Eltern
Vergiftung bei Kindern: Hilfe, mein Kind hat die Antibabypille genommen …
Veröffentlicht am:12.08.2020
5 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 04.05.2022
Für Eltern ein Albtraum: Unser Kind hat womöglich etwas Giftiges gegessen – Pillen, Beeren oder Pilze. Was tun? Wir fragen Prof. Florian Eyer. Er erklärt, worauf es im Notfall ankommt und wie Eltern am besten reagieren können.
Die Mutter greift im Halbschlaf nach der Salbe. Weil ihre Tochter zahnt, reibt sie das wunde Zahnfleisch der Kleinen regelmäßig mit einem schmerzstillenden Gel ein – auch nachts. Verschlafen schraubt sie den Tubendeckel ab. Erst beim Cremen fällt ihr auf, dass die Salbe anders riecht als sonst – und ist schlagartig hellwach. Als sie das Licht einschaltet, merkt die entsetzte Mutter, dass sie die falsche Tube erwischt hat: Engelwurzsalbe, ein Erkältungsbalsam! Ist das nicht giftig? Sofort wählt sie die Nummer des Giftnotrufs. Und ist damit eine von fast 40.000 besorgten Anruferinnen pro Jahr. „Bei etwa der Hälfte geht es dabei um Vergiftungen von Kindern unter 14 Jahren“, erklärt Prof. Florian Eyer, Klinischer Toxikologe und Leiter des Giftnotrufs an der Technischen Universität München.
Wo lauern im Haushalt die größten Gefahren für Kinder?
Am gefährlichsten sind tatsächlich Medikamente, die Erwachsene unabsichtlich irgendwo herumliegen lassen. Herzwirksame Präparate sind für Kinder besonders kritisch. Also: Beta-Blocker, Calciumantagonisten oder Digitalis-Präparate. Das Kind kann – entsprechend der Wirkung des Medikaments – einen niedrigen Blutdruck und eine niedrige Herzfrequenz bekommen. Das kann dann im schlimmsten Fall auch kritisch niedrig werden …
„Viele Eltern unterschätzen, wie findig schon kleinste Kinder darin sind, komplizierte Sicherheitsverschlüsse zu öffnen. Bitte aufpassen!“
Prof. Florian Eyer
Klinischer Toxikologe und Leiter des Giftnotrufs an der Technischen Universität München
Was macht man, wenn ein Kind ein Herzmedikament verschluckt hat?
Wenn es dem Kind wirklich schlecht geht, zuerst den Notruf 112 wählen – und danach beim Giftnotruf anrufen! Glücklicherweise sind die Einnahmemengen aber meist gering, weil Kinder naturgemäß keine Dinge mögen, die bitter schmecken. Und da gilt dann der alte Spruch von Paracelsus: „Die Dosis macht das Gift!“
Was ist mit Medikamenten wie beispielsweise der Engelwurzsalbe?
Das ist in der Regel ungefährlich. Wenn ein Kind aber zum Beispiel Omas Schilddrüsenhormone oder die Antibabypille der Mutter in größeren Mengen genommen hat, rate ich – nach Anruf beim Giftnotruf – zur Einnahme von Aktivkohle, um das Gift zu binden. Je früher, desto besser! Außerdem können die Kinder zur „Verdünnung“ des Medikaments ein Glas Wasser trinken. Bekommt das Kind allerdings Kopf- oder Bauchschmerzen oder wird es extrem schläfrig, sollte es unmittelbar einem Arzt vorgestellt werden!
Immer wieder hört man von Vergiftungen bei Kindern durch Nikotin. Kann das gefährlich werden?
Wir erleben das hier gelegentlich mit Liquids für E-Zigaretten, die Nikotin in flüssiger Form enthalten – und zwar in sehr hoher Konzentration. Das kann durchaus gefährlich werden! Deshalb sollte man die Kinder in der Klinik überwachen lassen, weil Nikotin Krämpfe oder Atemstörungen verursachen kann. Bei Zigarettenkippen ist die aufgenommene Menge meist zu gering. Bis zu etwa einer halben Zigarette entscheiden wir oft, dass die häusliche Beobachtung der Kinder ausreicht.
Wie gefährlich sind Waschmittel für Kinder?
Die meisten Waschmittel sind relativ ungefährlich, weil die Mittel heute nicht mehr so aggressiv sind wie früher. Nur mit den sogenannten „Liquid Caps“ kommt es häufiger zu leichteren bis mittelschweren Vergiftungen. Diese Waschmittelkapseln sehen für Kinder aus wie Bonbons. Das Waschmittel darin ist besonders stark konzentriert. Deshalb sollte man die Kapseln unbedingt außerhalb der Reichweite kleiner Kinder aufbewahren – oder auf den Kauf verzichten.
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Mit welchen Tipps lassen sich Vergiftungen bei Kindern vermeiden?
Viele Eltern unterschätzen, wie findig schon kleinste Kinder darin sind, komplizierte Sicherheitsverschlüsse zu öffnen. Bitte aufpassen! Außerdem haben wir in der vergangenen Saison gehäuft Fälle erlebt, in denen teilweise hochgiftige Pilze im eigenen Blumentopf gewachsen sind, weil die Sporen offenbar in die Blumenerde gelangt waren. Da reicht es dann nicht, uns ein Bild des Pilzes zu schicken. In solchen Fällen bitte anrufen! Überhaupt raten wir dazu, beim Verdacht einer Vergiftung immer zuerst den Giftnotruf zu wählen und nicht eigenmächtig zu handeln. Leider hält sich noch immer der Irrglaube, dass Milch bei Vergiftungen hilft. Das stimmt nicht! Im Gegenteil: Das Fett in der Milch kann die Giftaufnahme sogar verstärken …
„Beim Verdacht einer Vergiftung raten wir, immer zuerst den Giftnotruf zu wählen und nicht eigenmächtig zu handeln.“
Prof. Florian Eyer
Klinischer Toxikologe und Leiter des Giftnotrufs an der Technischen Universität München
Was hilft gegen eine Medikamentenvergiftung beim Kind?
Aktivkohle sollte man immer zu Hause haben! Dennoch sollte man sie erst nach Rücksprache mit uns einnehmen. Dasselbe gilt für Wasser. Bei Waschmitteln zum Beispiel könnte das Wasser die Schaumbildung noch verstärken. Da wäre es dann eher ratsam, ein Butterbrot zu essen und ein Entschäumungsmittel (aus der Apotheke) zu geben, um die Bläschen aufzulösen und dadurch die Atemwege freizuhalten.
Das kann alles Vergiftungen bei Kindern hervorrufen
Wenn man sich mal genau umschaut, sind Menschen eigentlich permanent von giftigen Dingen umgeben. Gerade für kleine Kinder können einige richtig gefährlich werden. Die Informationszentralen für Vergiftungen der verschiedenen Länder geben einen Überblick über alle möglichen Tiere, Stoffe oder Pflanzen in unserer Umgebung. Hier eine Auswahl:
Herbst-Zeitlose
Diese Pflanze wird häufig mit Bärlauch verwechselt. Sie enthält ein stark wirkendes Zellgift, das Colchizin. Bei dem Verdacht einer Vergiftung sollte sofort Aktivkohle gegeben und der Notruf gewählt werden.
Medikamente
Häufig werden die Fluorid-Tabletten von Kindern mit Jodid- oder Schilddrüsentabletten von Erwachsenen verwechselt. Bei geringen Gaben ist das meist unbedenklich, und die Giftnotrufzentrale wird eine häusliche Überwachung empfehlen.
Ätherische Öle
… riechen gut – haben aber oft eine toxische Wirkung. Besonders gefährlich: Eukalyptus- oder Pfefferminzöl. Anzeichen einer Vergiftung sind Atemnot, Krämpfe und Bewusstseinsveränderungen. Sofort den Giftnotruf kontaktieren!
Tollkirsche
Diese Früchte schmecken süß, sind aber giftig! Durch das darin enthaltene Gift Atropin können bei Kindern schon drei bis vier Beeren zur Vergiftung und zu einer Atemlähmung führen. Sofort Aktivkohle geben und den Notruf wählen!
Petermännchen
Unbekannt, aber giftig! Im flachen Wasser von Atlantik, Nord- und Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer wühlen sich die 15 bis 53 Zentimeter großen Fische im Sand ein, sodass nur noch ihre Rückenflosse mit dem Giftstachel herausragt. Eltern sollten sofort den Stachel entfernen und einen Arzt aufsuchen!
Pilze
Wenn möglich, den Pilz fotografieren oder Teile des Pilzes einpacken, damit ein Sachverständiger (vermittelt der Giftnotruf) den Pilz identifizieren kann. Deshalb unbedingt den Giftnotruf anrufen!
Schädlingsbekämpfung
Für Kinder können Schneckenkorn, Wühlmaus- und Insektengifte gefährlich werden. Bei einer Einnahme sollte immer der Giftnotruf kontaktiert werden!
Giftnotruf-Zentralen (Giftnotruf)
Berlin: 030 19 24 0
Giftnotruf der Charité für die Region Berlin-BrandenburgBonn: 0228 19 24 0
Informationszentrale gegen Vergiftungen Nordrhein-Westfalen, Giftzentrale Bonn Zentrum für Kinderheilkunde, Universitätsklinikum BonnErfurt: 0361 73 07 30
Gemeinsames Giftinformationszentrum (GGIZ Erfurt) der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in ErfurtFreiburg: 0761 19 24 0
Vergiftungs-Informations-Zentrale Freiburg (VIZ), Universitätsklinikum FreiburgGöttingen: 0551 19 24 0
Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (GIZ-Nord)Mainz: 06131 19 24 0
Giftinformationszentrum (GIZ) der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen, Klinische Toxikologie, Universitätsmedizin MainzMünchen: 089 19 24 0
Giftnotruf, Abteilung für Klinische Toxikologie Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München