Kinder
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung: Ursachen, Symptome und Therapiemöglichkeiten
Veröffentlicht am:28.01.2022
11 Minuten Lesedauer
Manche Eltern stellen sich die Frage, ob ihre Kinder nicht richtig zuhören wollen – oder vielleicht nicht richtig zuhören können. Ob womöglich eine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) vorliegt, erklärt Prof. Rainer Schönweiler.
Inhalte im Überblick
- AVWS: Beeinträchtigung trotz guten Gehörs
- Was beim Hören passiert und wie sich eine Störung bemerkbar macht
- Ursachen und Diagnose einer Auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung
- Mögliche Hinweise auf eine AVWS
- Therapieformen bei Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und ihre Erfolgsaussichten
- Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung: gute Therapiemöglichkeiten trotz komplexer Ursachen
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler ist Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und Mitglied der AVWS-Leitliniengruppe. Die Phoniatrie ist die medizinische Disziplin, die sich mit Störungen der Stimme, des Sprechens und des Schluckens befasst; die Pädaudiologie ist die Wissenschaft der Auditiven Wahrnehmung und von Hörstörungen im Kindesalter. Sie bilden eine selbständige Facharztdisziplin.
Bei der Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung handelt es sich um ein recht komplexes Krankheitsbild. Die betroffenen Menschen verfügen in der Regel über ein normales Hörvermögen – dennoch werden beispielsweise sprachliche Signale, die über das Gehör empfangen werden, nicht richtig interpretiert.
Was gehört alles zur auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung?
Hinter den Sinnesorganen steht immer das Gehirn, das die Sinneseindrücke – Sehen, Fühlen, Tasten, Riechen oder eben auch Hören – interpretiert, um Rückschlüsse zu ziehen. Beim Hören nennt man diesen Vorgang auditive Verarbeitung und Wahrnehmung. Experten unterscheiden zwischen den grundlegenden Vorgängen, die im Hirnstamm passieren und nicht trainingsfähig sind, und den Vorgängen, die im Großhirn ablaufen und trainierbar sind. Es gibt viele Kinder und Erwachsene mit AVWS, die in beiden Bereichen des zentralen Nervensystems Probleme haben. Sie haben Probleme, aus dem Hören Informationen zu gewinnen und diese dann richtig zu interpretieren, um daraus die richtige Handlung abzuleiten.
Bei den grundlegenden Vorgängen muss das Gehirn zum Beispiel in der Lage sein, die Schallrichtung zu erkennen und sehr ähnliche Sprachlaute auseinanderzuhalten, um verschiedene Wörter zu verstehen. „Tanne“ und „Kanne“ beispielsweise unterscheiden sich in einem einzigen Laut und diesen kleinen Unterschied muss das Gehirn registrieren und einer Bedeutung zuweisen. Weitere Leistungen sind, sich zu merken, was man gerade gehört hat, oder bestimmte Buchstaben herauszuhören, um schreiben zu lernen.
Wie äußert sich eine Störung der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung?
Kinder durchlaufen im Bereich der Hirnentwicklung bestimmte Kompetenzstadien – etwa die Sprachentwicklung oder Motorisches wie das Fahrradfahren. Diese Entwicklung von Kompetenzen passiert zu einer ganz bestimmten Zeit. Manche Kinder entwickeln bei einigen Leistungen Defizite oder einen Rückstand, beispielsweise beim Richtungsgehör, dessen Entwicklung an sich bis zum zweiten Lebensjahr abgeschlossen ist.
Das Erste, was man im Hinblick auf eine Störung registrieren kann, ist, dass ein Kind mit zwei Jahren den Kopf nicht genau genug in die angebotene Schallrichtung drehen kann. Das Kind macht zu viele Fehler und dreht den Kopf, wenn es etwas hört, nicht genau in die Richtung, aus der der Schall kommt. Dadurch deutet sich an, dass dieses Kind vielleicht ein Problem haben könnte.
„Das Erste, was man im Hinblick auf eine Störung registrieren kann, ist, dass ein Kind mit zwei Jahren den Kopf nicht genau genug in die angebotene Schallrichtung drehen kann.“
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler
Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Das kann man also schon im Kleinkindalter bemerken. Weitere AVWS-Symptome aber wohl erst später?
Andere Leistungen, zum Beispiel die Sprachlautunterscheidung, entwickeln sich im Laufe der Sprachentwicklung. Es gibt viele Kinder, die eine Aussprachestörung haben, weil sie eben nicht in der Lage sind, die verschiedenen Sprachlaute, die sehr ähnlich sind, auseinanderzuhalten. Andere Kinder hingegen haben Aussprachestörungen, weil sie die Laute motorisch nicht bilden können. Sie haben eine beeinträchtigte Feinmotorik des Mundes – das ist etwas anderes. Für Aussprachestörungen gibt es also verschiedene Ursachen und eine von diesen ist, Sprachlaute nicht unterscheiden zu können.
Eine weitere Gruppe stellen diejenigen Kinder dar, die sich nicht merken können, was man ihnen sagt, und es gleich wieder vergessen. Das ist auch ein Symptom von AVWS. Andere Symptome bemerkt man erst im Schulalter, wenn Kinder bei Diktaten die Reihenfolge von Buchstaben nicht richtig wiedergeben können und sie Wörter durcheinanderschreiben. In jeder Phase der kindlichen Entwicklung gibt es andere Symptome. Mit acht bis zehn Jahren ist die Wahrnehmungsentwicklung weitgehend abgeschlossen und es kommen nur noch wenige Leistungen hinzu. Die sind aber für die Kommunikation weniger wichtig.
Wenn mit zehn Jahren die auditive Wahrnehmungsentwicklung abgeschlossen ist – heißt das, dass eine AVWS immer schon im Kindesalter vorliegt und nicht erst im Erwachsenenalter auftreten kann?
Ja, eine AVWS kommt nicht plötzlich mit 20, sondern gilt als Entwicklungsstörung des Hörens in der Kindheit. Nach einem Schlaganfall oder einem Unfall können sich allerdings manche Erwachsene ähnlich wie Wahrnehmungsgestörte verhalten, wenn bestimmte Hirnregionen geschädigt oder verletzt sind. Außerdem wird diskutiert, ob alte Menschen eine Wahrnehmungsstörung bekommen, aber dieser Begriff ist mit Bezug auf Ältere sehr umstritten. Eher sieht man solche Symptome im Rahmen der normalen Alterung mit Gedächtnisverlust und so weiter. Auch in den AVWS-Leitlinien wird das nicht als Wahrnehmungsstörung bezeichnet.
Woher kommt eine AVWS?
Es ist eine Entwicklungsstörung, die jeden treffen kann, so wie zum Beispiel auch eine feinmotorische Entwicklungsstörung. Es gibt eben Krankheiten, bei denen man nicht genau weiß, woher sie kommen. Manchmal muss man einfach hinnehmen, dass nicht alles erklärbar ist – es gibt einen großen Anteil bei AVWS, bei dem sich konkrete Ursachen nicht nachweisen lassen. Theorien, ob vielleicht Sauerstoffmangel während der Geburt, ein schlechter Apgar-Index (erster Gesundheitscheck des Neugeborenen gleich nach der Geburt) oder Beatmung nach der Geburt ursächlich sein könnten, sind höchst spekulativ. Eine Eins-zu-eins-Verursachung kann bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden.
„Manchmal muss man einfach hinnehmen, dass nicht alles erklärbar ist – es gibt einen großen Anteil bei AVWS, bei dem sich konkrete Ursachen nicht nachweisen lassen.“
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler
Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Ist eine Fremdverursachung demnach ganz auszuschließen?
Nein, eine potenzielle Fremdverursachung sind inkonsequent behandelte Mittelohrprobleme. Es gibt Kinder, die im Kleinkindalter sehr viele Hörstörungsepisoden haben, beispielsweise durch Paukenergüsse – das sind nicht eitrige, nicht fieberhafte und nicht durch Bakterien hervorgerufene Flüssigkeits- oder Schleimansammlungen im Mittelohr, wodurch man schlechter hört. Solche Hörstörungen, die unregelmäßig auftreten und in ihrer Intensität schwanken können, bringen das Gehirn in der Entwicklung durcheinander und können Wahrnehmungsstörungen provozieren.
Wenn dann im Alter von beispielsweise sieben Jahren Wahrnehmungsstörungen diagnostiziert werden, sind diese Episoden von schwankendem schlechtem Hören längst überwunden – aber die Eltern berichten, dass mit zwei bis drei Jahren Paukenergüsse aufgetreten sind. Vielleicht stand man sogar vor einer Operation, die aber dann nicht oder zu spät durchgeführt wurde. Kinder, die häufig an Paukenergüssen leiden, sind also bedroht, an AVWS zu erkranken.
„Kinder, die häufig an Paukenergüssen leiden, sind bedroht, an AVWS zu erkranken.“
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler
Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Wie wird eine AVWS festgestellt?
Man muss phasengerecht untersuchen: Was müsste das Kind im entsprechenden Alter können und was kann es tatsächlich? Hat das Kind einen Rückstand? Wichtig ist auch, auszuschlie ßen, dass etwas anderes vorliegt, was die Symptome schlüssig erklärt – zum Beispiel eine geistige Behinderung. Bei einer geistigen Behinderung mit einem IQ von unter 65 hat man große Schwierigkeiten, schlechte Leistungen im Bereich der auditiven Wahrnehmung unabhängig von der Behinderung festzustellen. Das ist kaum diagnostizierbar. Das Verhältnis von der sogenannten Lernbehinderung und AVWS wird gerade diskutiert, aber eine Lernbehinderung sollte nicht die offensichtliche Ursache für AVWS sein.
Besteht ein Verhältnis zwischen AVWS und Schwerhörigkeit?
Was Schwerhörigkeit betrifft, so sind die meisten von AVWS Betroffenen normalhörig. Aber es kann sehr gut sein, dass ein innenohrschwerhöriges Kind AVWS als zweite Diagnose bekommt. Es gibt ja Läuse und Flöhe, also zwei Erkrankungen, die unabhängig voneinander auftreten können. Auch bei einem Kind mit einer Innenohrschwerhörigkeit und Hörgeräten kann also zusätzlich AVWS diagnostiziert werden. Typischerweise hören die von AVWS betroffenen Kinder aber normal.
Ab welchem Alter ist eine sichere AVWS-Diagnose möglich? Manche Experten gehen hier von einem Alter zwischen sechs und sieben Jahren aus.
Die für AVWS charakteristischen Merkmale lassen sich in diesem Alter gut erkennen. Aber auch schon an vierjährigen Kindern kann man testen, ob sie bestimmte Sprachlaute auseinanderhalten können, beispielsweise „s“ und „sch“ oder „k“ und „p“. Mit sogenannten Kinderaudiometrie-Anlagen lässt sich überprüfen, ob die Schallrichtung erkannt wird. Bei Kindern, deren Hauptproblem mangelndes Sprachverstehen bei störenden anderen Geräuschen ist, gibt es zum Beispiel verschiedene anerkannte Wort- und Satztests, um die Wahrnehmungsstörung festzustellen und zu quantifizieren. Auch, ob Kinder Buchstaben heraushören und sich etwas merken können, ist nachprüfbar.
Für all das gibt es bewährte Testverfahren, die mit geringer Fehlerbreite recht genau messen. So kann ich stark unterdurchschnittliche Leistungen in diesen Bereichen sehr gut ausmachen und die Diagnose stellen.
Wie oft wird AVWS diagnostiziert?
Zwischen drei und sieben Prozent der Bevölkerung sollen betroffen sein, ich glaube eher, unter fünf Prozent. In den Schulen gibt es erfahrungsgemäß bei bis zu 50 Schülern einen Betroffenen. Bei einem Drittel der Kinder, die von einer Legasthenie betroffen sind, wird übrigens zusätzlich eine AVWS diagnostiziert.
Ist AVWS eine Erkrankung oder eine Behinderung?
Es ist eine Erkrankung, die ganz klare medizinische Ursachen hat. Und es gibt eine genetische Prädisposition. Wir kennen Familien, in denen viele Mitglieder betroffen sind. Wir haben das „zuständige“ Gen noch nicht gefunden, aber die Familienanamnese sagt uns hier ganz klar, dass es familiäre Häufungen gibt, so wie es bei Legasthenie auch der Fall ist. Aber auch wenn wir sagen, dass es einen genetischen Hintergrund gibt, handelt sich bei AVWS um eine Krankheit, die als Folge unterschiedlicher Erkrankungen oder Vorbelastungen auftreten kann.
Aber es gibt AVWS-Kinder mit anerkanntem Grad der Schädigungsfolgen. Wie erklärt sich das?
Auch Krankheiten können zum Status der Behinderung führen. Ein verwandtes Beispiel: Von Innenohrschwerhörigkeit betroffene Kinder sind erst einmal krank. Messtechnisch lassen sich bestimmte Sinneszellen im Innenohr, die nicht funktionieren, direkt erfassen – die Störung lässt sich genau bestimmen, sodass dem Kind ein Grad der Behinderung zugewiesen werden kann – heute sagt man Grad der Schädigungsfolgen (GdS). Das gibt es auch bei AVWS.
Manche Eltern sagen, dass sie durch die Beeinträchtigung ihrer Kinder im Schulunterricht und durch Schwierigkeiten im Alltag so viel zusätzlich zu leisten haben wie bei einem behinderten Kind. Sie beantragen deswegen die Feststellung eines GdS – oft wird ein GdS von 10 bis 15 Prozent durchgesetzt. Entwicklungsstörungen sind Krankheiten, und daraus resultiert eine Behinderung, die dann auch amtlich festgestellt wird.
Reaktion auf Ansprache
Obwohl es gut hören kann, reagiert das Kind mit Verzögerung oder gar nicht, wenn es angesprochen wird.
Gedächtnis und Verständnis
Das Kind hat Probleme, sich an Gehörtes korrekt zu erinnern und dieses wiederzugeben. Zusätzliche Probleme können darin bestehen, Anweisungen auszuführen.
Verstehen trotz anderer Geräusche
Das Kind kann sich im Falle von Umgebungslärm nicht oder nur schlecht auf das konzentrieren, was ein Sprecher sagt.
Aussprache
Dem Kind unterlaufen auffällige Aussprachefehler. Zum Beispiel vertauscht es Silben, lässt Wortteile weg oder spricht sehr undeutlich.
Schreiben lernen
Das Kind hat beim Erlernen des Schreibens Schwierigkeiten, Laute korrekt in Schrift umzusetzen, es erkennt Laute nicht und kann sie schlecht auseinanderhalten.
Wie wird AVWS behandelt und mit welchem Erfolg?
Durch die verschiedenen Untersuchungen wird ermittelt, welche Störungen aus dem AVWS-Spektrum tatsächlich vorliegen. Dann können die einzelnen Punkte direkt angegangen werden. Wenn ein Kind beim Lautunterscheidungstest mehr Fehler macht als andere Kinder, kann man die Fähigkeit zur Lautunterscheidung trainieren, weil das eine Großhirnleistung ist. Das geschieht in Form einer Sprachtherapie – das ist im Übrigen präziser ausgedrückt als mit dem oft verwendeten Begriff „Logopädie“. AVWS wird auch von Sprachtherapeuten, akademischen Sprachtherapeuten, klinischen Linguisten und Stimm- und Atemlehrern behandelt. Ein weiterer Grund, warum der Begriff „Logopädie“ unpassend ist, wenn er für ein Heilmittel verwendet wird: Logopädie ist ein Studium bzw. ein Beruf.
Mit einer sogenannten rezeptiven Sprachtherapie lassen sich Lautunterscheidungsstörungen gut behandeln. Schon nach 20 Therapiestunden kommt es zu einer signifikanten Verbesserung der relevanten medizinstatistischen Werte. Neben Lautunterscheidung kann auch das Heraushören von Buchstaben gut geübt werden oder die Wahrnehmung und Verarbeitung von mehreren gleichzeitigen Sprechern.
„Mit einer sogenannten rezeptiven Sprachtherapie lassen sich Lautunterscheidungsstörungen gut behandeln.“
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler
Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Das Ultrakurzzeitgedächtnis oder Arbeitsgedächtnis, also der Anteil des Gedächtnisses, das der kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen dient, lässt sich weniger gut trainieren. Übungen zur Verbesserung werden zwar praktiziert, aber angesichts der ernüchternden Studienlage bin ich persönlich nicht davon überzeugt, dass sie in dem Maße sinnvoll sind, wie sie verordnet werden.
Kann man diese Störschallempfindlichkeit auch durch gezieltes Training therapieren?
Die Lösung für betroffene Kinder ist hier ein technisches Hilfsmittel. Weil sie weniger robust gegen Störschall sind, beseitigt man den Störschall. Das geschieht durch Funkhörsysteme, sog. Übertragungsanlagen. Mittels Funkübertragung des Signals eines Ansteckmikrofons zu einer Art Hörgerät bringt man deshalb den Schall des Lehrers ohne Störschall direkt ans Ohr des Kindes.
Hiervon ausgenommen sind solche Kinder, bei denen zusätzlich die Nebendiagnose Hyperakusis vorliegt (eine krankhafte Überempfindlichkeit gegenüber Umgebungsgeräuschen). Kinder mit Hyperakusis leiden zusätzlich oft noch an einem Asperger-Syndrom – eine bestimmte Form von Autismus – und die technischen Hilfsmittel, die bei nicht von Hyperakusis betroffenen AVWS-Kindern wirksam sind, erweisen sich hier als kontraproduktiv.
Ansonsten sind die Systeme aber sinnvoll und zielführend?
Sie funktionieren immer, wenn die Indikation richtig ist. Es gibt aber leider eine Tendenz zum Wildwuchs, das heißt, einige Ärzte verordnen Funksysteme, obwohl sie die notwendigen Tests nicht durchgeführt haben. In solchen Fällen sind die Systeme entweder gar nicht nötig oder eben kontraproduktiv, weil beispielsweise Asperger-Kinder die Lautstärke nicht vertragen. Nicht notwendige oder deplatzierte Funksysteme verursachen auch unnötige Kosten, vor allem die modernen digitalen Anlagen, mit denen mehrere Mikrofone angeschlossen werden können, die dann auch finanziert werden müssen.
Der verstärkte Einsatz von technischen Hilfsmitteln hängt direkt zusammen mit der voranschreitenden Inklusion: Kinder mit AVWS haben bis vor 20 Jahren meist Sprachheilschulen und in einigen Fällen Schulen für Schwerhörige besucht. Die Klassenräume dort waren schallgedämmt und die Sitzplatzabstände zu den Lehrern klein, sodass man keine Übertragungsanlagen benötigt hat.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung: gute Therapiemöglichkeiten trotz komplexer Ursachen
Das Interview mit Prof. Dr. Schönweiler zeichnet ein komplexes Bild der AVWS, was sowohl die Diagnose als auch den therapeutischen Handlungsrahmen betrifft. Die jeweilige konkrete Ursache einer AVWS mag im Einzelfall im Verborgenen bleiben, wenn aber Eltern, Ärzte, Therapeuten und Bezugspersonen wie Lehrer gut zusammenarbeiten, kann das betroffene Kind trotz AVWS ein integriertes Leben führen. Schon einfache Maßnahmen wie Blickkontakt bei Ansprache, die Verringerung von Hintergrundgeräuschen oder die Einbeziehung visueller Informationen in die Wissensvermittlung können hilfreich sein. Sprachtherapien, Übungen und gegebenenfalls Funksysteme sind zusätzliche Hilfsmöglichkeiten.