Eltern
Wenn Kinder Wutausbrüche haben
Veröffentlicht am:06.11.2024
5 Minuten Lesedauer
Zum Kleinkind-Alter gehören Tobsuchtsanfälle dazu. Und auch in der Pubertät wird’s noch mal laut in der Familie. Doch wie viel Wut ist normal? Der Psychiater Prof. René Hurlemann gibt Familien Tipps für den Alltag.
Wutausbrüche bei Kleinkindern: ganz normal
Der Zweijährige tobt am Bonbonregal im Supermarkt, die Dreijährige wird im Sandkasten handgreiflich. Sollten sich Eltern bei solchen Wutausbrüchen Sorgen machen?
Prof. René Hurlemann: Nein, ein Kleinkind, das seiner Wut lautstark Ausdruck verleiht, lernt in dem Moment etwas Wichtiges.
Es lernt, wenn es die Kontrolle verliert?
Prof. René Hurlemann: Wut ist eines der stärksten menschlichen Gefühle. Sie hat eine wichtige Funktion, denn sie zeigt uns, dass jemand unsere Grenzen überschritten hat. Im Fall des Zweijährigen: Die Eltern verhindern, dass er seinen freien Willen auslebt. Und er ist noch nicht in der Lage, auf dieses Frustrationserleben vernünftig und sozial angemessen zu reagieren. Das lernt er erst durch Erfahrung.
Wie läuft dieser Lernprozess ab?
Prof. René Hurlemann: Im Gehirn eines Zweijährigen sind viele der Verschaltungen, die für die Gefühlskontrolle zuständig sind, noch nicht angelegt. Sie formen sich erst im Laufe des Heranwachsens aus. Im Idealfall lernen Kleinkinder durch Vorbild und Erfahrung: Auch Erwachsene ärgern sich gelegentlich sehr. Sie sprechen dann miteinander, streiten sich mal heftig. Aber sie schreien und toben im Regelfall nicht, sondern finden eine konstruktive Lösung, einen Kompromiss.
Emotionale Kompetenz erlernen
Und wie reagieren Eltern am besten im Moment des Tobsuchtsanfalls?
Prof. René Hurlemann: Sie bleiben ruhig und standfest in der Sache, äußern dabei aber Verständnis für das Kind und erklären ihm die Situation. Es merkt dann: Schreien bringt mich meinem Ziel nicht näher, und meine Eltern lieben mich auch dann, wenn ich wütend bin. Dadurch erlangt das Kind mit der Zeit emotionale Kompetenz.
Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Prof. René Hurlemann: Menschen, die emotional kompetent sind, nehmen nicht nur ihre positiven Gefühle wie Freude wahr, sondern auch die negativen wie Wut oder Traurigkeit. Sie setzen sich mit ihnen auseinander und können sie in Worte fassen. In einer Umgebung, in der Erwachsene ihren Zorn häufig durch verbale oder gar tätliche Gewalt äußern, ist es für Kinder sehr schwer, emotional kompetent zu werden.
Gibt es auch Kinder, die nie wütend werden?
Prof. René Hurlemann: Ja, aber als Therapeut werde ich hellhörig, wenn mir jemand so etwas erzählt. Wenn ein kleines Kind nie Wut äußert, dann spricht viel dafür, dass es dieses starke Gefühl nur unterdrückt. Eine mögliche Erklärung ist, dass das Kind schlicht Angst hat, weil zu Hause eine Atmosphäre der Einschüchterung herrscht. Einen ähnlichen Effekt hat übrigens eine andere beliebte Strategie: die sofortige Ablenkung von der Wut.
Nicht ablenken von der Wut
Aber damit hilft man dem Kind doch über die negativen Gefühle hinweg …
Prof. René Hurlemann: Kurzfristig schon. Und in der Öffentlichkeit erspart man sich zudem die möglicherweise peinlichen Blicke der Umstehenden. Aber langfristig wird das kindliche Gehirn mit dieser Methode ungünstig trainiert. Das Kind lernt nicht, auch einmal Frust und Enttäuschung auszuhalten, sondern dass es sich dann am besten ablenkt. Spätestens, wenn es mit Handy und Alkohol in Berührung kommt, kann sich diese Prägung nachteilig auswirken.
Warum kommt es in der Pubertät wieder vermehrt zu Wutausbrüchen?
Prof. René Hurlemann: In diesen Jahren stellen sich die Hormone um, Gehirn und Körper unterliegen starken Reifungsprozessen. Innerhalb des Gehirns schreitet der Umbau unterschiedlich schnell voran. Die Folge dieses Ungleichgewichts ist unter anderem eine höhere Risikobereitschaft. Starke Emotionen, impulsives Verhalten und gelegentliche Wutausbrüche sind jetzt normal. Ich rate Eltern, so entspannt wie möglich zu bleiben. Jetzt zählt, was man vorher aufgebaut hat: Vertrauen und Kommunikation. Für Eltern, die das wegen fehlender Vorbilder selbst nie gelernt haben, kann diese Phase zur großen Herausforderung werden.
Können wir diese Lernerfahrung als Erwachsene nicht mehr nachholen?
Prof. René Hurlemann: Doch, auf jeden Fall! Oft hilft es schon, überhaupt anzuerkennen, dass man ein starkes Gefühl wie Wut empfindet. Es ist zwar nicht leicht, aber man kann lernen, sie nicht einfach wegzureden, und sich auf die Suche nach Ursachen machen. Sich fragen: Woher kommt mein Zorn? Gibt es Probleme im Job oder in meiner Beziehung? Oder fällt mir vielleicht die Ablösung von meinem Kind schwer? Wenn man Klarheit findet, kann man aktiv werden und sich um Lösungen bemühen.
Ablenkung mit dem Handy
Werden die Gefühle von Kleinkindern häufig mithilfe des Handys beruhigt, fehlen ihnen vermehrt Strategien zur Gefühlsregulierung.
Universität Michigan, 2022
Bei anhaltenden Wutanfällen: Hilfe holen
Wie erkennt man, ab wann kindliche Wutanfälle doch nicht mehr normal sind?
Prof. René Hurlemann: Man sollte aufmerksam werden, wenn Häufigkeit und Intensität der negativen Emotionen eher zunehmen, obwohl man eine gute Kommunikation mit dem Kind gefunden hat. Oder wenn die Ausbrüche – vor allem tätliche Übergriffe – noch in der Grundschulzeit anhalten. Dass ein Kleinkind im Sandkasten mal schubst, ist normal. Wer in der zweiten Klasse aber noch tobt und schlägt, braucht zügig Hilfe.
Warum muss das zügig geschehen?
Prof. René Hurlemann: Erstens, weil das Kind wahrscheinlich ein Problem hat, das es nicht allein lösen kann. Und zweitens, weil es in einer solchen Situation leicht in einen Teufelskreis gerät, der einsam macht. Die anderen Kinder entfernen sich bei unsozialem Verhalten, das verstärkt häufig die Wut und wiederum die Ausbrüche. Dann sollte man zunächst den Kontakt zur Lehrerschaft suchen, möglicherweise auch zu einem Schulpsychologen oder einer -psychologin. Bei Jugendlichen ist besondere Behutsamkeit nötig. Hinter intensiver Wut können gravierende Probleme stecken– etwa Mobbing in der Schule. Dann vorsichtig nachfragen, Trost und Hilfe anbieten – vielleicht professionelle Unterstützung suchen, aber nur in Absprache mit den Jugendlichen.
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Quelle: Prof. Dr. Dr. Hurlemann
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