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Der lange Weg in die Sucht – und zurück

Veröffentlicht am:11.07.2024

8 Minuten Lesedauer

Alkoholsucht kann uns alle treffen. Die Krankheit hat weder etwas mit Schwäche, noch mit fehlender Willenskraft zu tun. Eine Betroffene erzählt, warum sie abhängig wurde und was ihr geholfen hat.

Ein Gruppe Menschen stoßen mit Getränken am Esstisch im Hof an

© westend61 / Maskot

Tina* ist verzweifelt. Die innerliche Unruhe macht sie verrückt. Etwas zum Runterkommen muss her, dringend. Jeden Winkel ihres Zuhauses sucht sie nach Alkohol ab und trinkt alles, was sie finden kann – ohne Kontrolle. Dann passiert es: Tina wird ohnmächtig. Ihr Mann findet sie regungslos auf dem Küchenboden und ruft den Notarzt, zum Glück noch rechtzeitig. Wenige Stunden später wacht die heute 60-Jährige in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses auf. Sie hat eine lebensgefährliche Alkoholvergiftung. „Das bin ich nicht, das will ich nicht sein“, schießt es Tina durch den Kopf. Sie schämt sich für das, was sie sich und ihrer Familie angetan hat und fasst einen Entschluss: Sie will nie wieder trinken.

Die Sucht kam schleichend

Tina ist behütet aufgewachsen, ihre Kindheit war unbeschwert. Mit 17 Jahren trinkt sie ihr erstes Glas Wein. Und sie ist nicht allein, in ihrem Freundeskreis trinken eigentlich alle. Später studiert sie auf Lehramt und jobbt nebenbei in einer Kneipe. „Da war eine super Stimmung, damals fühlte sich alles noch ganz toll an“, erinnert sie sich. Doch dann erlebt sie eine herbe Enttäuschung. Während des Referendariats muss sie feststellen, dass sie sich im Schulbetrieb überhaupt nicht wohlfühlt. „Es gab große Konflikte mit den Kindern, Eltern und im Kollegium. Ich musste mich ständig durchsetzen. Das war schwer vereinbar mit meinem ausgeprägten Harmonie-Bedürfnis“, erinnert sich Tina. Jeden Abend trinkt sie Wein, nicht mehr aus Genuss, sondern um sich gezielt zu entspannen. Über ein Jahr hält sie durch, dann bricht sie das Referendariat ab. Glücklicherweise tun sich neue Chancen auf. Tina wird nun Touristikkauffrau – ihr absoluter Traumberuf, den sie über 30 Jahre lang ausübt.

Aber auch in der Reisebranche gibt es Momente, in denen sich die junge Frau unsicher fühlt. Und so kommt es, dass sie sich vor besonders schwierigen Situationen Mut antrinkt.

„Ich sah mich aber nicht gefährdet, ich konnte auf Alkohol auch ganz verzichten“, blickt sie zurück. „In der Schwangerschaft und Stillzeit habe ich überhaupt nicht getrunken.“ Dann zerbricht die Beziehung zum Vater ihres Kindes. Sie steht nun mit Kind und Vollzeitjob allein da. Ein enormer Druck lastet auf Tinas Schultern. Abends ist es die Flasche Wein, die sie tröstet und runterbringt. Schon morgens sehnt sie sich danach. Aus Angst, dass sie weiter abdriften und ihr am Ende das Kind weggenommen werden könnte, beschließt sie, von heute auf morgen gar nicht mehr zu trinken. Acht Jahre funktioniert das. Dann tritt ein neuer Mann mit eigenen Kindern in ihr Leben. Nun sind sie zu sechst. Sie hat viel zu tun, ist aber glücklich und denkt sich nichts dabei, auch mal ab und zu ein Glas Wein zu trinken. Aber sie merkt, dass sie schneller und mehr trinkt als ihre Freundinnen. Trotzdem: Eine Alkoholikerin ist sie nicht, höchstens eine halbe, glaubt sie. Mit diesen Gedanken versucht Tina, sich zu beruhigen. Aber zu dem Zeitpunkt ist sie schon psychisch abhängig und eine Quartalstrinkerin. So wie Tina geht es vielen Menschen in Deutschland: Oft ist ihnen nicht bewusst, dass sie bereits ein riskantes Trinkverhalten haben.

Eine junge Frau sitzt mit einem vollen Glas in der Hand auf der Couch zu Hause

© Westend61 / sinanmuslu

Viele Betroffene wollen nicht wahrhaben, dass sie zu viel trinken. Wer psychisch oder körperlich alkoholabhängig ist, braucht professionelle Hilfe.

Alkohol ist nie gesund

30 Prozent der Erwachsenen trinken sich hierzulande regelmäßig in den Rausch, hat das Robert Koch Institut ermittelt. In einer aktuellen Studie geben die Befragten an, in den vergangenen zwölf Monaten an mindestens einem Tag pro Monat sechs oder mehr alkoholische Getränke zu sich genommen zu haben. Wie viele Menschen hierzulande alkoholabhängig sind, können Experten nur schätzen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

War Alkohol in kleinen Mengen bisher noch ok, so hat die Wissenschaft aktuell neue Erkenntnisse: Es gibt keinen Alkoholkonsum, der sicher oder potenziell gesundheitsförderlich ist. Daher empfiehlt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), den Verbrauch grundsätzlich zu reduzieren – unabhängig davon, wie hoch die persönliche Trinkmenge ist. Am besten sei es, gar keinen Alkohol zu trinken. Das tut lebenswichtigen Organen wie Herz, Leber und Gehirn gut sowie dem Schlaf. Außerdem lässt sich so das Krebsrisiko senken.

Was die meisten nicht wissen: Alkohol kann auch in geringen Mengen abhängig machen. Daher zählen nicht nur Volumenprozente und Gramm, sondern es interessiert, wie sehr die Gedanken ums nächste Glas kreisen. Ist der Konsum noch zu kontrollieren oder ist er gestiegen? Welche Funktion hat der Alkohol übernommen? Ist es das Mittel zum Abschalten oder gegen Kummer? Wie stark beeinflusst der Alkohol das eigene Leben? Die Antworten fallen selten leicht.

10 Tipps für weniger Alkohol

  • Durst alkoholfrei löschen.
  • Zuhause keinen oder wenig Alkohol bereithalten.
  • Gewohnheiten brechen: Situation alkoholfrei gestalten.
  • Nicht allein trinken.
  • Wenn schon Alkohol, vorher und zwischendurch Nichtalkoholisches.
  • Alkoholisches langsam trinken.
  • Keine Feierlaune antrinken.
  • Emotionales Trinken erkennen, Alternativen nutzen.
  • Weniger trinken belohnen und genießen.
  • Verbündete finden.
     

Alkohol ja – Alkoholkranke nein

In der Gesellschaft ist Alkoholkonsum allgegenwärtig und akzeptiert. „Wenn sich dann aus dem Trinken eine Sucht entwickelt und andere davon erfahren, reagieren sie oft wenig empathisch“, bedauert Tina. „Herzinfarkt, kaputte Gelenke, Krebs – das darfst du haben. Aber alkoholkrank sein, das gehört sich nicht“, erzählt sie und gibt zu: „Ich habe das früher auch geglaubt.“ An Alkoholkranken haftet außerdem das Stigma, schwach zu sein, sich gehen zu lassen. Beides passt so gar nicht zu der starken Frau. Sie ist pflichtbewusst, kann berufliche Erfolge vorweisen und legt viel Wert auf ihr Äußeres: „Niemals hätte ich gedacht, von Alkohol abhängig zu werden, nie.“ Mitleid für ihre Krankheit will sie nicht. Verständnis wäre gut.

„Herzinfarkt, kaputte Gelenke, Krebs – das darfst du haben. Aber alkoholkrank sein, das gehört sich nicht. Ich habe das früher auch geglaubt.“

Tina
Betroffene

Hilfe zur Selbsthilfe

Als Tinas langjähriger Arbeitgeber im Tourismusbereich insolvent geht, fällt sie in ein tiefes Loch. Und es zeigt sich das ganze Ausmaß ihrer Krankheit: Sie ertränkt ihre Verzweiflung in Alkohol. Heimlich, wenn sie allein ist. Und das ist oft der Fall. Zwar rafft sie sich wieder auf und findet einen neuen Job, ist aber längst körperlich abhängig. Der Zusammenbruch ist nur noch eine Frage der Zeit. Als sie in die Klinik kommt, spürt sie, dass sie ihr Leben ändern muss. Sie stellt sich der Entgiftung und schafft die Entwöhnung – unter großer Anstrengung und mit der Liebe ihres Mannes. Um sich danach nicht zu überfordern, reduziert sie ihre Arbeitszeit. 

Großen Rückhalt findet sie in der „Selbsthilfegruppe der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe“. Jede Woche geht sie dort hin. „Vor dem ersten Treffen hatte ich große Angst, aber die Gruppe hat mich sehr verständnisvoll aufgenommen. Ich fühlte mich sofort geborgen und schöpfte Vertrauen, auch ich könnte ein Leben ohne Alkohol vielleicht schaffen“, blickt Tina zurück. Als sie erfährt, dass sie nichts für ihre Krankheit kann, aber dazu stehen muss, spürt sie neue Kraft. Freunden und Nachbarn sagt sie: „Nein, danke, ich trinke keinen Alkohol, denn ich kann nicht aufhören.“ Punkt. Sie hat Glück, denn ihr Umfeld respektiert das.

Sammlung von Kühlschrankmagnet-Souvenirs aus Paris, Holland, Amsterdam und China

© gettyimages / Wirestock

Magnete aus der ganzen Welt zieren den Kühlschrank. Ob auf Reisen oder zu Hause – Tina genießt wieder ihr Leben. Vom Alkohol befreit, ganz bei sich und glücklich.

Drei Fragen an Peter Olsen

Sozialtherapeut Sucht und Psychologischer Berater

Sie und Ihre Frau engagieren sich in der Selbsthilfegruppe der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – wer kommt zu Ihnen?

Ich berate Frauen und Männer aus allen Schichten, die ihre Probleme mit Suchtmitteln nicht mehr allein bewältigen können. Sie sind am Ende, so wie ich vor 30 Jahren. Schon lange bestimmte der Alkohol mein Leben. Als meine Frau mich verlassen wollte, war ich zur Entgiftung und Entwöhnung bereit.

Welche Rolle spielen Angehörige bei einer Alkoholsucht?

Eine große Rolle. In der Not können Angehörige Verhaltensweisen entwickeln, die weder ihnen noch der abhängigen Person helfen: Manche decken das Problem und gemeinsam rutscht man immer tiefer in die Abwärtsspirale. Wenn Angehörige da aber nicht mitspielen und konsequent sind, können sich neue Chancen auftun. Das fällt nicht leicht, deshalb sind auch Angehörige bei uns willkommen.

Wie kann Ihre Selbsthilfegruppe Betroffenen helfen?

Ob in der wöchentlichen Runde, im Chat oder in einer akuten Krise – wir bieten einen geschützten Raum, um uns gegenseitig zu unterstützen. Dabei gehen wir unserem Verhalten auf den Grund, entwickeln Lösungen und trainieren neue Reaktionen ein. Offen miteinander zu sprechen, kann enorm helfen. Es ist der Schlüssel für Selbsterkenntnis, Konfliktbewältigung und mehr Lebensqualität.

Zurück zur Balance

Körper und Psyche brauchen Zeit, um sich zu regenerieren. Drei Monate nach ihrem Zusammenbruch kann Tina wieder mit Appetit essen, endlich durchschlafen und klar denken. Sie hat verstanden, dass Alkohol das angeborene Belohnungssystem im Gehirn manipuliert. Das Suchtgedächtnis verschwindet nie ganz und sollte nicht mehr gefüttert werden. Heute weiß sie, wie wichtig Aufklärung und Vorbilder sind. Wenn sie in ihre Vergangenheit zurückblickt, fällt ihr auf: „In meiner Familie gab es kein Fest ohne Alkohol. Die Eltern meines ersten Freundes schenkten sich am Nachmittag einen Sherry ein. Auf Dienstreisen wurde mir in der Mittagspause Wein angeboten.“ 

Sie wünscht sich für Familien und Gesellschaft gesündere Botschaften: „Sich gut fühlen, geht ohne Alkohol. Sich nicht schlecht fühlen, geht auch ohne Alkohol.“ Alkoholwerbung sei da nicht förderlich, findet sie. Selbstvertrauen und innere Balance sind hingegen wichtige Schutzfaktoren. Tina hat viel über sich gelernt, ist gelassener geworden, sagt häufiger ihre Meinung und „nein“. Seit ihrem Absturz sind zwei Jahre vergangen und sie ist immer noch trocken. „Ich denke nicht mehr an Alkohol, nur noch, wenn wir uns in der Selbsthilfegruppe treffen.“ Jetzt unterstützt sie die Neuen. Das Versprechen an sich selbst, nie wieder trinken zu wollen, hat sie bis heute eingehalten.

„Ich denke nicht mehr an Alkohol, nur noch, wenn wir uns in der Selbsthilfegruppe treffen.“

Tina
Betroffene

Infos und Hilfe

Tipps für einen gesunden Lebensstil, wertvolle Infos zum Thema Alkohol und konkrete Hilfsangebote gibt es zum Beispiel hier:

AOK NordWest:

  • Innere Stärke und Achtsamkeit vermittelt das AOK-Programm Lebe Balance. Darüber hinaus bietet die AOK zahlreiche Entspannungs- und Bewegungskurse an, ebenfalls kostenfrei. Infos und Anmeldung auf aok.de/nw/kurse.
  • Im liveonline-Vortrag „Mein Weg zu weniger Alkohol“ stellt Dr. Jürgen Theissing am 17. September ab 19 Uhr praktische Strategien für einen geringeren Alkoholkonsum gratis vor und beantwortet Fragen. Infos und Anmeldung auf liveonlinecoaching.com/nw

Suchtberatungsstellen:

  • Vom Erstkontakt bis zur Nachsorge – die örtlichen Suchtberatungsstellen helfen Betroffenen und Angehörigen. Adressen auf suchthilfeverzeichnis.de

Selbsthilfegruppen:

  • Von Betroffenen für Betroffene, von der AOK unterstützt. Zu finden über die Selbsthilfekontaktstellen in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe: selbsthilfe-sh.info und selbsthilfenetz.de

*Name von der Redaktion geändert. Hinweis: Tina ist auf den Bildern im Artikel nicht abgebildet.

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