Zum Hauptinhalt springen
AOK WortmarkeAOK Lebensbaum
Gesundheitsmagazin

AOK Bremen/Bremerhaven

Wenn Kinder unter der Sucht ihrer Eltern leiden

Veröffentlicht am:23.07.2024

5 Minuten Lesedauer

Ist ein Elternteil suchterkrankt, kann das gravierende Folgen für die Kinder haben. Manchmal merken diese erst spät im Erwachsenenleben, woher ihre Probleme kommen.

Eine Frau trinkt ein Glas Wein. Es ist Abend, das Licht ist gedämpft. Sie sitzt vermutlich in einer Bar.

© iStock / SolStock

Wutanfälle gehörten zum Alltag

Katrins* Kindheit war geprägt von der Sucht ihres Vaters. „Er war schwerst alkoholabhängig und hat immer eine aggressive Stimmung verbreitet“, sagt die 58-jährige Bremerin. Als Frührentner war er ständig zu Hause, sie und ihre jüngere Schwester konnten ihm kaum aus dem Weg gehen. Er war gewalttätig, ließ seine Wutanfälle an der Kücheneinrichtung, am Fernseher oder an den Türen aus. Permanent sei sie auf der Hut gewesen: „Ich rechnete jederzeit damit, eine gepfeffert zu kriegen.“

Als sie 14 Jahre alt war, trennten sich die Eltern. „Ab da haben meine Mutter und meine Schwester den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen“, erzählt Katrin. Sie selbst habe sich jedoch weiterhin zwei Jahrzehnte bis zum Tod des Vaters für ihn verantwortlich gefühlt. „Ich habe seine Wohnung sauber gemacht, für ihn eingekauft.“ Als ihr Vater starb, löste sie hochschwanger allein seine Wohnung auf. „Ich fand es normal, dass mir keiner hilft“, sagt sie. 

Kinder aus Suchtfamilien überfordern sich häufig

Edith Hatesuer, Suchtberaterin in Bremen.

© Jens Lehmkühler

Edith Hatesuer, Bremer Regionalsprecherin von NACOA – einer Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, kennt diese Sicht- und Verhaltensweisen: „Kinder aus Suchtfamilien fühlen sich oft überverantwortlich, sie sind besonders leistungsbereit und überfordern sich, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht kennen. Sie sagen nie nein. Oft wurden sie trotzdem von ihren Eltern nicht wertgeschätzt, daher glauben sie, dass es nie genug ist, was sie tun.“

Dauerstress, Verunsicherung und Scham bestimmen den Alltag

Laut dem Jahresbericht 2020 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung leben mehr als 2,6 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland mit alkoholkranken oder drogensüchtigen Eltern zusammen. Weitere leben mit Eltern mit Verhaltenssüchten wie Glücksspielabhängigkeit. „Sucht im Elternhaus bedeutet für viele Kinder eine extreme Belastung: Dauerstress, Verunsicherung und Scham bestimmen ihren Alltag. All das bleibt nicht ohne Folgen“, schreibt die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, in dem Bericht. Schätzungen zufolge entwickelt jedes dritte betroffene Kind später selbst eine Suchterkrankung, ein weiteres Drittel eine andere psychische Erkrankung. 

Die Interessenvertretung „NACOA“ geht davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland in ihrer Kindheit durch ein familiäres Suchtproblem belastet wurden beziehungsweise immer noch akut belastet sind. Nicht wenige haben einen süchtigen Partner. So war das auch bei Katrin. „Viele meiner Partner hatten ein Alkoholproblem“, erzählt sie. Das galt auch für ihren letzten Lebensgefährten. Von ihm fühlte sie sich so missachtet und wenig wertgeschätzt, dass sie nach einem besonders schlimmen Abend psychisch zusammenbrach. 

"Zum ersten Mal verstanden, was mit mir los war."

Eine Freundin empfahl ihr NACOA-Vertreterin Edith Hatesuer, die seit mehr als 20 Jahren in Bremen als Suchtberaterin tätig ist. Dass sie als Tochter eines alkoholkranken Vaters Co-Abhängige war, wurde Katrin erst in der Therapie bewusst. „Dort habe ich zum ersten Mal verstanden, was mit mir los ist, warum ich immer die falschen Männer treffen und warum ich nicht glücklich bin“, sagt sie. Immer sorgte sie sich nur um andere, um sich selbst nie. 

„Die Paartherapeuten Gay und Kathlyn Hendricks haben es wunderbar auf den Punkt gebracht: Co-Abhängige Beziehungen basieren darauf, Anerkennung zu erhalten und Ablehnung zu vermeiden“, betont Suchtexpertin Hatesuer. „Das ist eine wunderbare Grundlage dafür, sich in Beziehungen immer mehr anzustrengen, dem anderen zu entsprechen, alles perfekt machen zu wollen, Streit zu vermeiden, seine eigenen Bedürfnisse immer mehr zurück zunehmen, immer mehr zu tun, um ihre Mitmenschen zufrieden zustellen.“ Mit ihrem Verhalten bewirkten sie jedoch das Gegenteil. 

Bereits in jungen Jahren Hilfe suchen

Was Katrin erlebt hat, ist kein Einzelfall. Im Idealfall sollten betroffene Kinder deshalb bereits in jungen Jahren von professionellen Stellen begleitet werden. Eine der wichtigsten Anlaufstellen in Bremen ist NACOA, wo Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien ein kostenloses Angebot aus Mail- und Telefonberatungen sowie Einzel- und Gruppen-Chats erhalten. An NACOA können sich auch Nachbarn, Erzieherinnen oder Angehörige wenden, die sich Sorgen um Kinder machen. „ 

Lehrkräfte, die bemerken, dass ein Schüler oder eine Schülerin unter ihrer familiären Situation leiden, können sich an das Landesinstitut für Schule (LIS) wenden, das Fortbildungen anbietet. Im Rahmen der einmal jährlich stattfindenden NACOA-Aktionswoche im Februar leitet auch Edith Hatesuer Fortbildungskurse für Lehrkräfte. 

Die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen dürfen

Gute Anlaufstellen sind für Betroffene Selbsthilfegruppen, die es in zahlreichen Städten gibt. Auch Michel* (61) war mehr als 20 Jahre in der Selbsthilfegruppe für Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern (EKS). Er war elf Jahre alt, als seine Mutter die Familie verließ. Von da an kümmerte er sich um den alkoholkranken Vater. „Ich habe den Haushalt geführt“, sagt der Bremer. Als die Mutter weg war, trank der Vater noch mehr, wurde gewalttätig. Immer wieder versprach der Vater aufzuhören mit dem Trinken – und fing wieder an. „Ich habe damals jegliches Vertrauen verloren, dass es auch mal besser wird“, erinnert sich Michel. 

Als er Mitte 30 ist, erschießt sich der Vater. Seine Hausärztin schickt ihn zum Psychologen. „Zum ersten Mal hat mich jemand gefragt, wie es mir geht“, erinnert er sich. Es folgen jahrelange Psychoanalyse und Klinikaufenthalte. „Ich hatte null Selbstbewusstsein, ich dachte, ich kann nichts, war extrem ungesellig.“ Edith Hatesuer kennt das: „Viele Kinder suchkranker Eltern trauen sich nicht ins Leben. Sie denken: Wenn der Gegenüber wüsste, wer ich wirklich bin, würde er mich nicht mögen.“

Es habe sehr lange gedauert, bis er gelernt habe, seine eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen, erzählt Michel. Dabei helfe ihm die Einzel- und Gruppentherapie bei Edit Hatesuer. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen in der Gruppentherapie habe er erfahren, dass er mit seinem Verhaltensmuster nicht allein ist. „Seit ein paar Wochen merke ich: Da ändert sich was.“ 

Katrin ist nach einem diagnostizierten Burnout noch nicht ganz so weit: „Ich weiß gar nicht, was ich will, was mir gut tun würde: Da ist kein Gespür für mich selber.“ Aufgeben will sie nicht. Demnächst beginnt ihre Reha, vorher lässt sie sich in einer Akutklinik behandeln. „Ich bin eine Kämpferin. Ich bin wild entschlossen, ein befreites und glückliches Leben zu finden“, betont sie. 

*Der Name ist der Redaktion bekannt.

Autorin: Janet Binder

Hier finden Sie Unterstützung

  1. Die Beratungsstelle NACOA bietet Kinder und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien ein kostenloses Angebot aus Mail-Beratungen, Einzel- und Gruppen-Chats sowie Telefonberatung an, auch anonym. An NACOA können sich aber auch Lehrkräfte, Kita-Mitarbeitende, Angehörige oder Nachbarn werden. Edith Hatesuer, Ansprechpartnerin NACOA Bremen: 0421 - 9601991
  2. ACA ist eine Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufgewachsen sind. Das Programm basiert auf dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das an das Anliegen der Betroffenen angepasst wurde. ACA Bremen lädt Betroffene jeden Donnerstag um 19 Uhr ohne Anmeldung zu einem Treffen im Haus der Familie, Fehrfeld 7, 28203 Bremen ein.
  3. EKS – Selbsthilfegruppe für Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern bietet in zahlreichen Orten Deutschlands Gruppentreffen an. Ähnlich wie bei ACA wird nach dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker gearbeitet. Tel. 0800 - 12 35735, info@eksev.org
  4. Beratungsstelle Mädchenhaus Bremen, Zielgruppe sind Mädchen ab elf Jahren und junge Frauen. Das Angebot umfasst Beratungen mit und ohne Termin sowie Online-Beratungen, Tel.: 0421 - 33 65 444
  5. Gruppen-Angebote für Kinder ab 6 Jahren bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikverbunds Gesundheit Nord an. Erziehungsberechtigte müssen den Kontakt aufnehmen.
  6. Lehrkräfte können sich an das Landesinstitut für Schule (LIS) wenden. Dort werden Fortbildungen angeboten. Ansprechpartner: Oliver Peters, Gesundheit und Suchtprävention, Tel.: 0421 361-8314, E-Mail: oliver.peters@lis.bremen.de
  7. Angebote auch für Angehörige sind über den „Arbeitskreis Alkohol – Selbsthilfe für alle Süchte“ zu finden. Dies ist ein Zusammenschluss von Vertretern und Vertreterinnen von Selbsthilfegruppen, die auch Angebote für Angehörige haben. 
  8. Beim Netzwerk Selbsthilfe sind weitere Selbsthilfegruppen rund um das Thema Sucht zu finden. 

Waren diese Informationen hilfreich für Sie?

Noch nicht das Richtige gefunden?