Corona-Hotspots früher aufspüren – mit Geodaten
Während der Hochphasen der Pandemie kamen die Gesundheitsämter mit der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Ein Hotspot-Frühwarnsystem könnte künftig helfen, Ausbrüche rascher einzudämmen. Einen Prototyp dafür hat Geodatenanalyst Dr. Boris Kauhl von der AOK Nordost entwickelt.
Im Oktober 2020 macht Berlin-Neukölln bundesweit Schlagzeilen, wird Thema in den "tagesthemen" und im "heute journal": Der Grund: Die Inzidenz steigt auf über 300, der Bezirk wird zum heißesten „Corona-Hotspot“ der Republik.
Im Neuköllner Gesundheitsamt stehen sie vor der Aufgabe, die Kontakte von täglich über 150 Neu-Infizierten nachzuverfolgen und in Quarantäne zu schicken. Der Sprecher des Bezirks gesteht in der BZ: „Bei der Masse der Infektionen kommen wir nicht mehr hinterher. Wir sind zwei Tage im Rückstand.“ Es bleibt nur der harte Lockdown, um die unkontrollierte Verbreitung des Virus zu stoppen.
Das Feuer austreten – bevor ein Flächenbrand daraus wird
Doch hätte die Pandemiebekämpfung nicht effizienter laufen können? Bevor der gesamte Bezirk Neukölln zum Corona-Flächenbrandgebiet wurde, loderten die Feuer der Ausbrüche in kleineren Ortsteilen auf. Mit einem automatisierten Hotspot-Frühwarnsystem hätte das Neuköllner Gesundheitsamt sich stärker auf diese Schwelbrände konzentrieren – und die Ausbreitung vielleicht effizienter eindämmen können.
Dass ein Corona-Frühwarnsystem technisch möglich und sinnvoll ist, hat der Geodatenanalyst Dr. Boris Kauhl von der AOK Nordost gezeigt – mit einem Prototyp, der in der Fachwelt große Beachtung gefunden hat. Die Gesundheitsministerien Brandenburgs und des Saarlandes ließen sich die Blaupause für ein „Corona-Frühwarnystem“ erklären und bekundeten ihr Interesse daran. Ebenso das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung. Und ein Technologiehersteller prüft derzeit, die Idee mit einer Software praxistauglich und damit für Gesundheitsämter in ganz Deutschland verfügbar zu machen.
„In der Corona-Pandemie haben Länder wie Südkorea vorgemacht, dass sich mit innovativer Technologie die Ausbreitung von Covid-19 effektiver eindämmen lässt. Als Gesundheitskasse nutzen wir ebenfalls seit Jahren ausgeklügelte Datenanalysen. Deshalb wollten wir einen Beitrag zur deutschen Pandemiebekämpfung leisten“, erläutert Boris Kauhl seine Motivation für das Projekt.
Spezialwissen, um Versorgung effizienter planen zu können
Seine Fähigkeiten, diese innovative Lösung umzusetzen, erwarb der 36-Jährige während seines Studiums der Geographie an der Universität Maastricht. Er spezialisierte sich auf Geographische Informationssysteme (GIS) im Gesundheitswesen, promovierte über den Nutzen von GIS für Präventionsstrategien und die Planung von Gesundheitseinrichtungen.
Seit 2015 erstellt er bei der AOK Nordost regionale GIS-Analysen. Und fand damit zum Beispiel heraus, dass Pendler:innen, die im Speckgürtel von Berlin wohnen, häufiger an Bluthochdruck leiden, weil sie häufiger Stress ausgesetzt sind. Nicht nur Dr. Kauhl, auch weitere Datenanalyst:innen erstellen bei der Gesundheitskasse solche Analysen. Sie liefern detailliertes Wissen, damit die AOK Nordost gemeinsam mit Partnern im Gesundheitswesen Versorgungsangebote effizienter planen kann.
Die Infektionsdynamik wird so plastisch wie in einem Strömungsfilm
Für das Corona-Frühwarnsystem analysierte Boris Kauhl konkret, wo die AOK-Versicherten wohnen, die wegen einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus behandelt werden mussten – und wann genau sie dort behandelt wurden. Mit diesen anonymisierten Daten erstellte er kleinräumig aufgelöste, animierte Karten. Ähnlich wie bei einem Strömungsfilm im Wetterbericht lässt sich damit nachverfolgen, wo die "dunklen Wolken" der Krankenhaus-Einweisungen zuerst aufpoppten – und wie sich die Pandemie Tag für Tag räumlich ausbreitete.
Mit seinem System ermöglicht Kauhl allerdings nur eine Rückschau der Infektionsdynamik, denn die Abrechnungsdaten stehen den Krankenkassen nur mit zeitlichem Verzug zur Verfügung. Doch es wäre möglich, die GIS-Karten mit tagesaktuellen Daten aller Gesundheitsämter zu befüllen – und zwar für alle positiv auf Covid-19 getestete Personen.
Vor dem Hotspot Neukölln stand der Hotspot Hasenheide
Hätten die Kontaktnachverfolger:innen im Neuköllner Gesundheitsamt eine solche bezirksübergreifende animierte Karte der Infektionsfälle zur Verfügung gehabt, dann hätten sie wohl gesehen: "Wir haben rund um den Volkspark Hasenheide ein Problem – hier sollten wir die Kontaktpersonen der Infizierten als erstes ermitteln und in Quarantäne schicken."
In diesem Viertel – das zeigt sich im Nachhinein in der AOK-Analyse - wurden von März 2020 bis Januar 2021 mehr als 800 von 100.000 AOK-Versicherten wegen einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus behandelt. Wenige Kilometer weiter, in der Jahnstraße im nördlichen Britz, kamen dagegen weniger als 400 von 100.000 AOK-Versicherten ins Krankenhaus – nicht einmal halb so viele.
Einen Dengue-Fieber-Ausbruch konnte Kauhl schon korrekt prognostizieren
Theoretisch wäre es auch möglich, das Frühwarnsystem mit Daten der Notrufhotline oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zu füttern. Dann könnte es schon Alarm schlagen, wenn sich in einem Ortsteil die Zahl der Anrufenden häuft, die Symptome für eine Covid-19-Erkrankung schildern. Solch ein System würde die Gesundheitsämter vorwarnen - noch bevor die Zahl der positiven Tests in die Höhe schnellt.
Dass so etwas funktioniert, hat Boris Kauhl schon 2010 während seiner Tätigkeit an der Universität Maastricht bewiesen. Mittels einer raumzeitlichen Auswertung von Notrufdaten konnten er und sein Team einen Dengue-Fieber-Ausbruch in Indien detektieren – 17 Tage bevor über einen Anstieg laborbestätigter Fälle in der Region berichtet wurde.
Die Datenanalysen bieten auch über die Corona-Pandemie hinaus ungeahnte Möglichkeiten, besser zu verstehen, was die Versicherten brauchen, um gesund zu werden – und gesund zu bleiben. Boris Kauhl und die anderen Datenanalysten der AOK Nordost setzen diese Möglichkeiten in die Praxis um - Tag für Tag.
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