Kinder
Parentifizierung: Wenn Kinder in Elternrollen gedrängt werden
Veröffentlicht am:04.11.2024
5 Minuten Lesedauer
Welche Folgen hat es, wenn Kinder in der Familie zu früh oder zu viel Verantwortung übernehmen müssen? Und wie schaffen es Betroffene, diese Strukturen und Dynamiken zu durchbrechen und aufzuarbeiten?
Parentifizierung verstehen: Bedeutung und Ursachen
Wenn Kinder in der Familie Rollen und Verantwortungen übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen vorbehalten sein sollten, nennt man diese soziale Umkehr der Rollen Parentifizierung. Der Begriff leitet sich aus den lateinischen Wörtern parentes (Eltern) und facere (machen) ab. Selbstverständlich können Kinder regelmäßige Pflichten übernehmen, wie den Müll rauszubringen oder sich mit um ein Haustier zu kümmern. Dazu können sowohl emotionale als auch praktische Aufgaben gehören. Von Parentifizierung spricht man erst, wenn Kindern von den Eltern übermäßige Fürsorgerollen und Verantwortlichkeiten übertragen werden, mit denen sie entwicklungsbedingt überfordert sind. Dieser Rollentausch tritt meist auf, wenn Eltern aufgrund von physischen oder psychischen Problemen, Trennungen, finanziellen Schwierigkeiten oder anderen Belastungen nicht in der Lage sind, ihre elterlichen Pflichten vollständig wahrzunehmen.
Unterschied zwischen emotionaler und instrumenteller Parentifizierung
Es gibt zwei Hauptformen der Parentifizierung: die emotionale und die instrumentelle. Bei der emotionalen Parentifizierung übernimmt das Kind die Rolle eines emotionalen Ansprechpartners und Betreuers für die Eltern oder Geschwister.
Das heißt unter anderem, dass das Kind als Vertrauter oder Ratgeber für ein oder beide Elternteile agieren und sie emotional unterstützen soll. Instrumentelle Parentifizierung hingegen bezieht sich auf praktische Aufgaben, die das Kind übernimmt, wie etwa Hausarbeit, die Betreuung der jüngeren Geschwister oder sich um die finanziellen Angelegenheiten der Familie zu kümmern.
Passende Artikel zum Thema
Hauptgründe für das Auftreten von Parentifizierung in Familien
Parentifizierung kann aus verschiedenen Gründen auftreten. Oftmals sind es familiäre Krisen, chronische Krankheiten oder Suchtprobleme der Eltern, die Kinder in die Elternrolle drängen. Auch die Erfahrung von Vernachlässigung in der Kindheit und psychische Erkrankungen der Eltern, wie Depressionen oder Angststörungen, können eine Ursache sein. Darüber hinaus können soziale und wirtschaftliche Stressoren, wie Armut oder Arbeitslosigkeit, dazu beitragen, dass Kinder übermäßige Verantwortung übernehmen müssen.
Emotionaler Druck und Verantwortung: Was parentifizierte Kinder spüren
Die emotionale Belastung für ein parentifiziertes Kind ist erheblich. Es kann sich ständig um das Wohl seiner Familie sorgen und ein starkes Pflichtgefühl empfinden. Oft entwickeln solche Kinder Angst vor dem Versagen oder Schuldgefühle, wenn sie glauben, den Erwartungen nicht gerecht zu werden.
Langfristig kann Parentifizierung zu erheblichen emotionalen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten führen. Betroffene können unter chronischem Stress, Angstzuständen und Depressionen leiden. Das ständige Verantwortungsgefühl kann zu einem geringen Selbstwertgefühl und Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen führen.
Die Folgen der Parentifizierung im Erwachsenenalter
Erwachsene, die als Kinder parentifiziert wurden, können mit verschiedenen psychischen und sozialen Problemen konfrontiert sein. Viele haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen, was zu Burnout und emotionaler Erschöpfung führen kann. Zudem neigen sie dazu, sich in Beziehungen übermäßig verantwortlich zu fühlen, und haben Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen und sich abzugrenzen. Je nach Ausprägung der Parentifizierung kann sich aus diesem emotionalen Missbrauch ein langfristiges Trauma entwickeln, das sich tiefgreifend auf die eigene Entwicklung auswirkt.
Beziehungsmuster und -probleme bei parentifizierten Erwachsenen
In zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen parentifizierte Erwachsene oft ein Muster von Überverantwortlichkeit und Selbstaufopferung.
Sie haben Schwierigkeiten, gesunde Grenzen zu setzen, und geraten häufig in Co-Abhängigkeit oder Beziehungen, in denen sie die Rolle des Versorgers übernehmen. Dies kann zu ungesunden Partnerschaften und Freundschaften führen, in denen sie ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen.
Der erste Schritt zur Bewältigung der Folgen von Parentifizierung besteht darin, das Problem zu erkennen und zu akzeptieren. Viele Betroffene sind sich nicht bewusst, wie sehr ihre Kindheitserfahrungen ihr Erwachsenenleben beeinflussen. Selbstreflexion und das Gespräch mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin können helfen, die eigene Situation klarer zu sehen.
Wege zur Überwindung der Probleme durch professionelle Hilfe
Professionelle Hilfe kann einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der Spätfolgen von Parentifizierung leisten. Therapieformen wie kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Therapie oder systemische Therapie können helfen, die zugrunde liegenden Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses besteht darin zu lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und für sich selbst zu sorgen.
Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse wahrnehmen
Ein wichtiger Schritt in der Bewältigung von Parentifizierung ist das Setzen von gesunden Grenzen. Dies beinhaltet, sich selbst zu erlauben, nein zu sagen und eigene Bedürfnisse zu priorisieren. Betroffene müssen lernen, dass es in Ordnung ist, sich um sich selbst zu kümmern und dass sie nicht für das Wohlergehen aller um sie herum verantwortlich sind.
Unterstützungsangebote und Ressourcen
Es gibt zahlreiche Therapeutinnen und Therapeuten sowie Beratungsstellen, die sich auf die Behandlung der Folgen von Parentifizierung spezialisiert haben. Betroffene sollten sich an eine Fachperson wenden, die Erfahrung mit diesem Thema hat. Beratungseinrichtungen bieten oft auch spezifische Programme für Menschen an, die unter den Folgen von Parentifizierung leiden.
Erste Hilfe für Betroffene
Selbsthilfegruppen und Angebote von Vereinen und Organisationen können eine wertvolle Ressource sein – auch schon für Kinder und Jugendliche. Der Austausch mit anderen Betroffenen und die Betreuung durch Menschen, die sich mit dem Thema auskennen, helfen dabei, sich weniger allein zu fühlen und praktische Bewältigungsstrategien zu erlernen. Um ein passendes Programm zu finden, ist es sinnvoll, online nach lokalen Angeboten zu suchen, etwa für Kinder von psychisch kranken Eltern oder Eltern mit Suchtproblemen beziehungsweise Hilfsgruppen, die sich mit Co-Abhängigkeiten oder Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzen.
Verantwortung der Gesellschaft
Häufig bleiben Themen wie psychische Erkrankungen und damit verbundene Co-Abhängigkeiten, Traumata und emotionaler Missbrauch im Privaten, weil sie im Zuge jahrzehntelanger Stigmatisierung schambehaftet sind. Gerade Kinder können meist noch gar nicht verstehen, dass in ihrer Familie etwas falsch läuft, und übernehmen so nicht nur ungesunde Muster, sondern geraten in problematische Dynamiken, die schwer zu durchbrechen sind und nachhaltig psychisch belasten.
Um das Bewusstsein für die Problematik der Parentifizierung zu schärfen und gleichzeitig Betroffenen die Scham zu nehmen, helfen niedrigschwellige Aufklärungs- und Hilfsangebote, die dort ansetzen, wo betroffene Kinder einen einfachen Zugang haben: In Kindergärten, Schulen, Jugendhäusern, Sportvereinen, auf Instagram und TikTok. So können zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer frühzeitig eingreifen, wenn ihnen etwas im Verhalten des Kindes auffällt. Doch auch sie brauchen Informationen und Material, am besten aber Unterstützung von Kinder- und Jugendpsychologinnen und -psychologen, um sensibel auf das Thema eingehen zu können. Bildung und Aufklärung können dazu beitragen, dass betroffene Kinder und Erwachsene die Hilfe bekommen, die sie brauchen, und tiefsitzende Kreisläufe zu durchbrechen und die entstandenen traumatischen Erlebnisse nicht auf die nächste Generation zu übertragen. Erste Anzeichen, die darauf hinweisen können, dass Kinder unter Parentifizierung leiden, sind:
- Leistungsabfall in der Schule
- Verschlossenheit und Ängstlichkeit
- ständige Müdigkeit
- übermäßig erwachsenes Verhalten
- Gereiztheit und schnelle Überforderung im Alltag
Keine Scham, Hilfe zu suchen
Die Erfahrungen und langfristigen Folgen von Parentifizierung können nur verarbeitet und überwunden werden, wenn sich die Betroffenen bewusst damit auseinandersetzen. Der erste Schritt ist dabei, die Kindheitserfahrungen zu reflektieren und sich bewusst zu machen, was genau geschehen ist – und dann sich selbst und die eigenen Gefühle und Erinnerungen ernst zu nehmen. Dies allein zu bewältigen ist schwer –für die Betroffenen selbst, aber auch für deren Angehörige. Offen darüber sprechen zu können, hilft sehr. Daher ist es ratsam, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Versorgungsangebot
Wenn ein nahestehender Mensch an einer Depression erkrankt, betrifft das auch die Angehörigen.
Der Familiencoach Depression kann Ihnen dabei helfen, den Alltag mit Erkrankten gut zu bewältigen.