Eltern
Hilfreiche Regeln für den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen
Veröffentlicht am:09.09.2022
4 Minuten Lesedauer
Chatten, Podcasts hören, durch Feeds scrollen – Kinder verbringen viel Zeit in der Onlinewelt. Macht sie das automatisch süchtig? Nein, sagt Psychologin Dr. Isabel Brandhorst – und hält Verbote für keine gute Lösung.
Dr. Isabel Brandhorst ist Psychologin.
Sie leitet die Forschungsgruppe Internetbezogene Störungen und Computerspielsucht am Universitätsklinikum Tübingen und hat ein Online-Elterntraining entwickelt.
Kinder wachsen mit Smartphones, Tablets und Co auf. Wie viel Nutzungszeit gilt als unbedenklich?
Da gibt es keine klaren Regeln. Leider. Das würde es uns allen deutlich einfacher machen. Die Zeit allein ist nicht der entscheidende Faktor für eine gesunde Mediennutzung.
Woran erkennt man dann, ob Kinder zu viel online sind?
Wichtiger als die Frage nach der Zeit ist die Frage: Was wird verdrängt, wenn das Kind viel Zeit online verbringt? Schränkt dies die motorische, soziale oder sprachliche Entwicklung ein? Oder führt die Mediennutzung dazu, dass weniger Zeit für Freunde, Schule oder Familie bleibt?
Ab wann spricht man bei Kindern von Sucht?
Ich würde Kinder nicht als süchtig bezeichnen. Sucht setzt einen Kontrollverlust voraus, aber Kinder sind noch gar nicht voll in der Lage, Kontrolle und Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. Diese Fähigkeiten entwickeln sich erst im Laufe der Jugend. Kinder können aber ein problematisches Nutzungsverhalten zeigen.
Was passiert im Gehirn von Kindern, die häufig digitale Medien nutzen?
Unser Gehirn ist wie ein Muskel. Die stark beanspruchten Bereiche werden trainiert, andere hingegen verkümmern. Kinder, die beispielsweise sehr viel Zeit mit Computerspielen verbringen, sprechen weniger und machen weniger grob- und feinmotorische Erfahrungen. Diesen Hirnbereichen fehlt also das Training.
Welche Folgen kann der starke Konsum digitaler Medien haben?
Je mehr Zeit Kinder an Bildschirmen verbringen, desto schlechter schneiden sie in kognitiven Leistungs-, Motorik- und Sprachtests ab. Eine hohe Mediennutzung kann Konzentrationsprobleme, Übergewicht und Haltungsschäden mit sich bringen. Das hängt nicht unbedingt mit den digitalen Medien zusammen, sondern würde auch passieren, wenn man zehn Stunden am Tag Bücher liest.
„Kinder, die viel Zeit mit Computerspielen verbringen, sprechen weniger und machen weniger grob- und feinmotorische Erfahrungen.“
Dr. Isabel Brandhorst
Leiterin der Forschungsgruppe Internetbezogene Störungen und Computerspielsucht am Universitätsklinikum Tübingen
Macht es einen Unterschied, welche Medien Kinder und Jugendliche nutzen?
Vor allem in sozialen Netzwerken und bei Computerspielen beobachten wir sogenanntes suchtartiges Verhalten. In den Netzwerken spielt die Zahl der Likes oder Follower eine Rolle, und bei Computerspielen sind es die Erfolge. Wenn Kinder dort positives Feedback erleben, wird das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert und trainiert. Das Gehirn wird empfänglicher für diese Art der Reize und weniger empfänglich für analoge soziale Interaktionen. Viele Jugendliche haben deshalb Schwierigkeiten bei der sozialen Kommunikation und wenig Kompetenzen, was Telefonate angeht. Sie berichten zudem, dass sie sich durch die Kommunikation über Nachrichtendienste gestresst fühlen, weil sie das Gefühl haben, sofort antworten zu müssen. Man kann gemeinsam nach Lösungen suchen, etwa die Push-Funktionen ausstellen oder klare Zeitpunkte für die Nutzung festlegen.
Digitale Medien bieten ja auch einen Mehrwert, oder?
In den ersten drei Lebensjahren liegt der Fokus auf der sprachlichen, motorischen und emotionalen Entwicklung. Da bringen digitale Medien für Kinder keinen Zugewinn. Aber später bieten sie durchaus einen Mehrwert. Gerade wenn Kinder beim Lernen nicht motiviert sind oder Probleme haben, können digitale Lernangebote ein Anreiz sein. Sie sorgen natürlich auch für Unterhaltung.
SCHAU HIN!
Der Medienratgeber für Familien unterstützt seit 2003 Eltern und Erziehende dabei, ihre Kinder im Umgang mit Medien zu stärken.
Welche Zeichen deuten bei Jugendlichen auf eine problematische Mediennutzung hin?
Um eine Computerspiel- oder Internetnutzungsstörung handelt es sich, wenn bestimmte Kriterien über eine Dauer von zwölf Monaten erfüllt sind: Der Jugendliche kann die Nutzung nicht mehr kontrollieren, sie bestimmt den Alltag, und es zeigen sich negative Konsequenzen wie schlechtere Schulnoten. Hinweise darauf sind, dass sich Jugendliche zurückziehen, depressiv wirken, Schule, Hobbys oder Freunde vernachlässigen. Ich empfehle Eltern, auf ihr Bauchgefühl zu hören und Beratung in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel bei ihrem Kinder- und Jugendarzt.
Was können Eltern dann tun?
Als Erstes gehen sie am besten mit ihrem Kind ins Gespräch und äußern ihre Sorgen. Wichtig ist es, in Ich-Botschaften zu sprechen – also von den eigenen Beobachtungen erzählen und sagen, worüber man sich Gedanken macht. Das ist oft ein Türöffner und es fällt den Jugendlichen leichter, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Verbote sind keine Lösung. Sie sind unrealistisch, und es ist ja auch wichtig, dass Kinder Kompetenzen im Digitalen erwerben. Sie können dies jedoch nicht allein. Eltern sind entscheidende Begleiter. Sie tragen eine Erziehungsverantwortung und haben auch beim Thema Medien eine wichtige Vorbildfunktion.
Wie kann das funktionieren?
Feste Regeln wie ein Handyverbot beim Abendessen gelten am besten für alle Familienmitglieder. Wenn die Mutter oder der Vater währenddessen eine Nachricht bekommt, heißt es auch für sie: Pause.
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3 Tipps der Expertin für den Mediumkonsum in der Familie
- Gemeinsame Zeit: Halten Sie an Familienritualen und Traditionen fest, etwa dem gemeinsamen Abendessen oder dem Sonntagsausflug. Durch attraktive Alternativangebote lässt sich die Medienzeit besser begrenzen als durch Verbote.
- Begegnungen: Echte Treffen sind für Kinder und Jugendliche wichtig, um ihre soziale Kommunikationsfähigkeit zu üben. Etwa beim Sport, in Vereinen oder beim Musizieren.
- Teilhabe: Was macht mein Kind mit dem Smartphone? Wenn Eltern wissen, wo sich ihre Kinder aufhalten, können sie auf sie eingehen. Das gilt für die digitale Welt genauso wie für die analoge.