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Eltern

Was ist Mental Load und warum sind meist Frauen betroffen?

Veröffentlicht am:01.12.2021

8 Minuten Lesedauer

Es gibt eine versteckte Ungleichheit, die der Gleichberechtigung im Weg steht: Die sogenannte Mental Load. Gemeint sind die unsichtbaren To-dos, die Frauen tagtäglich abarbeiten. Die Diplom-Psychologin Patricia Cammarata erklärt, wie eine faire Aufgabenteilung funktionieren kann.

Mutter leidet unter Mental Load, weil sie neben der Arbeit auch noch Hausaufgaben mit ihrer Tochter machen muss.

© iStock / Dobrila Vignjevic

Patricia Cammarata, Diplom-Psychologin und Buchautorin

© Marcus Richter

Patricia Cammarata ist Diplom-Psychologin und Buchautorin („Raus aus der Mental Load-Falle“). Im Interview erläutert sie, warum die Mental Load in der Regel auf der Frau lastet, was Paare konkret dagegen tun können und welche gesellschaftliche Macht in einer gleichberechtigten Aufgabenplanung und -verteilung liegt.

Frau Cammarata, was versteht man unter Mental Load?

Am besten lässt es sich als Projektmanagement beschreiben. Wenn man sich die Sorgearbeit in der Familie als Eisberg vorstellt, gibt es einerseits den sichtbaren Teil der Aufgaben über der Wasseroberfläche, den sich viele Paare schon ganz gut untereinander aufteilen. Andererseits gibt es den unsichtbaren Teil unter der Wasseroberfläche. Dieser unsichtbare Teil ist die mentale Denkarbeit, die dafür sorgt, dass Sachen überhaupt erledigt werden. Dazu gehört:

  • Bedürfnisse antizipieren
  • Optionen abwägen
  • Entscheidungen treffen
  • Abarbeitungsstand kontrollieren

Anders formuliert: Es ist die ständig ratternde Liste im Kopf, mit der der Familienalltag aufrechterhalten wird.

Können wir das an einem Beispiel näher erläutern?

Ein klassisches Beispiel ist der Kindergeburtstag. Wenn das Kind eingeladen ist, muss die Mutter viel mentale Denkarbeit leisten. Also etwa:

  • Erst einmal regelmäßig den Schulranzen kontrollieren, um zu sehen, ob eine Einladung herausfällt.
  • Den Kalender checken, ob das Kind zu diesem Termin Zeit für die Feier hat. Eventuell den Leichtathletik-Kurs absagen, der zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hätte.
  • Planen, wie das Kind zur Feier kommt und wie es wieder nach Hause gelangt.
  • Wenn das Kind von den Eltern des Geburtstagskindes abgeholt wird, eine Vollmacht ausstellen und sie am entsprechenden Tag in den Schulranzen legen.
  • Ein Geschenk für das Geburtstagskind überlegen und dabei darauf achten, dass es sich nicht mit dem Geschenk im Vorjahr doppelt.
  • Entscheiden, wo das Geschenk gekauft wird.
  • Das Geschenk verpacken und sicherstellen, dass noch Geschenkpapier da ist.

Wird nun der Vater losgeschickt, um das Geschenk zu besorgen, glaubt dieser, er hätte sich um die Angelegenheit gekümmert, weil er den gesamten Prozess nicht sieht. So kann Streit entstehen. Er versteht nicht, dass die Mutter im Hintergrund schon viel mehr geleistet hat als er.

Sind denn wirklich nur Frauen von der Mental Load betroffen?

Die Mental Load kann auch in Männerhand liegen, aber in der Regel sind Frauen betroffen. Die Ursache dafür ist die Sozialisation. Frauen werden darauf geprägt, für die Familie verantwortlich zu sein. Und das unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Mütter, der viele ja schließlich nachgehen.

Es herrscht ein großes Ungleichgewicht, nicht nur bei der Mental Load, auch die „Gender Care Gap“ ist groß. (Frauen wenden pro Tag durchschnittlich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit wie Kinderbetreuung und Hausarbeit auf. Für die Corona-Pandemie liegen noch keine aktuellen Zahlen vor, das Ungleichgewicht ist aber noch einmal deutlich gestiegen. – Anm. d. Red.)

Die Kinderbetreuung liegt also nicht in der Natur der Frau?

Nein, es handelt sich hierbei nicht um etwas Angeborenes, hormonell Bestimmtes. Das ist ganz klar eine Zuschreibung, eine Prägung! Frauen wird sehr stark beigebracht, dass sie verantwortlich für die Kinderbetreuung und Hausarbeit sind. Männer hingegen werden so erzogen, dass es in ihrer Verantwortlichkeit liegt, das Geld für die Familie zu verdienen. Es liegt Frauen nicht im Blut, sich um Kinder zu kümmern, und Männern nicht im Blut, Geld zu verdienen.

Es ist auch nicht so, dass Mütter sich nach der Geburt besonders gut mit Babys auskennen, sie müssen diese Kompetenzen erst erlernen, genauso wie sie auch ein Mann erlernen kann.

„Kindererziehung ist nicht nur Frauensache. “

Patricia Cammarata
Diplom-Psychologin und Buchautorin

Kann die Elternzeit des Vaters eine Lösung sein?

Ja, je früher Männer bei der Betreuung eines Säuglings aktiv dabei sind, desto mehr Erfahrungen und Kompetenzen bauen sie auf. Sie können sich Fragen wie „Wie wickle ich mein Kind?“, „Welche Schuhgröße hat mein Kind?“ oder „Wie heißt die Erzieherin meines Kindes?“ selbst beantworten und brauchen dabei keine Hilfe ihrer Partnerin. Möglichst viel und früh dabei zu sein, macht einen sehr großen Unterschied.

Wieso klappt das in der Realität so selten?

Sehr viele Paare verhandeln die Aufgabenteilung und Gleichberechtigung leider nicht, bevor sie ein Kind bekommen, und rutschen so in die automatische, traditionelle Verteilung hinein. Paare sollten unbedingt vor der Geburt eines Kindes über dieses Thema sprechen.

Eine gleichberechtige Aufgabenverteilung wird begünstigt durch:

  • eine bewusst verhandelte Aufgabenteilung
  • geringe Einkommensunterschiede der Partner
  • starke Berufsorientierung der Mutter
  • familiäres Engagement des Vaters
  • qualitativ gute Kinderbetreuung

Nun steht die Gehaltsdifferenz der Gleichberechtigung ja oft im Weg. Was tun?

Hier sollten Paare nicht kurzfristig, sondern langfristig denken. Wenn man nicht daran arbeitet, dass auch die Frau mehr verdient, befindet man sich in einer Spirale, aus der man nicht mehr herauskommt. Natürlich ist es ein harter Weg hin zur Gleichberechtigung, aber das Gehaltsgefälle sollte kein Argument sein, diesen Weg nicht zu gehen.

Hinzu kommt, dass der größte Hebel nicht die Gehaltsdifferenz, sondern die Reduktion der männlichen Erwerbstätigkeit ist. Schon wenige Stunden, die der Vater seine Arbeitszeit reduziert und sich mehr in der Familie einbringt, können sehr viel bewegen und ein Weg aus der Mental-Load-Falle sein.

Welche Risiken birgt die Mental-Load-Falle für Frauen?

Die Verantwortungslast kann in eine Überlastung gehen und im Burn-out enden. Die SPD-Politikerin Renate Schmidt hat dazu mal einen Satz gesagt, den ich sehr zutreffend finde: Dass Frauen nicht zu 100 Prozent Berufsfrau, zu 100 Prozent Mutter und zu 100 Prozent Partnerin sein können, da sie sonst in kürzester Zeit ein 300-prozentiges Wrack sind.

Ein großes Problem ist auch die mangelnde Wertschätzung. Arbeiten, die man nicht sieht, werden nicht anerkannt.

Wie geht es raus aus der Mental-Load-Falle?

Das Wichtigste ist: Das Unsichtbare sichtbar machen. Sich also als Paar zusammen hinsetzen und schauen, welche Aufgaben in der Familie anfallen.

Beide Partner sollen sich wertgeschätzt fühlen, denn natürlich gibt es auch Aufgaben, die Männer erledigen. Typischerweise wären das Dinge, wie den Reifendruck des Autos vor dem Urlaub zu prüfen oder technische Geräte zu warten. Im Gespräch sollte sichtbar werden, wer was übernimmt. Außerdem sollten die Partner darüber nachdenken, welche Tätigkeiten aus Gewohnheit übernommen werden, ohne das zu hinterfragen. Oft kann das schon sehr aufschlussreich sein.

Die junge Mutter denkt beispielsweise, es wäre ihrem Partner wichtig, dass die Wohnung genauso sauber ist wie vor der Geburt des Kindes, wenn er abends nach Hause kommt. Dem Partner hingegen ist es viel wichtiger, dass die Mutter abends entspannter ist.

Um der Mental-Load-Falle zu entkommen, sollte regelmäßig miteinander gesprochen werden:

  • Fester Termin einmal in der Woche: Paare sollten einen Wochentag im Kalender notieren, an dem sie über anfallende Aufgaben in der kommenden Woche sprechen. Was ist konkret zu tun, wie lange dauert diese Aufgabe, wer denkt daran und wer erledigt sie? Auch wenn eine 50/50-Aufteilung nicht gelingt, werden die Tätigkeiten so sichtbar und der Partner kann Danke sagen. Das bewegt schon sehr viel.
  • Einmal im Monat Retroperspektive: Hier sollte darüber gesprochen werden, was gut gelaufen ist, was nicht, wo man sich weiter einbringen will, wie man sich gefühlt hat, als man neue Tätigkeiten übernommen hat. Es ist wichtig, sich hier gegenseitig abzuholen und sich wertzuschätzen, für das, was man alles gemeinsam leistet.
  • Stunden aufschreiben und aufrechnen: Wenn der Mann in Vollzeit und die Frau in Teilzeit arbeitet, ist es hilfreich, die Stunden gegeneinander aufzurechnen und anders zu verteilen. Vor allem bei der Betreuung kleiner Kinder kommt es schnell dazu, dass die Frau trotz Teilzeit pro Woche 20 Stunden mehr arbeitet als der Mann. Frauen haben meist keine Zeit, Feierabend zu machen, sie bringen Kinder abends ins Bett, haben Nacht- und auch Wochenendeinsätze.
Mann nimmt seiner Frau Mental Load ab und kocht gemeinsam mit dem Sohn das Essen.

© iStock / yulkapopkova

Wenn Väter sich viel einbringen und Aufgaben wie Kochen übernehmen, nimmt auch die Mental Load der Mütter ab.

Wie kann man die Mental Load konkret anders verteilen?

Mütter sollten keine Aufgaben delegieren, sondern ganze Prozesse.

Ein Beispiel: Am Donnerstag muss das Mittagessen für die Kinder in der Schule bestellt werden. Die Mutter sollte ihren Partner nicht donnerstags daran erinnern, dass er das Essen bestellen muss, sondern in Kauf nehmen, dass die Bestellung auch einmal nicht rausgeht. Wenn die Kinder sich dann beschweren, weil sie nicht ihr Wunschgericht bekommen haben, sollte sie auf den Papa verweisen, der ab jetzt für ihr Mittagessen zuständig ist.

Oder: Der Vater geht am Wochenende mit dem Kind auf den Spielplatz. Dann ist es auch seine Aufgabe, die Wickeltasche zu packen, Geld für Snacks dabei zu haben et cetera. Frauen sollten keine Convenient-Pakete zur Verfügung stellen und dem Vater dann auch nicht dazwischenfunken. Er ist ein erwachsener Mensch, der vielleicht einiges anders macht, als sie es machen würden, es aber trotzdem hinbekommt.

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Ist es ein Frauenproblem, Verantwortung nur schwer abgeben zu können?

Nein, das ist ein menschliches Problem. Wenn man sich für etwas hauptverantwortlich gefühlt hat, ist es schwer loszulassen. Das ist ja auch mit einem Projekt in der Arbeit vergleichbar. Es wurde viel Arbeit hineingesteckt und dann muss man es an einen Kollegen weiterreichen, das ist nicht einfach.

Ich kann hier nur den Tipp geben, das mit Humor zu nehmen und sich klarzumachen, dass ich weiterhin alles alleine machen werde, wenn ich die Verantwortung nicht abgebe.

Können Alleinerziehende etwas gegen die Mental Load tun, etwa weniger perfektionistisch sein?

Alleinerziehende haben es in dieser Hinsicht schwer, sie machen ohnehin schon Abstriche weg vom Perfektionismus. Mein Tipp geht deswegen an die Familien, in denen es mehr als nur einen Elternteil gibt: Sie können Solidarität mit Alleinerziehenden zeigen und diese finanziell und vom Aufwand her entlasten. Muss beispielsweise in der Schule ein Büffet organisiert werden, wäre es sinnvoll, einfache Aufträge, wie Orangensaft zu kaufen, Alleinerziehenden zu überlassen. An Elternabenden können sie ein Protokoll für sie schreiben, wenn sie nicht anwesend sein können, oder grundsätzlich über einen digitalen Elternabend nachdenken, der es Alleinerziehenden ermöglicht, immer dabei zu sein.

Betrifft die Mental Load auch Paare ohne Kinder?

Ja sicherlich, nur drückt das meist nicht so sehr. Viele Frauen ziehen sich den Schuh auch gerne an, weil sie wollen, dass es zu Hause sauber und gemütlich ist.

Die Frau kümmert sich dann darum, wann die Bettwäsche gewechselt werden muss, füllt die Seife nach, hat im Blick, ob genug Masken im Haus sind oder welches Geschenk für die Schwiegermutter infrage kommt.

Welche Konsequenzen hätte eine gleichberechtige Aufgabenteilung?

Eine gerechte Aufgabenteilung hat die Macht, die Gesellschaft zu verändern. Je mehr Väter sich einbringen, desto bewusster wird die Mental Load, die Frauen tragen. Kinder erlernen dabei ein neues Rollenbild: Sie sehen, dass es bei Aufgaben im Haushalt nicht um das Geschlecht geht.

Wir rotieren in unserer Familie bewusst Aufgaben, um unseren Kindern zu zeigen, dass auch Männer kochen, einen Krankheitstag nehmen und eine Wärmflasche machen können und Frauen eben auch das Back-up am Rechner übernehmen können.

Das gibt auch die Möglichkeit, ungeahnte Talente zu entdecken, bei denen man vielleicht vorher dachte, sie seien ein typisches Männerding. Oder man stellt eben fest, dass es in der Familie niemanden gibt, der handwerklich begabt ist und dass das völlig in Ordnung ist. Das nimmt Männern den Druck, dass sie diese vermeintlich männliche Eigenschaft haben müssen.

„Wenn Eltern Aufgaben fair aufteilen, sehen Kinder, dass es beim Haushalt nicht ums Geschlecht geht.“

Patricia Cammarata
Diplom-Psychologin und Buchautorin

Auch ältere Kinder können wunderbar in Aufgaben miteingebunden werden. Eltern können diesen Prozess begleiten und sich dadurch entlasten. Es ist nicht herzlos, Kindern Aufgaben zu übertragen, im Gegenteil: Sie fühlen sich dadurch selbsteffizient. Außerdem verstehen sie so, dass Organisation und Projektmanagement ein Familienthema ist, das man sich gut teilen kann.

Wir haben zum Beispiel ein Ritual beim gemeinsamen Abendessen, bei dem wir sichtbar machen: Wer hat gekocht, wer hat den Tisch gedeckt, wer hat das Essen auf die Essensliste gesetzt et cetera. Dann bedanken wir uns bei demjenigen. Der Effekt ist groß: Alle Familienmitglieder sehen, dass überall Arbeit drinsteckt, bevor es zu einem Ergebnis kommt, und schenken sich gegenseitig Wertschätzung.  

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