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Mein Kind stottert: Was kann ich tun?

Veröffentlicht am:17.06.2021

8 Minuten Lesedauer

Wenn das Kind zu stottern beginnt, fürchten viele Eltern einen bleibenden Sprachfehler. Oft verschwindet die Sprachstörung im Kleinkindalter zwar von allein, in einigen Fällen wird daraus aber ein dauerhaftes Stottern. Das belastet Kinder und Eltern. Welche Ursachen kann Stottern haben? Und ab wann ist die Hilfe eines Logopäden sinnvoll? Diese Fragen beantworten der Sprachheilpädagoge und akademische Sprachtherapeut Georg Thum und die klinische Sprechwissenschaftlerin und „Frankini“-Therapie-Entwicklerin Emilia Rudolf.

Junges Mädchen trägt ein Headset

© iStock / Thurtell

Welche Ursachen kann Stottern haben?

Stottern ist eine sogenannte Redeflussstörung, von der in Deutschland etwa 800.000 Menschen betroffen sind. Meistens setzt Stottern im Alter von zwei bis sechs Jahren ein. Jungs stottern dabei etwa fünfmal so häufig wie Mädchen.

Doch was sind die Ursachen des Stotterns? „Man weiß bisher, dass Stottern eine hohe Vererbbarkeit hat“, so Georg Thum, Leiter der Beratungsstelle Stottern der LMU München. „Die Vererbbarkeit liegt bei 40 Prozent. Das bedeutet, dass Menschen, die stottern, meistens auch stotternde Angehörige im Familienkreis haben.“

Aber auch organische, in diesem Falle neurologische Gründe, spielen beim Stottern eine Rolle. Sprechtherapeutin Emilia Rudolf erklärt dies so: „Es gibt sowohl anatomische Veränderungen als auch Veränderungen in den neurophysiologischen Abläufen. Man könnte also sagen, dass das Sprechzentrum, also die Hirnkommunikation nicht störungsfrei funktioniert.“

Georg Thum, der vor allem mit stotternden Kindern arbeitet, erklärt dies den Eltern gerne so: „Wenn Sie einen Film streamen wollen und die Datenverbindung nicht stark genug ist, dann fängt der Film an zu ruckeln. Ganz vereinfacht dargestellt ist die Übertragungsgeschwindigkeit beim Stottern einfach nicht so schnell. Dabei funktionieren die Sprechwerkzeuge, also die Lippen, die Zähne, die Zunge, einwandfrei. Es scheitert lediglich an der Übertragung. Und eben nicht am Fernseher.“

Es sind demnach zwei Ursachen, die für das Stottern verantwortlich sind, die Vererbung und die Neurologie. „Alles, was sonst so kursiert, ist wiederlegt“, erklärt Emilia Rudolf. „Das reicht von Atemfehlern bis hin zu Atemstörungen. Es gibt auch kein traumatisches Erlebnis, welches das Stottern verursacht. Allerdings können spezielle Situationen zum Stottern beitragen, es aber nicht verursachen.“

Warum stottern einige Menschen und ab welchem Zeitpunkt ist Logopädie sinnvoll? Antworten gibt Doc Felix.

Bis zu welchem Grad ist Stottern im Kleinkindalter harmlos, ab wann sollte ein Logopäde hinzugezogen werden?

Häufig, so erzählt Georg Thum von seinen Erlebnissen mit Kindern, tritt das Stottern ganz plötzlich auf. „Was ist denn da nur passiert?, fragen sich die Eltern dann. Mein Kind ist vom Baum gefallen, das muss ein Schock gewesen sein. Oder: Wir lassen uns gerade scheiden, sicherlich liegt es daran. Man findet immer irgendetwas und es werden oft irgendwelche Zusammenhänge geknüpft. Aber: Das kann niemals die Ursache des Stotterns sein.“

Viel wichtiger ist es, so Thum, dass Eltern genau hinschauen sollten in dieser Phase ihrer Kinder, denn Stottern entsteht ab circa zwei Jahren. Das bestätigen auch mehrere Studien, die außerdem besagen, dass das Stottern bei etwa 40 bis 50 Prozent der Kinder plötzlich auftritt, innerhalb von ein bis drei Tagen, und sich dann über ein bis drei Wochen manifestieren, also festigen, kann.

Für Eltern ist dies eine schwierige Zeit, wenn ihr Kind plötzlich Schwierigkeiten beim Sprechen hat. Doch gibt es konkrete Anzeichen, ob es sich wirklich um ein Stottern handelt?

Zunächst unterscheidet man bei Redeflussstörungen zwischen funktionalen Unflüssigkeiten und stottertypischen Unflüssigkeiten:

Funktionale Unflüssigkeiten

„Es gibt sehr viele Kinder“, so Emilia Rudolf, „die im Kleinkindalter funktionale Unflüssigkeiten zeigen. Das liegt an der Sprachentwicklung und da kommt so einiges aus dem Lot. Es zeigen sich dann typische Wiederholungen von ganzen Wörtern oder von ganzen Satzteilen: ‚Also dann war ich, dann, dann war ich, also dann war ich …‘ Das sind ganz typische, altersgemäße Wiederholungen und völlig normal. Wir Logopäden sagen dann immer: Normal ist es, wenn es eine Funktion hat. Wenn das Kind erstmal nachdenken muss, es etwas betonen möchte und ein Wort nicht findet. Auch ganz typisch ist, dass funktionale Unflüssigkeiten immer locker sind, es ist also keine Anspannung zu sehen.“

Beispiele für normale, funktionale Unflüssigkeiten bei Kleinkindern sind laut Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) folgende:

  • Pausen
    Beispiel: „Ich habe das ääähm weggeworfen“ oder „Ich habe das --- weggeworfen.“
  • Revisionen (Änderung, Abänderung) von Wörtern und Wortverbindungen
    Beispiel: „Das ist ein schönes – kein schönes Programm"
  • Wiederholung von Wörtern
    Beispiel: "Lässt sich das – lässt sich das nicht besser machen?"
  • Abgebrochene Wörter
    Beispiel: “Das hat auch noch niemand ver...“

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Stottertypische Unflüssigkeiten

„Bei den stottertypischen Unflüssigkeiten“, so Emilia Rudolf, „kommt die Anspannung dazu oder die Lautwiederholungen. Man kann das manchmal richtig sehen. Und hinzu kommen noch die Blockaden. Das ist nie funktional. Wenn also ein Wort richtig klemmt, ist das immer ohne Funktion. Und dann geht man davon aus, dass ein Kind stottert!“

Beispiele für stottertypische Unflüssigkeiten sind laut AWMF folgende:

  • Wiederholungen von Lauten, Silben oder einsilbigen Worten
    Beispiel: „I-I-I-Ich – ich will jetzt auch mal was sagen.“
    Ein Wort bzw. eine Silbe wird unflüssig gesprochen, obwohl mehrere Laut- und Silbenwiederholungen und eine stille Pause vorkommen.
  • Lautdehnungen
    Beispiel: „LLLLLass mich in Ruhe!“
  • Wortunterbrechungen
    Beispiel: gefüllte oder stille Pausen innerhalb eines Wortes: „Regen ---- tonne“
  • Blockierungen
    Beispiel: „Ich --- kann das nicht.“
    Das /k/ wurde mit Anspannung gesprochen, die in der vorherigen Pause aufgebaut wurde.

Wenn ein Kind solche Unflüssigkeiten beim Sprechen zeigt und Eltern sich bereits große Sorgen machen, dann sollte man, so Emilia Rudolf, unbedingt zum Kinderarzt beziehungsweise zum Logopäden gehen: „Denn gerade Eltern nehmen großen Einfluss darauf, wie wohl sich Kinder beim Sprechen fühlen können.“

Wichtig für besorge Eltern ist vielleicht auch folgender Rat von Emilia Rudolf: „Gibt es ein halbes Jahr lang keine Veränderungen und Verbesserungen und zeigen sich Blockaden oder körperliche Spannungen beim Sprechen – bewegt sich das Kind beispielsweise beim Sprechen stark mit, dann ist es immer wichtig, frühzeitig zu einem Arzt zu gehen!“ 

Denn auch der Zeitpunkt ist bei der Behandlung entscheidend. „Ein früher Behandlungsbeginn kann eine Heilung begünstigen. Haben aber weder das Kind noch die Eltern einen Leidensdruck, kann man durchaus bis zu sechs Monate abwarten, ob das Stottern wieder zurückgeht. Wichtig ist es immer, auf die Risikofaktoren zu schauen. Ist eine genetische Disposition vorhanden? Handelt es sich um einen Jungen? Dann sollte man das Stottern zeitnah abklären lassen“, so Georg Thum.

Auch die Symptomatik des ersten Stotterns ist wichtig: Verändert sich das Stottern und ist es manchmal tagelang gar nicht da, spricht das eher dafür, dass sich das Stottern wieder legen kann. Wird das Stottern stärker, sollte man es abklären lassen. Eine gute Möglichkeit sind dafür auch die kinderärztlichen Untersuchungen. Unter anderem bei der U7a, U8 und U9 findet eine Befragung der Eltern zur Sprachentwicklung statt. Meistens lässt sich dann schon klären, ob ein Kind stottert und ob ein Gang zum Logopäden sinnvoll ist.

„Viele Menschen, die stottern, entwickeln ein sogenanntes Vorbeugeverhalten, um ihr Stottern zu verstecken.“

Georg Thum
Sprachheilpädagoge, akademischer Sprachtherapeut und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Welche Therapien und Behandlungsmöglichkeiten gibt es derzeit?

Viele Menschen, die stottern, entwickeln ein sogenanntes Vorbeugeverhalten, um ihr Stottern zu verstecken. „Sie entwickeln Tricks und tun beispielsweise so, als wenn sie überlegen würden, um nicht antworten zu müssen, wenn ein Stottergefühl auftritt“, so Georg Thum. „Vor allem stotternde Kinder melden sich in der Schule weniger, bekommen schlechtere Noten, weil sie Angst haben sich zu melden. Es entstehen regelrechte Sprechängste.“ Um dies zu verhindern, gibt es für stotternde Erwachsene und Kinder verschiedene Therapien und Behandlungsansätze.

Mutter und Sohn spielen zusammen auf dem Boden.

© iStock / Geber86

Meistens setzt Stottern im Alter von zwei bis sechs Jahren ein.

Die medizinischen AWMF-S3-Leitlinien „Redeflussstörungen“ unterscheiden diese fünf Therapie-Verfahren:

  • Verfahren der Sprechrestrukturierung, wobei die gebräuchlichste Form das „Fluency Shaping“ ist, wie z. B. die „Kasseler Stottertherapie“. Hier handelt es sich um ein verhaltenstherapeutisches Übungsverfahren, bei dem eine neuartige Sprechweise erlernt wird, die stottertypische Unflüssigkeiten nicht aufkommen lässt oder vermeiden soll. Geeignet ist dieses Verfahren für Kinder ab 12 Jahren und für Erwachsene. Dabei gibt es Hinweise, dass Kinder zwischen 6 und 11 Jahren ebenfalls von dieser Therapieform profitieren können. Für dieses Therapieverfahren besteht derzeit die größte empirische Evidenz. 
  • Verfahren der Stottermodifikation haben die Bearbeitung der auftretenden Stotterereignisse als Ziel, dazu gehören der „Kids-Ansatz“ (Kinder dürfen stottern) für Kinder und Jugendliche und MINI-Kids für Kinder im Vorschulalter sowie „IMS“ (Intensiv-Modifikation-Stottern) für Jugendliche und Erwachsene. Bei diesen Therapien wird eine Sprechtechnik eingeführt, die es ermöglicht, direkt in der gestotterten Silbe das fehlgesteuerte automatisierte Sprechen zu stoppen und diese mit einer bewusst geführten Artikulationsbewegung zu realisieren. Auch die psychosoziale Belastung durch das Stottern soll so reduziert werden und ist für Kinder und Erwachsene geeignet.
  • Ein Mix aus Sprechrestrukturierung und Stottermodifikation ist beispielsweise „SAS“ (Stärker als Stottern), oder die „BST“ (Bonner Stottertherapie). Sie sind geeignet für Kinder ab 12 Jahren und für Erwachsene.
  • Operante Verfahren (Verhaltenstherapie), unter anderem das australische Lidcombe-Programm, beruhen auf dem Prinzip des Lernens eines neuen Sprechverhaltens. Sie werden unter konstanter Mitarbeit der Eltern durchgeführt. Flüssiges Sprechen wird positiv verstärkt und auftretende Stotterereignisse sanft korrigiert, geeignet für Kinder von 3 bis 6 Jahren.
  • Indirekte Verfahren und Methoden, beispielsweise im „PCI-Ansatz“ (Parent-Child-Interaction, erfordern die Mitarbeit der Eltern, unter denen die Sprechflüssigkeit des Kindes zunehmen soll, beispielsweise Verlangsamung des Sprechvorbildes, aber auch sprachliche Vereinfachungen und gelassene Reaktionen auf das Stottern, einsetzbar bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren.

Frankini-Programm für Kindergartenkinder

Speziell für Kinder haben Dr. Alexander Wolf von Gudenberg, Entwickler der „Kasseler Stottertherapie“ und seine Mitarbeiterinnen, wie die Sprechwissenschaftlerin Emilia Rudolf, das sogenannte Frankini-Programm für Kindergartenkinder entwickelt:

„Frankini ist eine vorwiegend online durchgeführte Kombination aus indirekter Elternberatung und direktem Sprechtraining mit den Kindern“, so Emilia Rudolf. „Die Sprechtechnik nennt man ‚weiches Sprechen‘. Wir strukturieren das Sprechen dabei generell um. Uns geht es nicht um die einzelnen Stottermomente, sondern wir versuchen durch ein weiches Hineingehen in einen Satz, diesen leichter durchlaufen zu lassen.“

„Frankini ist eine vorwiegend online durchgeführte Kombination aus indirekter Elternberatung und direktem Sprechtraining mit den Kindern.“

Emilia Rudolf
Klinische Sprechwissenschaftlerin und Mitentwicklerin der Kasseler Stottertherapie „Frankini"

Das Frankini-Programm gilt dabei als eine Kombination aus den oben genannten Therapieverfahren. Dabei spielt auch die Mitarbeit der Eltern eine entscheidende Rolle: „Wir arbeiten bei Frankini ein halbes Jahr mit den Eltern“, erzählt Emilia Rudolf, die zunächst einmal die Eltern schult, damit sie sich sicherer im Umgang mit Stottern fühlen. „Nach einem halben Jahr kann man dann mit dem weichen Sprechen für Kinder beginnen. Die Kinder lernen dann so eine Art Federwörter, die ihnen die Möglichkeit geben, leicht und sanft in einen Satz einzusteigen.“ Auch diese Behandlung wird durch die AOK übernommen.

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Stottern behandeln: Je früher desto besser?

Da Stottern zu einem lebenslangen Problem werden kann, raten Fachärzte dazu, das Stottern möglichst frühzeitig zu behandeln, idealerweise im Kindergartenalter. Gerade in diesem Alter haben Kinder gute Chancen, ihr Stottern durch eine Therapie komplett zu überwinden. Wird diese Phase verpasst, verringert sich die Erfolgschance rapide bis ins präpubertäre Alter und bleibt auch weiterhin gering.

Wer ist der richtige Ansprechparntner?

Noch etwas liegt Emilia Rudolf sehr am Herzen. Sie empfiehlt Eltern, zu einem Spezialisten zu gehen, also zu einem Logopäden, der sich auf Stottertherapie spezialisiert hat. „Stottern ist bei vielen Logopäden nur ein Randthema“, so Rudolf, „Ein spezifischer Ansatz ist aber sinnvoll und gewinnbringend und fördert die Erfolgschancen, vor allem bei Kindern.“ Auch Georg Thum hält dies für sinnvoll. Sein Tipp: „Fragen Sie bei Ihrer Therapeutin vor Ort nach, ob sie auf Stottern spezialisiert ist und nach einem der genannten Ansätze arbeitet.“

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Wie sind die Erfolgsaussichten?

Auch dazu wurde viel geforscht, Fachärzte und Studien berichten, dass bei Kindern im Kindergartenalter das Behandlungsziel zunächst eine Remission (Rückgang) des Stotterns ist. Da die Chancen bei kleineren Kindern, vor allem im Kindergartenalter, hoch sind, sollte die Behandlung möglichst vor dem Schuleintritt abgeschlossen sein.

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