Baby & Kleinkind
Der Alltag mit meinen besonderen Kindern
Veröffentlicht am:02.02.2023
6 Minuten Lesedauer
Das Leben mit einem behinderten Kind ist oft eine Herausforderung. Eine gute Organisation kann den Alltag vereinfachen und Freiräume für die Eltern schaffen. Das ist wichtig, denn so können sie glückliche Momente besonders genießen.
Inhalte im Überblick
- Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Sohn Yusuf Einschränkungen hat?
- Haben Sie von den Beeinträchtigungen bei Umut eher erfahren?
- Welche Unterstützung brauchen besondere Kinder und wie gestaltet sich ihr Alltag?
- Wie und wann verschaffen Sie sich freudige Momente?
- Gibt es etwas, dass Sie Eltern mit einem besonderen Kind sagen möchten?
Sevgi Aktürk ist 42 Jahre alt und hat drei Kinder. Ihre Söhne Yusuf (15 Jahre alt) und Umut (7 Jahre alt) haben eine Mehrfachbehinderung. Im Interview erzählt Sevgi Aktürk, wie ihr Alltag aussieht.
Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Sohn Yusuf Einschränkungen hat?
Bei Yusuf verlief die Schwangerschaft völlig normal, es gab also keinen Hinweis auf eine Besonderheit. Dass die Entwicklung anders verläuft als bei anderen Kindern, stellte sich etwa im Alter von 14 bis 16 Monaten heraus. Ich traf damals meine Hebamme durch Zufall und erzählte ihr, dass Yusuf zwar sitzen kann, er aber weder krabbelt noch läuft. Sie riet mir dazu, einen Arzt oder eine Ärztin zu konsultieren und eine Magnetresonanztomografie (MRT), genauer gesagt eine Bildaufnahme vom Gehirn, machen zu lassen. Bis dahin dachte ich immer, dass mein Sohn lediglich etwas länger braucht, um sich zu entwickeln. Yusuf erhielt kurze Zeit darauf ein MRT, am Gehirn stellten die Ärzte und Ärztinnen keine Auffälligkeiten fest, aber dafür am Gehör. Er lautierte etwa bis zum siebten Monat, gab also Laute wie Wa-Wa oder Da-Da von sich, geredet hat Yusuf aber nie, bis heute nicht. Mit der Zeit kamen dann immer neue Besonderheiten dazu – er bekam beispielsweise Hörgeräte, dann eine Brille, anschließend stand eine Frühförderung auf dem Plan und die Diagnose Epilepsie kam hinzu. Mit knapp zehn Jahren stand fest: Yusuf hat zusätzlich Autismus. Für mich war das alles sehr viel, ich kannte mich mit den ganzen Untersuchungen, Diagnosen und Behandlungen nicht aus. So mussten wir als Familie viele Berge erklimmen. Ich brauchte lange, um zu akzeptieren, dass Yusuf besonders ist und nie wie andere Kinder sein wird.
Haben Sie von den Beeinträchtigungen bei Umut eher erfahren?
Ja, einfach auch deshalb, weil es eindeutige Parallelen zu der Entwicklung von Yusuf gab. Bei Umut war die Schwangerschaft im Gegensatz zu der von Yusuf nicht komplikationsfrei – ich hatte Blutungen und eine Gebärmutterhalsverkürzung. Die Mediziner und Medizinerinnen holten Umut in der 30. Schwangerschaftswoche auf die Welt, weil er einen stark beschleunigten Herzschlag hatte. Anfangs hieß es, dass er als Frühchen einfach viel aufholen müsse, um den gleichen Entwicklungsstand wie zeitlich normal geborene Babys zu erreichen. Ich stellte aber durch den Vergleich mit Yusuf sehr früh, also in den ersten Lebensmonaten, fest, dass er sich verzögert entwickelte. Auch Umut hat mittlerweile eine Vielzahl an Diagnosen wie Zerebralparese (Störung des Nerven- und Muskelsystems), Autismus und Epilepsie erhalten. Vor allem die ersten zwei Lebensjahre von Umut waren sehr belastend für uns als Familie – Umut befand sich lange auf der Intensivstation und wir pendelten zwischen dem Krankenhaus und zu Hause hin und her. Ich erhielt keine Unterstützung von außen und musste mich natürlich auch um Yusuf kümmern. Rückblickend kann ich sagen, dass ich einfach nur funktionierte, um die zahlreichen Herausforderungen zu bewältigen.
„Rückblickend kann ich sagen, dass ich einfach nur funktionierte, um die zahlreichen Herausforderungen zu bewältigen.“
Sevgi Aktürk
Mutter von zwei besonderen Kindern
Wobei benötigen Ihre Kinder Unterstützung und wie groß ist die Belastung für Sie?
Die geistigen und körperlichen Einschränkungen meiner Kinder wirken sich stark auf den Alltag aus. Yusuf braucht in allen Lebenslagen und bei allen Handlungen Unterstützung. Er kann nicht selbstständig essen, trinken oder zur Toilette gehen. Yusuf kann auch nicht sprechen und hat eine starke Weglauftendenz – ich muss also stets darauf achten, dass er nicht unbeobachtet das Haus verlässt. Umut kann leider nicht gehen, auch er ist in allen Lebensbereichen auf Hilfe angewiesen. Da beide eine mehrfache geistige Behinderung besitzen, sind sie nicht so verständig wie andere Kinder. Deshalb ist es wichtig, Sätze ganz oft zu wiederholen, zum Beispiel: „Setz dich hin Yusuf, wir essen erst einmal auf.“ Durch das Wachstum kommen regelmäßig neue Herausforderungen auf mich zu. Yusuf ist mittlerweile 175 cm groß, ich hingegen 165 cm – das bedeutet für mich eine große körperliche Belastung. Beispielsweise dann, wenn ich ihm beim Anziehen oder Hinsetzen helfe. Umut wiegt mittlerweile 26 Kilo und ich knapp 50, ihn hebe ich regelmäßig hoch, um ihn beispielsweise in den Rollstuhl zu setzen. Neben der körperlichen gibt es natürlich auch eine psychische Belastung. Schließlich habe ich praktisch nie Feierabend.
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Wie sieht Ihr Alltag mit Yusuf und Umut aus?
Morgens kommt ein Pflegedienst für Umut – das Personal hilft ihm bei der Körperpflege und beim Anziehen. Zur selben Zeit helfe ich Yusuf, weil beide gleichzeitig das Haus verlassen.
Yusuf und Umut besuchen die Förderschule – aufgrund der schweren Epilepsie begleitet eine Pflegefachkraft Umut während der gesamten Schulzeit. Ein spezieller Bus fährt meine Kinder zur Schule und holt sie auch wieder ab. Nachmittags haben beide oft Therapien, zum Beispiel Physiotherapie oder Reiten. Wenn keine Therapien anstehen, sind wir zu Hause. Wir haben einen großen Garten, in dem die Kinder spielen können. Mein Mann kommt dann am Nachmittag oder Abend von der Arbeit nach Hause. Zwischenzeitlich kümmere ich mich um Organisatorisches wie Rehabilitationsanträge oder koordiniere Termine für die Therapien.
Was bereitet Ihnen besondere Freude, welche Momente finden Sie besonders schön?
Als Mutter von einem gesunden und zwei Kindern mit Einschränkungen schätze ich auch die kleinen Dinge. Ich freue mich beispielsweise, wenn Umut anstatt täglich drei epileptischen Anfällen nur einen hat. Außerdem bin ich froh, dass meine Kinder zufrieden sind und mir das mehrmals täglich mit einem Lächeln zeigen. Manchmal unternehmen wir auch etwas und gehen beispielsweise ins Kino. Das ist natürlich immer mit relativ viel Aufwand verbunden – Yusuf und Umut sind sehr aktiv. Wenn das Popcorn leer ist, müssen wir meist direkt gehen. Trotzdem ist es schön, wenn die Kinder die besonderen Erlebnisse einige Minuten genießen.
Unterstützung finden
Zum Familiencoach Pflege
Der Familiencoach Pflege ist ein Online-Selbsthilfe-Programm für Menschen, die eine Person pflegen – nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe können Sie sich mit Informationen und Übungen vor Überlastung schützen und den Pflegealltag besser bewältigen.
Wann nehmen Sie sich Zeit für sich?
Mir Zeit für mich zu nehmen, ist tatsächlich sehr schwierig. Wenn die Kinder im Bett sind, kümmere ich mich um Organisatorisches oder um den Haushalt. Mehrmals in der Nacht wachen Yusuf und Umut auf, ich gehe dann in ihr Zimmer und beruhige sie. Manchmal brauche ich einfach das Gefühl, herauszukommen, das klappt beispielsweise beim Einkaufen. Lange Zeit kann ich aber nicht außer Haus sein, da vor allem Umut jederzeit einen epileptischen Anfall erleiden kann. Früher pflegte ich meinen YouTube-Kanal intensiv. Hier veröffentlichte ich zahlreiche Videos, um Menschen einen Einblick in meinen Alltag zu geben und Betroffenen zu helfen. Die Anfertigung von Videos ist aber aufwendig und belastend, weil ich dabei viele schwierige Situationen erneut durchlebe.
Gibt es etwas, dass Sie Eltern mit einem besonderen Kind sagen möchten?
Ich sage immer, jedes Kind ist auf seine Art besonders. Dazu stelle ich mir gerne vor, dass Kinder wie Schmetterlinge sind – jeder von ihnen fliegt so hoch, wie er kann. Auch wenn das für Eltern mit einem besonderen Kind nicht immer leicht ist, möchte ich ihnen gerne dazu raten, mit der Situation zufrieden zu sein. Am besten schauen sie nicht auf das, was ihr Nachwuchs nicht kann, sondern darauf, was ihm gelingt. Außerdem finde ich es sehr wichtig, Kinder mit geistigen und körperlichen Einschränkungen nicht mit gesunden Kindern zu vergleichen, sie sind eben einfach anders. Selbst kleine Erfolgserlebnisse können motivieren. Um diese zu erreichen, sind kleine Schritte und realistische Ziele sinnvoll. Gerade anfangs ist es gut, Geduld mitzubringen – es dauert einige Zeit, bis die Diagnosen feststehen und Mediziner oder Medizinerinnen die passenden Therapieangebote vorschlagen können. In dieser Zeit probieren Betroffene am besten aus, was ihnen hilft. Eine Selbsthilfegruppe kann beispielsweise eine wertvolle Unterstützung bedeuten.
Hier erhalten Eltern mit besonderen Kindern Rat und Unterstützung
- INTAKT – Internetplattform für Eltern mit besonderen Kindern
- Familienportal – nützliche Informationen zu Leistungen für Eltern mit besonderen Kindern
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Wegweiser für Familien mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind