Eltern
Zu viel des Guten – Schaden Helikoptereltern ihren Kindern?
Veröffentlicht am:23.11.2021
7 Minuten Lesedauer
Oft ist Angst der Auslöser dafür, dass Eltern ihre Kinder überbehüten. Anstatt die Welt zu erobern, sitzen die Kinder dann in einem „gepolsterten Laufstall“. Das kann weitreichende Folgen haben. Ein Experte erklärt, warum Eltern mehr vertrauen sollten.
Sie kreisen um ihre Kinder wie ein Helikopter um einen Tatort, daher wahrscheinlich auch der Name: Helikoptereltern. Aus Angst um ihre Kinder kennt die Fürsorge keine Grenzen. Welche Folgen kann das für die Kinder haben? Oder gibt es so etwas wie ein Zuviel an Fürsorge gar nicht?
Für Prof. Dr. Stephan Bender, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln, gehört der Umgang mit Kindern und ihren Helikoptereltern zur Praxis. Er berichtet aus erster Hand, warum Kinder ihre Freiheiten brauchen, und beschreibt, wie Eltern lernen können, mit Ängsten und Sorgen besser umzugehen.
Haben Helikoptereltern einen negativen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder?
Zunächst einmal ist elterliche Fürsorge sehr wichtig. Kinder brauchen sie und freuen sich, wenn ihre Eltern sich um sie kümmern. Wenn die Fürsorge allerdings zu groß wird und Kinder nicht die Chance bekommen, eigene Erfahrungen zu machen, dann unterstützt die Fürsorge nicht mehr, sondern sie hemmt. In so einem Fall sprechen wir in der Regel von Helikoptereltern.
Sie führt dazu, dass Kinder nicht selbstständig werden können, sprich sich nicht entwickeln und keine eigenen Fehler machen können. In jedem Alter gibt es bestimmte Entwicklungsaufgaben, die bewältigt werden müssen, um wieder den nächsten Schritt gehen zu können.
Wann beginnen die Entwicklungsstadien, die Kinder bewältigen müssen?
Der Radius der benötigten Unabhängigkeit nimmt immer weiter zu, geht aber tatsächlich ab der Geburt los. Die allererste Entwicklungsaufgabe ist eine primitive Muskelkontrolle. Wenn Babys sich beruhigen sollen, werden sie manchmal zeitweise eng gewickelt, eine unter Fachleuten umstrittene Methode, die Halt geben soll und schon lange angewandt wird.
Sind Kinder aber dauernd komplett eingeengt, sodass sie sich überhaupt nicht bewegen können, würden alle Muskeln verkümmern. Sie brauchen also bereits da minimalen Freiraum, natürlich sind sie aber immer noch eng an die Eltern gebunden. Das Verhältnis verschiebt sich mit dem Alter und der Freiraum wird immer mehr erobert. Zum Beispiel über das Kopfheben, das Krabbeln und später das Kennenlernen anderer Kinder in der Kindertagesstätte (Kita).
Welche konkreten Folgen kann es haben, wenn die Eltern ihren Kindern den Freiraum nicht geben?
Kinder von Helikoptereltern weisen oft bestimmte Charakteristika auf:
- Sie sind weniger sozial kompetent. Unter anderem dadurch, dass Kontakte zu Gleichaltrigen nicht so gefördert werden und die Kinder weniger Freizeitaktivitäten haben. So lernen sie seltener, sich durchzusetzen.
- Sie haben Probleme, ihre Bedürfnisse anderen gegenüber zu äußern, da sie ja alles bekommen, bevor sie überhaupt fragen müssen.
- Sie zeigen weniger Eigeninitiative, Dinge auch wirklich umzusetzen.
- Sie können manchmal ihr Begabungsprofil nicht ausnutzen, weil sich die Fähigkeiten nicht voll entfalten können.
„Kindern von Helikoptereltern fehlt es oft an sozialer Kompetenz und Eigeninitiative, sie haben Probleme, ihre Bedürfnisse zu äußern, und können ihre Begabungen nicht voll entfalten.“
Prof. Dr. Stephan Bender
Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln
Wie kann sich das auf den Schuleintritt auswirken?
Das geht bei einer leichten Rückzügigkeit und Schüchternheit los. Zwar kann das auch Temperament sein, aber durch Überbehütung wird es deutlich verstärkt. Im Extremfall führt dies dazu, dass Kinder sehr trennungsängstlich werden und sich von den Eltern gar nicht mehr lösen können. Wie beim Schulabsentismus, bei dem Kinder gar nicht mehr aus dem Haus und zur Schule gehen wollen, weil sie nie gelernt haben, die Welt zu erobern, sich mit Neuem und Unbekanntem auseinanderzusetzen.
Manche Kinder haben auch Glück und sind resilient. Bei denen kommt es dann nur zu einer Entwicklungsverzögerung. Sie holen das, was sie verpasst haben, später wieder auf, weil sich nach und nach eben doch noch Übungsfelder geboten haben. Dafür gibt es aber keine Garantie.
Kann Überfürsorge in der Pubertät auch dazu führen, dass Kinder sich von ihren Eltern komplett distanzieren?
Es gibt viele Dinge, die gerade in der Pubertät kippen können. Natürlich gibt es auch die Fälle, bei denen die Jugendlichen oppositionell reagieren. Sie müssen sich ja gerade in der Pubertät abnabeln und wenn das nicht gut vorbereitet ist, kann das in alle Extreme kippen. Manche bleiben dann rückzügig, andere protestieren besonders heftig und suchen sich radikale Varianten, um diese Ablösung zu schaffen.
Medial wird das Thema in den letzten Jahren immer größer. Werden Eltern immer überfürsorglicher?
Das ist pauschal schwer zu sagen. Es gibt sicherlich Trends, die diesen Eindruck verstärken können. Kita- sowie die Nachmittagskapazitäten für Schulen werden weiter ausgebaut, damit beide Elternteile die Möglichkeit haben, berufstätig zu sein. Einerseits geben Eltern ihre Kinder also öfter ab und die Trennungssituationen häufen sich, andererseits gibt es durch die Doppelbelastung mit Karriere und Familie unterschiedliche Ansprüche an die Eltern.
Mütter dürfen ihr Kind wegen des Berufs nicht vernachlässigen, gelten sonst direkt als Rabenmutter. Auf der anderen Seite steht das Bild der Helikoptermutter. Das sind die beiden Extreme, in denen sie gemessen werden. Dabei geht es immer um individuelle Lösungen.
Jedes Kind ist anders und hat ein anderes Tempo, in dem es sich entwickelt. Es braucht unterschiedliche Grade an Freiheit, Eltern müssen immer eine ausgewogene Lösung finden. Darum sollten wir sie auch nicht vorschnell als Rabeneltern oder Helikoptereltern darstellen.
Spielt der Trend eine Rolle, dass immer mehr Paare nur ein Kind bekommen?
Sicherlich, alle Eltern lernen beim ersten Kind noch viel dazu und die jüngeren Geschwister kommen oft in Genuss von Freiheiten, die sich der ältere Bruder oder die ältere Schwester noch hart erarbeiten musste. Mit mehreren Kindern haben Eltern gar nicht mehr die Chance, sich ausschließlich auf ein Kind zu konzentrieren, sie müssen die Aufmerksamkeit verteilen. Bei einem Kind sind die Ängste noch größer und es bekommt die geballte Aufmerksamkeit ab.
Sie haben selbst gesagt, Fürsorge ist etwas Gutes. Wo hören fürsorgliche Eltern auf und wo fangen Helikoptereltern an?
Fürsorge ist immer eine Unterstützung zur Entwicklung. Kinder müssen mithilfe der Eltern Aufgaben bewältigen können, indem sie genug Spielraum bekommen. Es ist völlig in Ordnung, dass kleine Kinder, die sich im Straßenverkehr noch nicht bewegen können, von ihren Eltern in die Kita begleitet werden.
Wenn die Eltern aber merken, dass ihr Kind nicht blind von links nach rechts rennt, sondern dass es genau guckt, dann können sie es anleiten, die Aufgabe auch selbst zu übernehmen. Also nicht nur Sachen abnehmen, sondern immer nur so lange unterstützen, bis der Punkt erreicht ist, an dem mein Kind allein übernehmen kann. Die elterliche Funktion besteht darin, diesen Punkt zu erkennen und die Risiken, die jeder neue Freiheitsgrad mit sich bringt, zu minimieren.
„Die elterliche Funktion besteht unter anderem darin, ihr Kind nur so lange zu unterstützen, bis der Punkt erreicht ist, an dem es allein übernehmen kann.“
Prof. Dr. Stephan Bender
Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln
Vielen Helikoptereltern ist bewusst, dass sie mehr loslassen müssen. Wie können sie ihr Verhalten ändern?
Da gibt es zwei Ebenen, auf denen sie daran arbeiten können. Die erste ist eher eine gedankliche. Sie sollten sich bewusst machen, dass es nicht nur ihre Aufgabe ist, das Kind zu beschützen, sondern auch, Fähigkeiten zu fördern.
Die zweite Ebene ist die emotionale. Auf der ist das Wichtige, loszulassen und zu lernen, mit den eigenen Ängsten umzugehen. Sie können ihr Kind nicht ewig vor allem beschützen, sonst müssten sie es ja zu Hause einsperren. Sie können nur die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen, dass am Ende alles gut geht. Probleme kann es immer geben, aber sich darüber permanent Gedanken zu machen ist eher ein Charakteristikum bei Angststörungen.
„Helikoptereltern müssen lernen, ihre Ängste und Sorgen auszuhalten. Das ist ein Stück weit auch eine Entscheidung.“
Prof. Dr. Stephan Bender
Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln
Helikoptereltern sollten sich also weniger Sorgen machen?
Sorgen können total wichtig sein, sie lassen sich auch nicht ganz abstellen, aber sie sollten niemanden unglücklich machen und einengen. Eltern müssen lernen, diese Sorgen und Ängste auszuhalten. Das ist ein Stück weit auch eine Entscheidung. Es hilft, sich zu überlegen, wo muss ich mir Sorgen machen und wo nicht – dafür müssen Helikoptereltern ihren Kindern aber erst einmal die Möglichkeit geben, Dinge zu tun.
Wenn dann doch etwas passieren sollte, merken sie meistens, dass es gar nicht so schlimm war. Das Kind lebt und hat sogar noch was gelernt. Dieses Vertrauen in das Kind hilft ihm auch, Selbstvertrauen zu entwickeln.
Mein Kind gerät in einen Streit auf dem Spielplatz. Wie verhalten sich Helikoptereltern und welches Verhalten wäre angebracht?
Helikoptereltern würden sofort dazwischengehen und den Streit unterbinden, da sie Angst haben, dass etwas passiert. Eine angemessenere Reaktion wäre: Aufmerksam hingucken und unvoreingenommen beobachten. also weder mit der Einstellung, dass ich mein Kind jetzt verteidigen muss, noch mit der Einstellung, dass ich mich bloß nicht einmischen darf. Dabei können Eltern auch lernen, was für ein Verhaltensrepertoire das eigene Kind schon hat. Kriegt es sich beispielsweise emotional wieder in den Griff oder wird es einfach nur sauer und gewalttätig?
Hier spielt natürlich das Alter der Kinder eine Rolle. Wenn sich zwei Kleinkinder Sand in die Augen werfen, weil sie sich selbst noch nicht regulieren können, dann sollten Eltern dazwischengehen. Aber solange die Kinder das ausgehandelt bekommen, dürfen sich Eltern zurücklehnen. Sobald sie merken, dass die Kinder überfordert sind, können sie eingreifen und eine Anleitung für die Zukunft geben, etwa indem sie den Konflikt mit dem anderen Elternpaar beziehungsweise Elternteil stellvertretend klären.