Zum Hauptinhalt springen
AOK WortmarkeAOK Lebensbaum
Gesundheitsmagazin

Kinder

Als Einzelkind aufwachsen: Vorteile und Nachteile

Veröffentlicht am:09.11.2023

5 Minuten Lesedauer

Das Klischee des verwöhnten und egoistischen Einzelkindes hält sich hartnäckig. Was ist an den Vorurteilen dran? Sind Kinder mit Geschwistern die besseren Teamplayer? Knüpfen Einzelkinder weniger gut Kontakte? Das sagt die Wissenschaft.

Junge Eltern mit Einzelkind.

© iStock / svetikd

Warum haben Einzelkinder mit Vorurteilen zu kämpfen?

Sie gelten als egoistisch, verzogen oder sozial schwierig – Einzelkinder haben mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Doch woher kommen die negativen Annahmen über geschwisterlose Kinder? Auf diese Frage hat auch die Wissenschaft keine eindeutige Antwort. Vermutlich resultieren die Vorurteile aus einer Kombination von historischen, kulturellen, sozialen und psychologischen Faktoren.

Vorurteile über Einzelkinder haben eine lange Geschichte

Der Mythos über das schwierige Einzelkind reicht bis in das Jahr 1896 zurück. Damals veröffentlichte der US-amerikanische Pädagoge Eugene William Bohannon eine Studie mit dem Titel „Peculiar and Exceptional Children“ (engl. für: Eigentümliche und außergewöhnliche Kinder). Mithilfe von Fragebögen wollte der Wissenschaftler mögliche Besonderheiten von Einzelkindern herausfinden. In den meisten Fällen beschrieben die Befragten Kinder ohne Geschwister als auffällig, verwöhnt, überempfindlich und hochnäsig. Diese Vorstellungen herrschten damals vermutlich in den Köpfen vieler Menschen vor, weil es keine Informationen gab, die dies widerlegten. Lange Zeit war diese Studie die einzige Quelle, die sich überhaupt mit Einzelkindern befasste. Die Studie erforschte aber lediglich die Einstellung der Gesellschaft zu Einzelkindern, sie untersuchte nicht das Sozialverhalten von Einzelkindern selbst.

Gesellschaftliche Gründe für den Einzelkind-Mythos

Lange Zeit war die Familienform der Großfamilie mit vielen Kindern vorherrschend. Frauen, die vor den 1940er-Jahren geboren wurden, bekamen im Durchschnitt mehr als zwei Kinder – Familien mit nur einem Kind fielen aus der Norm. Zwar wächst auch heute noch die Mehrzahl der Kinder mit Geschwistern auf, Einzelkinder sind aber keine Seltenheit mehr und gesellschaftlich akzeptiert – im Gegensatz zu den Nachkriegsjahren. Dennoch halten sich einige Vorurteile hartnäckig.

Sprachliche Gründe: Einzelkind gleich Einzelgänger?

Auch der Begriff selbst trägt womöglich zu Vorurteilen über Einzelkinder bei: So weckt das Wort „einzeln“ Assoziationen mit den Eigenschaften einsam, vereinzelt oder Einzelgänger, die unbewusst mit dem Einzelkind in Verbindung gebracht werden könnten. Im Lauf der Zeit hat sich ein bestimmtes Bild von Einzelkindern verfestigt, das bis heute von Vorurteilen belastet ist. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Einzelkinder nach wie vor oft als egozentrisch, unangenehm, einsam und unangepasst eingeschätzt werden.

Passende Artikel zum Thema

Welche Fakten liefert die Wissenschaft zu Einzelkindern?

Die Annahme, Einzelkinder seien im Vergleich zu Geschwisterkindern egoistischer oder einsamer, bestätigen neuere Studien nicht. Entwicklungspsychologen und -psychologinnen sehen keinen nennenswerten Unterschied im Sozialverhalten von Kindern, die mit oder ohne Geschwister aufwachsen. Das belegen verschiedene Studien:

  • Toni Falbo, Professorin für pädagogische Psychologie an der Universität Texas, erforscht Einzelkinder seit den 1970er-Jahren. Für ihre Übersichtsarbeit „Only Children and Personality Development: A Review“ (engl. für: Einzelkinder und Persönlichkeitsentwicklung: Ein Überblick) aus dem Jahr 1986 wertete sie mehr als 200 Studien zu diesem Thema im Hinblick auf bestimmte Bereiche wie Intelligenz, Charakter und Eltern-Kind-Beziehung aus. Das Ergebnis: Einzelkinder glichen in ihrer Entwicklung Erstgeborenen oder Kindern mit einem Geschwister. Einzelkinder pflegten jedoch eine engere Beziehung zu ihren Eltern als Geschwisterkinder.
  • Die Soziologin Judith Blake untersuchte in verschiedenen Studien aus den Jahren 1981 und 1989 den Zusammenhang zwischen Familiengröße und sozialen Bindungen. Auch sie konnte keine großen Unterschiede zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern feststellen, wenn es um das Knüpfen von Kontakten geht. Jedoch fand sie heraus, dass Einzelkinder mit Phasen des Alleinseins besser umgehen konnten.
  • Ein chinesisches Forschungsteam um den Psychologen Jiang Qiu fand im Jahr 2017 heraus: Einzelkinder sind weniger bereit, sich mit anderen zu arrangieren. Die Forschenden untersuchten mehr als 300 Kinder mit und ohne Geschwister in Bezug auf ihr Denkvermögen und ihre Persönlichkeit. In der Studie wurden Einzelkinder als etwas weniger kooperativ und hilfsbereit eingeschätzt. Dafür zeigten sie bei kniffligen Denkaufgaben kreativere Lösungen als Geschwisterkinder.
Im Vordergrund ist ein Junge im blauen Fußballtrikot von hinten zu sehen, der das Spielgeschehen seiner Mannschaft mit in die Hüfte gestemmtem Armen beobachtet.

© iStock / matimix

Kinder mit Geschwistern sind nicht automatisch die besseren Teamplayer: Es gibt keine Hinweise, dass Einzelkinder ein schlechteres Sozialverhalten haben.

Warum sind Unterschiede zwischen Einzel- und Geschwisterkindern so gering?

Im Gegensatz zu Geschwisterkindern haben Einzelkinder nicht ständig potenzielle Spielgefährten um sich. Sie müssen sich zu Hause allein beschäftigen und lernen nicht, zu teilen oder zu streiten – so denken viele. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass Einzelkinder wichtige Sozialisationserfahrungen verpassen. Doch die zitierten Studien belegen: Diese Annahmen sind nicht haltbar. Das soziale Netzwerk von Einzelkindern unterscheidet sich nicht gravierend von dem von Geschwisterkindern.

Zwar haben Einzelkinder zu Hause keine Schwestern und Brüder zum Spielen, doch allein sind sie deshalb nicht zwangsläufig. Sie besuchen häufiger schon früh eine Betreuungseinrichtung wie eine Krippe oder Tagespflege als Kinder mit Geschwistern. Einzelkinder werden öfter außerhalb der Familie und von nicht-familiären Bezugspersonen wie Freunden, Nachbarn oder Bekannten betreut. Im Schulalter nutzen Einzelkinder öfter Betreuungsangebote am Nachmittag. Das Klischee des einsamen Einzelkinds ohne soziale Erfahrungen bestätigt sich somit nicht. Im Gegenteil: Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Einzelkinder schon früh mit anderen Kindern und auch Erwachsenen Kontakt haben.

Der frühe Kontakt mit anderen Kindern in der Kita oder bei der Tagesmutter sowie der häufigere Wechsel von Betreuungspersonen könnte sogar dazu beitragen, dass Einzelkinder sich besonders flexibel auf neue Kontakte einlassen können. Größeren Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes als die Frage, ob es Geschwister hat oder nicht, haben nach Meinung der Psychologin Toni Falbo diese Faktoren: der Erziehungsstil der Eltern, das Bildungsniveau und die finanzielle Situation der Familie.

Ein weiterer Faktor wird häufig übersehen: Auch ältere Geschwister sind zumindest eine Zeitlang Einzelkinder und erfahren ebenso die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern.

Passende Artikel zum Thema

Als Einzelkind aufwachsen: mögliche Gründe

Umfragen zeigen, dass sich die meisten Eltern zwar zwei Kinder wünschen. Verschiedene Lebensumstände, persönliche Faktoren und Überlegungen tragen jedoch dazu bei, dass manche Eltern nur ein Kind bekommen. Dazu gehören unter anderem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie finanzielle Verpflichtungen.

Hat das Aufwachsen als Einzelkind mehr Vor- oder Nachteile?

Als Einzelkind aufzuwachsen hat nicht mehr und nicht weniger Vorteile als eine Kindheit mit Geschwistern. Einzelkinder können eine engere Bindung zu den Eltern und meist auch deren ungeteilte Aufmerksamkeit haben – Geschwisterkinder im ähnlichen Alter haben dafür oftmals schon in jungen Jahren Spielkameraden und Vertraute um sich herum. Gravierende Persönlichkeitsunterschiede zwischen Einzel- und Geschwisterkindern gibt es in der Regel jedoch nicht. Zumal Einzelkinder, die in der Kita oder der Nachmittagsbetreuung in der Schule betreut werden, mit ebenso vielen Gleichaltrigen in Kontakt kommen, wie Geschwisterkinder. Ihr soziales Netzwerk ist ähnlich. Das ändert sich auch im Alter nicht. Die Frage, ob Einzelkinder später einsamer sind, lässt sich daher klar mit „Nein“ beantworten. Sie haben zwar ein reduzierteres familiäres Umfeld. Bei ihnen sind es naturgemäß weniger Verwandte, zu denen sie Beziehungen haben. Schwager, Schwägerin, Nichte, Neffe – das haben Einzelkinder nicht. Die sozialen Beziehungen unterscheiden sich bei Einzelkindern jedoch kaum von Geschwisterkindern: Sie pflegen laut Untersuchungen stattdessen einen kleinen, aber festen Freundes- und Bekanntenkreis. Wenn Einzelkinder einsam sind, hat das eher weniger mit fehlenden Geschwisterkindern zu tun.

Waren diese Informationen hilfreich für Sie?

Noch nicht das Richtige gefunden?