Kinder
Auch Kinder haben Grenzen – Den Nachwuchs verstehen und fördern
Veröffentlicht am:18.03.2021
6 Minuten Lesedauer
Kinder müssen nicht nur lernen, Grenzen zu akzeptieren, auch eigene persönliche Grenzen durchzusetzen, ist entscheidend in der Entwicklung. Wie können Eltern den Nachwuchs dabei unterstützen, eigene Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen, zu äußern und dafür einzustehen? Michael Schulte-Markwort ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und kennt die Antwort auf diese Fragen.
Inhalte im Überblick
- Die einfachsten Situationen entschärfen
- Nein muss nichts Schlechtes bedeuten
- Erziehung heißt nicht, dass die Eltern alles vorschreiben können
- Was, wenn Kinder zu ängstlich sind?
- Die wichtige Beziehung zwischen Eltern und Kindern
- Ab wann ist ein Kind überhaupt dazu in der Lage, zu entscheiden, was es wirklich nicht will?
Herr Dr. Schulte-Markwort, „Jetzt bedank‘ Dich doch mal für das Geschenk“ – wir kennen es alle. Man sagt es dem Kind, das Kind will nicht. Wie reagiere ich als Mutter am besten in einer solchen Situation?
Gerade in solchen Situationen sollte es gut nachvollziehbar sein, dass Kinder einen eigenen Willen haben. Ich würde nie auf die Idee kommen, meine Kinder zu zwingen, eine Höflichkeitsregel einzuhalten, die mir wichtig ist. Ich kann doch nur immer dafür sorgen, dass ich im Vorleben von Beziehungen und Beziehungsstrukturen Kindern zeige, wie man Beziehungen lebt. Das oben genannte Beispiel ist ein Klassiker. Vielleicht hat sich das Kind ja gar nicht über das Geschenk der Oma, Tante oder wem auch immer gefreut. Wenn Kinder sich über etwas nicht freuen, sollten sie sich nicht bedanken müssen. Das ist nicht angemessen.
Wie entschärft man eine Situation, in der die Tante oder Oma einen Kuss oder eine Umarmung verlangt, das Kind das aber nicht möchte?
Kinder müssen in solchen Situationen von Eltern gestärkt werden. Körperliche Grenzüberschreitungen von Kindern finden ständig und ungefragt statt. Kleine Kinder werden von fremden Menschen angefasst, ihnen wird über das Haar gestreichelt. Das möchten Sie doch auch nicht, die Anforderung ist absurd! Ich erwarte, dass Menschen, die beispielsweise aus meinem familiären Umkreis kommen, eine eigene liebevolle Beziehung zu meinem Kind aufbauen. Wenn sie das schaffen, entsteht auch ein Vertrauensverhältnis und mein Kind freut sich, wenn die Tante oder die Oma zu Besuch kommt. Wenn die Tante immer übergriffig ist und vielleicht sowieso ein komisches Parfum oder einen klebrigen Lippenstift trägt, dann kann ich nicht erwarten, dass mein Kind sich freut. Ein Kind hat das Recht darauf, zu sagen: „Nein, ich küss‘ Dich nicht!“ Wenn sich das Kind eigentlich immer freut, aber bei einem Besuch dann mal knatschig ist, kann man es schon nachher beiseite nehmen und fragen, was los war.
„Ein Kind hat das Recht, nein zu sagen.“
Michael Schulte-Markwort
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
© Nina Grützmacher
Wie kann man ein Kind darauf vorbereiten, dass ein Nein nichts Schlimmes ist?
Das muss ich einerseits vorleben und auf der anderen Seite mein Kind immer ermuntern und ihm erklären: „Du darfst auch Nein sagen!“ Es ist etwas sehr Wichtiges, dass wir Kinder großziehen, die nicht zu allem „Ja und Amen“ sagen, sondern so selbstbewusst sind, dass sie auch sagen können, was sie nicht wollen und was ihnen nicht gefällt.
Sind Kinder selbstbewusster, wenn sie früh lernen, dass „Nein“ nichts Schlechtes ist?
Sie lernen, dass ein „Nein“ zum Leben dazugehört und sagen es leichter. Es gibt so viele Gelegenheiten, in denen es extrem wichtig ist, dass Kinder „Nein“ sagen und auf sich achten – zum Beispiel, wenn sich eine fremde Person nähert und das Kind mitnehmen möchte.
Was für Konsequenzen kann es haben, wenn ein Kind nie gelernt hat, „Nein“ zu sagen?
Dann entwickelt sich das jeweilige Kind zu einem überangepassten Menschen, der nicht genügend Selbstwertgefühl hat, weil er primär darauf ausgerichtet ist, sich der Umwelt anzupassen. Er wird nicht genügend auf sich selbst achten. Es gibt zwei Dinge, die wir jeden Tag neu aushandeln müssen. Zum einen ist das die Demokratie, zum anderen sind das die Beziehungen. Es geht in Beziehungen doch darum, eine gute Balance zu finden. Eine Beziehung ist dann liebevoll ausgeglichen, wenn der eine sagt: „Hey, mach das mal bitte für mich“, dann sagt es mal der andere, dann bekommt man ein Geschenk, dann kann man mal eine Bitte äußern und so weiter. Das müssen wir den Kindern vorleben und zeigen. Und dazu gehört ein „Nein“.
Der Grat zwischen Erziehung und dem freien Willen des Kindes scheint manchmal sehr schmal. In welchen Situationen darf man getrost hartnäckig bleiben und sagen „Doch, bitte mach das!“?
Das hängt total davon ab, mit welchem Selbstverständnis Eltern und Kinder ihre Beziehung gestalten. In unserer Klinik gibt es verschiedene partizipative Konzepte. Ein Konzept davon beinhaltet, dass es keine Stationszimmer mehr gibt und die Kinder immer an unseren Besprechungen zuhörend teilnehmen. Die Dokumentation über den Tag wird gemeinsam mit den Kindern gestaltet. Das kann dazu führen, dass es zwei verschiedene Dokumentationen gibt: Eine von dem medizinischen Fachpersonal und eine von dem Kind. Diese partizipativen Strukturen führen nicht dazu, dass die Kinder verwöhnt werden und alles ausnutzen. Im Gegenteil: Sie führen dazu, dass die Kinder früher mehr Verantwortung übernehmen. Wenn ich das Gefühl habe, dass das Kind sein Zimmer aufräumen sollte, muss ich mir als Erwachsener die Frage stellen: Wie respektvoll gehe ich mit den persönlichen Vorlieben meines Kindes um und wie viel davon ist meine eigene Ordnungsliebe, die ich meinem Kind aufzwinge?
Ich selbst bin sehr ordentlich und habe die Kinder in unserer Klinik dazu angeregt, verstärkt darauf zu achten, wie ihr Zimmer eigentlich aussieht. Ich gehe aber nicht davon aus, dass es meinem Ordnungsgrad entsprechen muss. Es muss für den Klinikalltag praktikabel sein – der Rest darf im Ermessen des Kindes bleiben. Meine Erfahrung ist, dass Kinder viel ordentlicher sind, wenn ich ihre Form der Ordnung akzeptiere. Sie haben einen anderen Sinn dafür. Wenn ich immer nur sagen würde, dass sie dieses oder jenes so zu machen hätten, wie ich es will, würde ich diesen Machtkampf haushoch verlieren.
Es geht also letztendlich um Druck, der durch das eigene Empfinden auf das Kind übertragen wird?
Ganz genau! Und das geht nicht. Wer bin ich denn, dass ich Druck auf mein Kind ausübe und meinen Willen durchsetzen will? Was mache ich zum Beispiel, wenn mein Kind eine Farbkombi anziehen will, die ich schrecklich finde? Ich könnte sagen: „Wie schrecklich siehst Du denn aus?“ Ich könnte es aber auch annehmen und sagen: „Du hast ja einen interessanten Geschmack.“ Kinder haben einen eigenen Willen. Es kann gar nicht sein, dass ich mich in allen Belangen durchsetze. Es kann immer nur darum gehen, dass ich die Beziehung zu meinem Kind jeden Tag liebevoll aushandele und dem Kind zeige, wie es auch anders geht.
„Wenn ich immer nur sagen würde, dass sie dieses oder jenes so zu machen hätten, wie ich es will, würde ich diesen Machtkampf haushoch verlieren. “
Michael Schulte-Markwort
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Vorleben ist also das A und O. Was passiert in den Familien, in denen eine liebevolle Erziehung auf Augenhöhe nicht funktioniert?
Da passieren zum Beispiel Gewalteskalationen und Dinge, die irgendwann in einer Spirale enden, aus der keiner ohne Hilfe rauskommt. Dann zählt Unterstützung.
Gibt es denn auch den umgekehrten Fall, dass Kinder zu oft dazu gebracht wurden, „Nein“, zu sagen?
Das habe ich persönlich noch nicht erlebt. Es gibt allerdings Kinder, die aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeit sehr umstellungssensitiv sind und sich schlecht auf neue Situationen einstellen können, schnell ängstlich sind und daher vorschnell nein sagen.
Wie geht man im Fall eines ängstlichen Kindes vor? Kann ich auch die Erzieherin/den Erzieher und die Lehrer meines Kindes darüber informieren, dass mein Kind dazu tendiert, zu schnell nein oder eben ja zu sagen?
Für die professionellen Helfer im pädagogischen System ist es wichtig zu wissen, mit welchen Persönlichkeiten sie zusammenarbeiten. Nur so können sie sich auch darauf einstellen. Die Frage ist, wie man dann darauf reagiert. Ich wünsche mir immer, dass Kinder da abgeholt werden, wo sie sind, und dann immer entsprechend liebevoll gefördert werden. Die derzeitigen Klassengrößen von 30 Schülern erschweren das enorm. Ich glaube auch nicht, dass Kinder unbedingt gerne mit 25 anderen Kindern in einem Raum sind, von Corona einmal abgesehen. Das erschwert das Lernen und ist ein großer sozialer Stress. Das Großraumbüro erlebt ja auch einen Rückgang.
Was hat es mit der Phrase „schön lieb sein“ auf sich, die Eltern manchmal gerne ihren Kindern mit auf den Weg geben? Kann man das überhaupt noch guten Gewissens sagen? Und hat „schön lieb sein“ nicht auch etwas damit zu tun, weniger Wiederworte zu geben?
Dagegen, lieb zu sein, ist grundsätzlich ja nichts einzuwenden. Ich verstehe jedoch die Problematik an der Aussage. Ich finde, dass das eine völlig überflüssige Botschaft an die Kinder ist. Ich würde immer sagen: „Sei zufrieden, hab Spaß!“ Das ist doch das Entscheidende. Ich traue meinem Kind damit auch eher zu, dass es sich in der sozialen Situation zurechtfindet. Wenn ich Kindern mit Respekt begegne, antworten sie auch mit Respekt.
Es kann durchaus zu Streit in der Familie führen, wenn man als Eltern ein vielleicht noch kleines Kind selbst entscheiden lässt – zum Beispiel, weil die Großeltern das nicht kennen und auch nicht gutheißen. Wie kann man solche Situationen entschärfen?
Naja, dann sollte man vielleicht klar sagen: „Hey, die Zeiten haben sich geändert.“ Erziehung funktioniert heute anders. Außerdem sollte man auch sagen: „Du bist die Oma (oder der Opa). Ich bin die Mutter (oder der Vater). Gib mir die Chance, meine Erziehung anzuwenden, traue es mir zu.“
Ab wann ist ein Kind überhaupt dazu in der Lage, zu entscheiden, was es wirklich nicht will?
Eigentlich bereits von Beginn an. Wenn es beispielsweise abgestillt wurde und die Kost auf Brei umgestellt wird, gibt es unterschiedliche Geschmacksrichtungen, die der kleine Mensch nicht mag – und angewidert wieder ausspuckt. Da können die Eltern machen, was sie wollen, das ist die erste eigene Entscheidung. Wenn Kinder merken, dass Eltern damit respektvoll umgehen, trauen sie sich eher, neue Dinge auszuprobieren. Sie werden neugierig, in einem guten Sinne. Dann kann man sich auch darauf verlassen, dass Kinder nicht zu schnell „Nein“ sagen, es sei denn, es sind ängstliche oder besonders wütende Kinder. Gesunde Kinder sagen weder vorschnell ja noch nein. Sie probieren aus.