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Was ist das Prader-Willi-Syndrom?
Veröffentlicht am:05.11.2024
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Defekte in der Erbsubstanz sind für viele Krankheiten verantwortlich, auch für das Prader-Willi-Syndrom. Wie zeigt sich die seltene Erkrankung im Kindes- und Erwachsenenalter? Und gibt es eine Behandlung?
Was ist das Prader-Willi-Syndrom?
Beim Prader-Willi-Syndrom (PWS) handelt es sich um eine seltene genetisch bedingte Erkrankung, benannt nach der Kinderärztin Andrea Prader und dem Kinderarzt Heinrich Willi, die das Syndrom 1956 erstmals gemeinsam mit Alexis Labhart unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten genau beschrieben haben. Nur etwa eines von 16.000 Neugeborenen ist davon betroffen. Für das Prader-Willi-Syndrom ist ein Abschnitt auf dem langen Arm des Chromosoms
15 relevant. Drei unterschiedliche Störungen der Erbinformation können dem Syndrom zugrunde liegen. Der für das Prader-Willi-Syndrom typische Defekt wirkt sich unmittelbar auf Prozesse im Hypothalamus aus. Dieser kleine, aber wichtige Teil des Zwischenhirns ist ein Steuerungszentrum für viele Vorgänge im Körper – der Hypothalamus reguliert zum Beispiel die Nahrungs- und Wasseraufnahme, den Blutdruck und den Schlafrhythmus. Außerdem reguliert der Hypothalamus das Längenwachstum im Kindes- und Jugendalter sowie das Wachstum der Muskeln und der inneren Organe. Nicht zuletzt mischt der Hypothalamus auch im Sexual- und Gefühlsleben mit. Da im Hypothalamus so viele unterschiedliche Vorgänge gesteuert werden, sind auch die Symptome der Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom sehr vielfältig.
Welche Symptome haben Menschen mit Prader-Willi-Syndrom?
Das Prader-Willi-Syndrom äußert sich durch sehr verschiedene Symptome, die unterschiedlich schwer ausgeprägt sein können. Hauptmerkmale sind dabei:
- Kein Gefühl der Sättigung und eine ausgeprägte Lust am Essen, die auch zur Sucht werden kann.
- Mehr als 80 Prozent der Betroffenen knibbeln an der Haut, bis größere Wunden entstehen (Skin Picking).
- Kleinwuchs, wenig ausgeprägtes Schmerzempfinden, geringe Muskelstärke und wenig Muskelspannung (Muskelhypotonie) können auftreten.
- Die inneren und äußeren Geschlechtsorgane sind oft nur wenig ausgebildet. Jungen haben oft einen Hodenhochstand.
- Sozial schwieriges Verhalten und wenig Selbstkontrolle, was unter anderem zu Wutausbrüchen und anderen psychische Veränderungen führen kann.
- Betroffene sind oft kognitiv, sprachlich und geistig beeinträchtigt.
Wie kommt es zum Prader-Willi-Syndrom?
Die Entwicklung des menschlichen Körpers folgt einem genauen Bauplan. Unsere Erbsubstanz ist in 46 Chromosomen im Zellkern jeder einzelnen Körperzelle angelegt und enthält alle Informationen für den Aufbau und die Funktion des Organismus. Der vollständige Chromosomensatz besteht aus zwei Geschlechtschromosomen und 22 weiteren Chromosomenpaaren, die zusammen die Erbinformation von Mutter und Vater tragen. Doch nicht immer läuft alles nach Plan: Wenn der Körper die Eizellen und Samenzellen bildet, können sich spontane Veränderungen des Erbguts ergeben, es kann zu Genmutationen oder Chromosomenstörungen kommen. Genau das geschieht auf dem Chromosom 15 beim Prader-Willi-Syndrom. Das Besondere am Chromosom 15 ist, dass hier auch bei gesunden Menschen mehrere Gene nur auf dem väterlichen Chromosom aktiv sind und auf dem mütterlichen quasi stumm geschaltet sind. Wenn dann auch diese Informationen unvollständig oder gar nicht vorhanden sind, kommt das Kind mit dem Prader-Willi-Syndrom zur Welt.
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Frühe Anzeichen bestehen bereits in der Schwangerschaft
Das Prader-Willi-Syndrom kann sich bereits im Mutterleib zeigen: Schwangere beobachten oft, dass sich ihr Baby im Bauch nur wenig bewegt. Der Grund für die fehlende Aktivität ist eine Muskelschwäche, ein sehr frühes Anzeichen des Syndroms. Auch nach der Geburt erscheinen betroffene Säuglinge kraftlos – sie strampeln wenig und reagieren nur eingeschränkt auf ihre Umwelt. Meistens schlafen sie. Mit dem Heranwachsen zeigen die Kinder mehr Interesse an ihrer Umgebung und sind kräftiger. Die Kinder erlernen das freie Laufen meist verzögert, und es kommt aufgrund der schwachen Muskulatur öfter zu Stürzen und dadurch zu blauen Flecken.
Wie wird das Prader-Willi-Syndrom diagnostiziert?
Das Prader-Willi-Syndrom entsteht bei einem Funktionsverlust des väterlichen Chromosoms 15. Für diesen Funktionsverlust können drei verschiedene Mechanismen verantwortlich sein. In den meisten Fällen fehlt das väterlich geprägte Gen, manchmal stammen beide Chromosomen 15 von der Mutter und selten ist das väterliche Chromosom 15 durch eine chemische Veränderung inaktiv. Nur sehr selten besteht ein Wiederholungsrisiko für die Familie. Neugeborene mit dem Prader-Willi-Syndrom haben häufig ein charakteristisches Aussehen – sie können eine schmale Stirn besitzen, haben oft mandelförmige Augen, eine schmale Oberlippe und eine nach unten gebogene Mundspalte. Zeigen sich diese oder andere Symptome wie eine Muskelschwäche, können Ärzte und Ärztinnen anhand einer Blutprobe die Chromosomen auf genetische Veränderungen untersuchen.
Verlauf des Prader-Willi-Syndroms
Die Muskelschwäche bremst nicht nur die Aktivität von Ungeborenen und Babys, sondern kann sich auch auf die Fähigkeit zu saugen und zu schlucken auswirken. Die Kinder haben oft Probleme, Milch aus der Mutterbrust oder Flasche zu trinken, auch das Essen der Beikost kann zur Herausforderung werden. Die anfänglichen Ernährungsprobleme ändern sich jedoch schlagartig im Alter von etwa zwei bis drei Jahren. Bei den Kindern dreht sich nun nahezu alles um das Thema Essen – sie entwickeln eine regelrechte Esssucht, die sie bis ins Erwachsenenleben begleiten kann.
Weitere Symptome des Prader-Willi-Syndroms können sein:
- Kleinwuchs: Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom haben meist eine geringe Körpergröße: Frauen werden durchschnittlich 146 Zentimeter groß und Männer
152 Zentimeter. - Unfruchtbarkeit: Aufgrund einer Unterentwicklung der Geschlechtsorgane und einer verzögerten sowie unvollständigen körperlichen Entwicklung während der Pubertät sind Patienten und Patientinnen meist unfruchtbar. Außerdem ist der Sexualtrieb meist nur gering ausgeprägt.
- Gestörte geistige Entwicklung: Im Baby- und Kleinkindalter zeigen sich Probleme mit der grobmotorischen Entwicklung, zum Beispiel beim Gehen oder Sitzen. In der Schule fallen Kinder durch Lernschwierigkeiten und eine gestörte Sprachentwicklung auf.
- Verhaltensauffälligkeiten: Im Schulalter sind betroffene Kinder stärker als andere Kinder trotzig und können ausgeprägte Wutanfälle haben – im Jugendalter werden die Wutausbrüche beim Prader-Willi-Syndrom jedoch seltener.
Lebenserwartung und Therapie beim Prader-Willi-Syndrom
Wie alt Patienten und Patientinnen mit dem Syndrom werden können, hängt stark von ihrer Lebensweise ab. Eine übermäßige Zufuhr von Nahrung kann zu Übergewicht, Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen, die das Risiko für ein frühzeitiges Versterben erhöhen können. Grundsätzlich können Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom aber genauso alt werden wie Menschen ohne die genetisch bedingte Erkrankung. Allerdings sollten Therapien die Betroffenen ein Leben lang begleiten. Eine ausgewogene und kalorienreduzierte Ernährung sowie viel Bewegung beugen Übergewicht vor. Die Muskeln sollten regelmäßig trainiert werden, damit sie nicht an Kraft verlieren. Eine Physiotherapie fördert zudem die Grob- und Feinmotorik bei einer Muskelschwäche.
Wenn Sprachprobleme vorliegen, können Betroffene von einer Logopädie profitieren, die diese Störungen gezielt behandelt. Die Ergotherapie hilft Patienten und Patientinnen dabei, ihre Selbstständigkeit mit bestimmten Bewegungsabläufen aufrechtzuerhalten – hier kann zum Beispiel schon eine Schritt-für Schritt-Anleitung beim Ankleiden helfen. Außerdem können Kinder in einer Einrichtung für betreutes Wohnen und in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen in ein möglichst selbstständiges Leben begleitet werden. Wichtig ist, dass Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom ein vielseitiges Behandlungskonzept vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter erhalten.
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