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Wenn Kinder unter der Sucht ihrer Eltern leiden
Veröffentlicht am:23.07.2024
5 Minuten Lesedauer
Ist ein Elternteil suchterkrankt, kann das gravierende Folgen für die Kinder haben. Manchmal merken diese erst spät im Erwachsenenleben, woher ihre Probleme kommen.
Wutanfälle gehörten zum Alltag
Katrins* Kindheit ist geprägt von der Sucht ihres Vaters. Er ist schwer alkoholabhängig und aggressiv. Als Frührentner ist er ständig zu Hause, sie und ihre jüngere Schwester können ihm kaum aus dem Weg gehen. Er lässt seine Wut an der Kücheneinrichtung, am Fernseher oder an den Türen aus. Permanent sei sie auf der Hut gewesen, erinnert sich Katrin, die heute 58 Jahre alt ist. „Ich rechnete jederzeit damit, eine gepfeffert zu kriegen.“
Als die Bremerin 14 Jahre alt ist, trennen sich die Eltern. „Ab da haben meine Mutter und meine Schwester den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen“, berichtet sie. Sie selbst habe sich jedoch weiterhin zwei Jahrzehnte bis zum Tod des Vaters für ihn verantwortlich gefühlt. „Ich habe seine Wohnung sauber gemacht, für ihn eingekauft.“ Als der Vater stirbt, löst Katrin seine Wohnung auf – hochschwanger und ganz allein. „Ich fand es normal, dass mir keiner hilft“, sagt sie im Rückblick.
Kinder aus Suchtfamilien überfordern sich häufig
Solche Sicht- und Verhaltensweisen wie die von Katrin kennt Edith Hatesuer gut. Seit mehr als 20 Jahren ist sie in Bremen als Suchtberaterin tätig; zudem ist sie die Bremer Regionalsprecherin von NACOA – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. „Kinder aus Suchtfamilien fühlen sich oft überverantwortlich, sie sind besonders leistungsbereit und überfordern sich“, erläutert die Suchtexpertin. Oft wurden sie trotzdem von ihren Eltern nicht wertgeschätzt, daher glauben sie, dass es nie genug ist, was sie tun.“
Dauerstress, Verunsicherung und Scham bestimmen den Alltag
Laut Jahresbericht 2020 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung leben mehr als 2,6 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland mit alkoholkranken oder drogensüchtigen Eltern zusammen und weitere mit Vätern oder Müttern, die von Glückspiel abhängig sind oder andere Verhaltenssüchte zeigen. „Sucht im Elternhaus bedeutet für viele Kinder eine extreme Belastung: Dauerstress, Verunsicherung und Scham bestimmen ihren Alltag. All das bleibt nicht ohne Folgen“, schreibt die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, in dem Bericht. Schätzungen zufolge entwickelt jedes dritte betroffene Kind später selbst eine Suchterkrankung, ein weiteres Drittel eine andere psychische Erkrankung.
Die Interessenvertretung NACOA geht davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland in ihrer Kindheit durch ein familiäres Suchtproblem belastet wurden oder immer noch akut belastet sind. Nicht wenige haben einen süchtigen Partner oder eine süchtige Partnerin. So war das auch bei Katrin. „Viele meiner Partner hatten ein Alkoholproblem“, erzählt sie. Das galt auch für ihren letzten Lebensgefährten. Von ihm fühlte sie sich so missachtet und wenig wertgeschätzt, dass sie nach einem besonders schlimmen Abend psychisch zusammenbrach.
"Zum ersten Mal verstanden, was mit mir los war."
Erst im Rahmen einer Therapie wurde ihr bewusst, dass sie als Tochter eines alkoholkranken Vaters über viele Jahre co-abhängig war. „Während der Therapie habe ich zum ersten Mal verstanden, was mit mir los ist, warum ich immer die falschen Männer treffe und nicht glücklich bin“, erzählt sie. Immer habe sie sich um andere gesorgt, aber nicht um sich selbst.
„Co-abhängige Beziehungen basieren darauf, Anerkennung zu erhalten und Ablehnung zu vermeiden“, betont Suchtexpertin Hatesuer. „Das ist eine wunderbare Grundlage dafür, sich in Beziehungen immer mehr anzustrengen, dem anderen zu entsprechen, alles perfekt machen zu wollen, Streit zu vermeiden, seine eigenen Bedürfnisse immer mehr zurückzunehmen, immer mehr zu tun, um die Mitmenschen zufriedenzustellen.“ Mit ihrem Verhalten bewirkten sie jedoch das Gegenteil.
Bereits in jungen Jahren Hilfe suchen
Was Katrin erlebt hat, ist kein Einzelfall. Im Idealfall sollten betroffene Kinder deshalb bereits in jungen Jahren von professionellen Stellen begleitet werden. Eine der wichtigsten Anlaufstellen ist NACOA: Hier erhalten Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien ein kostenloses Angebot aus Mail- und Telefonberatungen sowie Einzel- und Gruppen-Chats. An NACOA können sich auch Nachbarn, Erziehende oder Angehörige wenden, die sich Sorgen um Kinder machen.
Lehrkräfte, die bemerken, dass ein Schüler oder eine Schülerin unter der familiären Situation leidet, können sich an das Landesinstitut für Schule (LIS) wenden, das Fortbildungen zum Thema Sucht und Co-Abhängigkeit anbietet. Im Rahmen der einmal jährlich stattfindenden NACOA-Aktionswoche im Februar leitet auch Edith Hatesuer Fortbildungskurse für Lehrerinnen und Lehrer.
Die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen dürfen
Gute Anlaufstellen sind zudem Selbsthilfegruppen, die es in zahlreichen Städten gibt. Michel* (61) war mehr als 20 Jahre in einer Selbsthilfegruppe der Suchthilfegemeinschaft Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern (EKS). Er ist elf Jahre alt, als seine Mutter die Familie verlässt. Von da an kümmert er sich alleine um den alkoholkranken Vater. „Ich habe den Haushalt geführt“, erzählt der Bremer. Als die Mutter gegangen ist, trinkt der Vater noch mehr, wird gewalttätig. Immer wieder verspricht er, mit dem Trinken aufzuhören – und fängt wieder an. „Ich habe damals jegliches Vertrauen verloren, dass es auch mal besser wird“, erinnert sich Michel.
Als er Mitte 30 ist, erschießt sich der Vater. Die Hausärztin schickt den Sohn zum Psychologen. „Zum ersten Mal hat mich jemand gefragt, wie es mir geht“, sagt Michel. Es folgen jahrelange Psychoanalyse und Klinikaufenthalte. „Ich hatte null Selbstbewusstsein, dachte, ich kann nichts, war extrem ungesellig.“ Edith Hatesuer von NACOA kennt das: „Viele Kinder suchkranker Eltern trauen sich nicht ins Leben. Sie denken: Wenn mein Gegenüber wüsste, wer ich wirklich bin, würde er oder sie mich nicht mögen.“
Es habe sehr lange gedauert, bis er gelernt habe, seine eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen, erzählt Michel. Dabei helfe ihm die Einzel- und Gruppentherapie bei Edith Hatesuer. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen in der Gruppentherapie habe er erfahren, dass er mit seinem Verhaltensmuster nicht allein ist. „Seit ein paar Wochen merke ich: Da ändert sich etwas.“
Katrin ist nach einem diagnostizierten Burnout noch nicht ganz so weit: „Ich weiß gar nicht, was ich will, was mir guttun würde: Da ist kein Gespür für mich selbst.“ Aufgeben will sie nicht. Demnächst beginnt ihre Reha, vorher lässt sie sich in einer Akutklinik behandeln. Und betont: „Ich bin eine Kämpferin und wild entschlossen, ein befreites und glückliches Leben zu finden.“
*Der Name ist der Redaktion bekannt.
Autorin: Janet Binder
Weiterführende Links zum Thema
Hier finden Sie Unterstützung
- Bei der Interessenvertretung NACOA erhalten Kinder und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien ein kostenloses Angebot aus Mail-Beratungen, Einzel- und Gruppen-Chats sowie Telefonberatung, auch anonym. Auch Lehrkräfte, Kita-Mitarbeitende, Angehörige oder andere Personen aus dem Umfeld von Suchtkranken können sich an die Beratungsstelle werden. Edith Hatesuer, Ansprechpartnerin NACOA Bremen: 0421 - 9601991
- ACA ist eine Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufgewachsen sind. Das Programm basiert auf dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das an das Anliegen der Betroffenen angepasst wurde. ACA Bremen lädt Betroffene jeden Donnerstag um 19 Uhr ohne Anmeldung zu einem Treffen im Haus der Familie, Fehrfeld 7, 28203 Bremen ein.
- EKS – Selbsthilfegruppe für Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern bietet Gruppentreffen in zahlreichen Orten an. Ähnlich wie bei ACA wird nach dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker gearbeitet. Tel. 0800 - 12 35735, info@eksev.org
- Beratungsstelle Mädchenhaus Bremen, Zielgruppe sind Mädchen ab elf Jahren und junge Frauen. Das Angebot umfasst Beratungen mit und ohne Termin sowie Online-Beratungen, Tel.: 0421 - 33 65 444
- Gruppen-Angebote für Kinder ab 6 Jahren bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikverbunds Gesundheit Nord. Erziehungsberechtigte müssen Kontakt aufnehmen.
- Lehrkräfte können sich für eine Fortbildung zum Thema Sucht bzw. Co-Abhängigkeit an das Landesinstitut für Schule (LIS) wenden. Ansprechpartner: Oliver Peters, Gesundheit und Suchtprävention, Tel.: 0421 361-8314, E-Mail: oliver.peters@lis.bremen.de
- Hilfe finden Angehörige auch beim „Arbeitskreis Alkohol – Selbsthilfe für alle Süchte“. Dies ist ein Zusammenschluss von Vertretern und Vertreterinnen von Selbsthilfegruppen.
- Unter Netzwerk Selbsthilfe sind weitere Selbsthilfegruppen rund um das Thema Sucht zu finden.
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