenden Unterlagen ihre
Leistungsprüfung fortzusetzen, und hätte sich nicht einfach auf eine
Verletzung der Mitwirkungspflicht berufen können. Die Beschwerdeführerin
habe keinen Anspruch, dass die Beklagte immer neue Entwürfe vorlege, solange
sie selbst nicht klar mache, in welchen Punkten ihr die erbetene Vollmacht
zu weit gehe. An die Konkretisierung des Auskunftsersuchens des Versicherers
seien - jedenfalls solange dieser keine Kenntnis habe, welche Unterlagen bei
den jeweiligen Auskunftsstellen vorlägen - keine hohen Anforderungen zu
stellen.
- 13
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin
die Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Der Schutz dieses Grundrechts
werde ausgehöhlt, wenn der Versicherungsnehmer zur Beschaffung von Antworten
auf ihm nicht bekannte Fragen des Versicherers verpflichtet sei. Dies würde
dazu führen, dass der Versicherte vom Versicherer vorgelegte
verfassungswidrige Ermächtigungen unterschreiben würde, nur um den
Versicherungsschutz nicht zu verlieren. Ein Anspruch auf Abgabe einer
umfassenden Schweigepflichtentbindungserklärung sei nur dann
verfassungsgemäß, wenn dem Versicherten zumindest ein weiterer Weg angeboten
werde, der die durch die Schweigepflichtentbindung ermöglichten Auskünfte im
Einzelfall konkret beschreibe. Die vier von der Beklagten vorgelegten
Erklärungen seien pauschale Entbindungen von der Schweigepflicht ohne
Möglichkeit zum Selbstschutz für die Beschwerdeführerin gewesen.
- 14
5. Das Bayerische Staatsministerium für Justiz und
Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Beklagte hält
die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, da der Beschwerdeführerin die
Möglichkeit eingeräumt worden sei, nur einzelne Adressaten von der
Schweigepflicht zu befreien. Eine weitergehende Einschränkung der
Schweigepflichtentbindung sei nicht möglich, weil sie zum Schutz vor
missbräuchlicher Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen prüfen müsse,
ob die Beschwerdeführerin schon bei Vertragsschluss berufsunfähig gewesen
sei und die Gesundheitsfragen richtig beantwortet habe.
II.
- 15
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an
und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur
Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen der Privatrechtswirkung des
Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE 84, 192 ff.) und
der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Inhaltskontrolle von Verträgen
(vgl. BVerfGE 81, 242 ff.; 89, 214 ff.; 103, 89 ff.) hat das
Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige
Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG
offensichtlich begründet.
- 16
1. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des
Oberlandesgerichts verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen
Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen
Selbstbestimmung.
- 17
a) Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre
Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der
Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen (vgl.
BVerfGE 7, 198 205 f.>; 42, 143 148>; 103, 89 100>).
Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und
Anwendung des einfachen Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu
konkretisieren. Ihrer Beurteilung und Abwägung von Grundrechtspositionen im
Verhältnis zueinander kann das Bundesverfassungsgericht nur dann
entgegentreten, wenn eine angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler
erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der
Bedeutung eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 93>; 42, 143
148 f.>; 54, 148 151 f.>; BVerfGK 9, 353 357 f.>;
stRspr).
- 18
b) Die angegriffenen Entscheidungen sind an der aus Art. 2 Abs.
1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Pflicht der staatlichen
Gewalt zu messen, dem Individuum eine informationelle Selbstbestimmung im
Verhältnis zu Dritten zu ermöglichen.
- 19
aa) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Befugnis
des Individuums, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten
- hier seiner Gesundheitsdaten - selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1
43>; 84, 192 194>). Dieses Recht entfaltet als objektive Norm
seinen Rechtsgehalt auch im Privatrecht und strahlt so auf die Auslegung und
Anwendung privatrechtlicher Vorschriften aus (BVerfGE 84, 192 194
f.>). Verkennt ein Gericht, das eine privatrechtliche Streitigkeit
entscheidet, in grundsätzlicher Weise den Schutzgehalt des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts, verletzt es durch sein Urteil das Grundrecht des
Bürgers in seiner Funktion als Schutznorm (vgl. BVerfGE 84, 192
195>).
- 20
Die aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgende
Schutzpflicht gebietet es, dafür Sorge zu tragen, dass informationeller
Selbstschutz für Einzelne tatsächlich möglich ist. Zwar steht es dem
Individuum frei, Daten anderen gegenüber zu offenbaren oder sich vertraglich
dazu zu verpflichten. Hat aber in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein
solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen
kann, so ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der
Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu
verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine
Fremdbestimmung verkehrt (vgl. BVerfGE 103, 89 100 f.>; 114, 1
34>; BVerfGK 9, 353 358 f.>).
- 21
bb) Das Grundgesetz gibt eine konkrete Ausgestaltung des
Schutzes der informationellen Selbstbestimmung nicht vor. Der Gesetzgeber
hat mit dem Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.
November 2007 (BGBl I S. 2631) in § 213 VVG den Schutz der informationellen
Selbstbestimmung der Versicherungsnehmerinnen und -nehmer geregelt. Diese
Regelung findet gemäß Art. 1 Abs. 2 EGVVG jedoch keine Anwendung, wenn ein
Versicherungsfall - wie hier - vor dem 31. Dezember 2008 eingetreten ist. In
diesen Fällen obliegt es allein den Gerichten, bei der Gesetzes- und
Vertragsauslegung einen wirksamen Schutz der informationellen
Selbstbestimmung zu gewährleisten, indem sie prüfen, wie das Interesse der
Versicherten an wirkungsvollem informationellem Selbstschutz und das in der
von Art. 12 GG geschützten Vertragsfreiheit wurzelnde Offenbarungsinteresse
des Versicherungsunternehmens, in einen angemessenen Ausgleich gebracht
werden können.
- 22
Eines Ausgleichs bedarf es hierbei insbesondere hinsichtlich
der Frage, wie die für die Beurteilung der Leistungspflicht erforderlichen
Informationen eingegrenzt werden können. Das Versicherungsunternehmen muss
einerseits den Eintritt des Versicherungsfalls prüfen können, dabei muss
anderseits aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür
Erforderliche begrenzt bleiben. Allerdings ist es dem Versicherer oft nicht
möglich, im Voraus alle Informationen zu beschreiben, auf die es für die
Überprüfung ankommen kann. Auch wenn die für die Prüfung benötigten
Auskünfte begrenzt sein können, lassen sich diese zum Teil erst dann
bestimmen, wenn der Versicherer zunächst einen Überblick über die insgesamt
in Betracht kommenden Informationsquellen und damit weiterreichende
Informationen erlangt hat. In einer solchen Situation wird das
verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau unterschritten, wenn die Gerichte
den Versicherungsvertrag so auslegen, dass die Versicherten eine
Obliegenheit trifft, eine umfassende Schweigepflichtentbindung abzugeben,
die es dem Versicherungsunternehmen ermöglicht, "sachdienliche Auskünfte"
bei einem nicht konkret bestimmten Personenkreis von Ärzten, Krankenhäusern,
Krankenkassen, Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungsträgern,
Behörden und Arbeitgebern einzuholen (vgl. BVerfGK 9, 353 362 ff.>).
Bestehen wie im vorliegenden Fall keine ausdrücklichen gesetzlichen
Regelungen über den informationellen Selbstschutz, kann es zur
Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen
Grundrechtspositionen geboten sein, eine verfahrensrechtliche Lösung zu
suchen. Denkbar wäre insoweit die Anerkennung von Kooperationspflichten, die
sicherstellen, dass Versicherte und Versicherung im Dialog ermitteln, welche
Daten zur Abwicklung des Versicherungsfalls erforderlich sind. Die
Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und Vorgaben für seine
Ausgestaltung zu machen, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte.
- 23
c) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Schutz
der informationellen Selbstbestimmung genügen die angegriffenen
Entscheidungen nicht.
- 24
aa) Zwischen der Beschwerdeführerin und der Beklagten bestand
bei Abschluss des Versicherungsvertrags ein Verhandlungsungleichgewicht, das
es der Beschwerdeführerin nicht ermöglichte, ihren informationellen
Selbstschutz eigenverantwortlich und selbständig sicherzustellen.
- 25
Deshalb oblag hier den Gerichten die Gewährleistung eines
wirksamen Schutzes der informationellen Selbstbestimmung. Die
Vertragsbedingungen der Versicherer sind - jedenfalls hinsichtlich der
datenschutzrechtlichen Konditionen - praktisch nicht verhandelbar (BVerfGK
9, 353 360>; vgl. - für die Lebensversicherung - BVerfGE 114, 73
95>). Versicherte einer Berufsunfähigkeitsversicherung können nicht
auf die Möglichkeit verwiesen werden, um des informationellen Selbstschutzes
willen einen Vertragsschluss zu unterlassen oder die Leistungsfreiheit des
Versicherers hinzunehmen. Berufstätige sind vielfach darauf angewiesen, für
den Fall der Berufsunfähigkeit durch Abschluss eines entsprechenden
Versicherungsvertrags vorzusorgen, um ihren Lebensstandard zu sichern.
- 26
bb) Den danach sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen
an einen hinreichenden Ausgleich zwischen den betroffenen
Grundrechtspositionen, dem Interesse an informationellem Selbstschutz
einerseits und dem in der Berufsfreiheit wurzelnden Interesse an der
Offenlegung von Informationen andererseits, werden die angegriffenen
Entscheidungen nicht gerecht. Sie tragen den Belangen der Beschwerdeführerin
nicht hinreichend Rechnung.
- 27
(1) Durch die von den vorformulierten Einzelermächtigungen
vorgesehene Entbindung von der Schweigepflicht würde der Beklagten
ermöglicht, auch über das für die Abwicklung des Versicherungsfalls
erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang sensible Informationen über die
Beschwerdeführerin einzuholen. Dies trifft die Belange der
Beschwerdeführerin erheblich, weil sich die Daten auf detaillierte Angaben
zu ihrer Gesundheit und den ärztlichen Behandlungen, also auf Angaben
höchstpersönlicher Natur beziehen. Zwar werden in den Einzelermächtigungen
vier Auskunftsstellen benannt. Aus den Einzelermächtigungen war jedoch nicht
ansatzweise erkennbar, welche konkreten Informationen die Beklagte zur
Prüfung des Versicherungsfalls benötigt. Die benannten Auskunftsgegenstände
- etwa "Gesundheitsverhältnisse, Arbeitsunfähigkeitszeiten und
Behandlungsdaten" - sind so allgemein gehalten, dass sie kaum zu einer
Begrenzung des Auskunftsumfangs führen. Erfasst werden nahezu alle bei den
benannten Auskunftsstellen über die Beschwerdeführerin vorliegenden
Informationen. Die Weite der erfassten Auskunftsgegenstände wird durch die
Verwendung des Wortes "umfassend" in den vorformulierten Erklärungen
unterstrichen. Die Formulierung der Einzelermächtigungen umfasst damit auch
Informationen, die für die Abwicklung des Versicherungsfalles bedeutungslos
sind. So liegen schon der Krankenkasse regelmäßig Informationen über
praktisch jeden Arztbesuch und Krankenhausaufenthalt der versicherten Person
vor, so dass bereits insoweit annähernd alle Angaben über die
Gesundheitsverhältnisse und Behandlungsdaten erfasst sind. Dass diese nicht
in ihrer Gänze für die Bearbeitung des Versicherungsfalles von Bedeutung
sind, liegt auf der Hand.
- 28
(2) Die Beschwerdeführerin kann nicht, wie es die angegriffenen
Entscheidungen als ausreichend ansehen, auf die Möglichkeit verwiesen
werden, die vorformulierten Einzelermächtigungen selbst zu modifizieren oder
die erforderlichen Unterlagen eigenständig vorzulegen. Zwar haben die
erkennenden Gerichte damit der Beschwerdeführerin eine
Mitwirkungsmöglichkeit zuerkannt. Jedoch erlegen sie damit der
Beschwerdeführerin auf, die Interessen der Gegenpartei zu erforschen und
belasten sie für den Fall, dass die vorgelegten Unterlagen oder die
modifizierten Ermächtigungen für unzureichend erachtet würden, in nicht
tragbarer Weise mit dem Risiko eines Verlusts des Leistungsanspruchs. Dieser
Weg ist nicht geeignet, den informationellen Selbstschutz der
Beschwerdeführerin im Dialog mit dem Versicherungsunternehmen zu
gewährleisten. Die vorprozessuale anwaltliche Vertretung der
Beschwerdeführerin ändert daran nichts, weil auch die Möglichkeit
anwaltlicher Beratung nicht das Risiko beseitigt, dem die Beschwerdeführerin
ausgesetzt ist.
- 29
(3) Die angegriffenen Entscheidungen lassen beim Ausgleich der
sich gegenüberstehenden Grundrechtspositionen unberücksichtigt, dass es dem
Schutz der Beschwerdeführerin möglicherweise erheblich dienen kann, die
Beklagte aber nicht unverhältnismäßig belasten muss, wenn von ihr eine
weitere Einschränkung der geforderten Einzelermächtigungen verlangt wird.
Zwar kann der Umfang der Einzelermächtigungen dabei nicht vornherein schon
auf die für die Prüfung des Leistungsanspruchs relevanten Informationen
begrenzt werden, weil dem Versicherer zunächst selbst noch nicht bekannt
ist, welche dies sind. Jedoch ließe sich in Betracht ziehen, die von den
Einzelermächtigungen umfassten Informationen etwa zunächst auf solche
weniger weitreichenden und persönlichkeitsrelevanten Vorinformationen zu
beschränken, die ausreichen, um festzustellen, welche Informationen
tatsächlich für die Prüfung des Leistungsfalls relevant sind. Eine zumindest
grobe Konkretisierung der Auskunftsgegenstände könnte so den erheblichen
Umfang der durch die Einzelermächtigungen zugänglichen, überschießenden
Informationen begrenzen und damit dem Recht der Beschwerdeführerin auf
informationelle Selbstbestimmung Rechnung tragen. Die Verfahrenseffizienz
würde durch eine solche Konkretisierung der Auskunftsgegenstände nur
geringfügig beeinträchtigt. Angesichts des Umfangs der bei der Krankenkasse
der Beschwerdeführerin und der Deutschen Rentenversicherung Bund
vorliegenden Unterlagen ist es ohnehin wahrscheinlich, dass die Beklagte den
Auskunftsgegenstand im Rahmen einer Anfrage an diese präziser formulieren
würde als in den Einzelermächtigungen.
- 30
2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem
Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte
zu einem anderen Ergebnis gelangt wären, wenn sie das durch Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine
Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen
Selbstbestimmung bei der Auslegung und Anwendung der streitentscheidenden
Vorschriften des Privatrechts zutreffend berücksichtigt hätten.
- 31
3. Der Verfassungsbeschwerde ist danach stattzugeben und die
Grundrechtsverletzung festzustellen (§ 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die
angegriffenen Entscheidungen sind aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG) und die
Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
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4. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die
notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 34a Abs. 2
BVerfGG zu erstatten.
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5. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen
Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz
2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 366 ff.>).