Liebe & Sexualität
Die rosarote Brille – Wie verlieben wir uns?
Veröffentlicht am:15.12.2020
6 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 07.07.2022
Schmetterlinge im Bauch und ein breites Grinsen, sobald wir nur an die andere Person denken. Verliebt zu sein ist ein tolles Gefühl. Doch wie kommt die Glückseligkeit zustande und was folgt danach? Diese und weitere Fragen beantwortet eine Expertin.
Nele Sehrt ist Psychologin, Buchautorin und Kolumnistin mit eigener Praxis in Hamburg.
Sie ist spezialisiert auf Sexual-, Paar- und Traumatherapie und weiß, was im Körper passiert, wenn wir uns verlieben.
Was passiert in unserem Körper, wenn wir uns verlieben?
Das ist tatsächlich eine ganz spannende Phase. Unsere Gedanken kreisen permanent um das Objekt unserer Begierde, wir geben uns Tagträumen hin und können mit den Echtzeiterzählungen und der Benennung der kleinsten Details unseren Freunden ganz gehörig auf die Nerven gehen. Unser Körper schüttet einen ganzen Cocktail an Neurotransmittern aus, der das ermöglicht – eine Art chemisches Feuerwerk. Diese Phase hat auch eine wichtige Funktion: Wir sammeln Glück für schlechte Zeiten.
Welche Rolle spielen Hormone, wenn wir uns verlieben?
Eine große Rolle. Immerhin sorgen sie dafür, dass wir uns wie im Rausch befinden. Unser limbisches Belohnungssystem springt an, wenn wir uns mit unserem geliebten Menschen beschäftigen, ob direkt oder indirekt durch das Betrachten von Bildern. Wir werden kindisch, suchen die Nähe und nehmen viel Aufwand in Kauf, damit man miteinander Zeit verbringen kann. Beispielsweise besucht man die/den andere/n spontan in der Mittagspause und fährt dafür durch die ganze Stadt, nur um für eine Stunde im direkten Kontakt zu sein. Wenn man das nach ein paar Jahren Beziehung machen würde, würde der Partner das höchstwahrscheinlich als kontrollierend und übergriffig werten.
Was bewirkt dabei das Hormon Oxytocin?
Oxytocin wird als Kuschel- oder Bindungshormon bezeichnet. Es wird nicht nur bei der Geburt und beim Stillen ausgeschüttet – auch beim Sex und bei der Masturbation. Oxytocin bewirkt aber nicht nur in der Anfangsphase den Bindungswunsch, es hält auch langjährige Beziehungen am Laufen.
Nach einer gewissen Zeit verblasst die rosarote Brille – Was passiert dann?
Oh ja, dann werden wir erst einmal nüchtern. Die erste heiße Phase dauert zwei bis vier Monate, das ist oft ein absoluter Ausnahmezustand. Grob gesagt hat sich nach 12 bis 18 Monaten die Hormonausschüttung normalisiert. Die Unterschiede, die vorher mit Hilfe der Neurotransmitter ausgeblendet wurden, werden jetzt sichtbar und auch der Alltag zieht ein. Das macht natürlich deutlich weniger Spaß.
Aber dafür kann Ruhe und Zufriedenheit einkehren. Man fühlt sich im Idealfall seines Platzes sicher, man kennt Freunde und Familie des anderen und hat einen gemeinsamen Alltag. Sicherheit kann auch etwas sehr Schönes und Beruhigendes sein.
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Wie kann man die Phase der „Ernüchterung“ als Paar überstehen? Wie entsteht aus Verliebtheit Liebe?
Eine Beziehung hat durchaus etwas mit „Aushalten“ zu tun. Ich finde es einen guten und hilfreichen Gedanken, wenn man Beziehungen in Phasen einteilt. Nichts währt ewig. Mein Partner verändert sich und auch ich lerne, mit Dingen umzugehen und entwickle mich weiter. In dieser Phase zeigt sich deutlich, wer Urvertrauen hat und wer schneller beginnt, unsicher zu werden. Erste Verlustängste können auftreten.
An diesem Punkt zeigt sich nicht nur mein Beziehungsmuster, welches sich in meiner Kindheit und Jugend gebildet hat – auch haben wir in solchen Phasen die Möglichkeit, alte Muster zu heilen und zu lernen, anders und besser mit uns und Dingen umzugehen. Zum Beispiel können wir in dieser Phase lernen zu vertrauen.
Ja, der Partner lernt meine Schwächen kennen und ich auch seine. Aber genau das ist nötig, um wirkliche Nähe und Intimität leben zu können. Verliebtsein bedeutet, die guten Zeiten zu teilen. Liebe ist, die Gemeinsamkeiten auch in den schwachen Phasen und den Unterschieden zu leben.
Ein stabiles Selbstwertgefühl kann da wahre Wunder bewirken: Zu wissen, dass man wertvoll ist, und sowohl auf sich als auch auf den anderen zu achten. Damit etwas gemeinsames Drittes entstehen kann. Für mich persönlich sind solche nüchternen Phasen am spannendsten: Sie können nicht nur ein tiefes Tal sein, sie sind auch die Vorstufe zum nächsten glückseligen Hoch. Vorausgesetzt, man ist bereit zu wachsen.
„Verliebtsein bedeutet, die guten Zeiten zu teilen. Liebe ist, die Gemeinsamkeiten auch in den schwachen Phasen und den Unterschieden zu leben.“
Nele Sehrt
Psychotherapeutin mit den Schwerpunkten Sexual-, Paar- und Traumatherapie
Jeden Tag neu verlieben: Kann man sich in langen Beziehungen das Verliebtsein bewahren oder zurückholen?
Ja, wir können wieder das tun, was wir auch früher getan haben, als wir verliebt waren: Interesse und Verständnis haben, Nachfragen, Komplimente machen, nach Gemeinsamkeiten suchen und Unterschiede ausblenden. Das klingt jetzt vielleicht banal, aber wenn wir es schaffen, den Blick auf Gemeinsamkeiten zu legen oder wenn wir einander zuhören – dann wird unser Gegenüber auch wieder spannend.
Wenn wir es schaffen, das Verhalten unseres Partners nicht negativ zu werten oder persönlich zu nehmen, dann stehen die Chancen sehr gut, sich erneut zu verlieben. Aber dieses Mal reiten wir nicht auf der obersten Welle, sondern diese Liebe ist ein tiefes, ruhiges und genussvolles Gefühl. Und ein ehrliches dazu, denn dann lieben wir unseren Partner nicht trotz, sondern wegen seiner Schwächen und Fehler. Und das tut auch uns gut. Denn das hilft, dass wir auch uns mit all unseren Schwächen und Fehlern lieben. Die haben wir – auch wenn wir das manchmal gar nicht wissen wollen.
Bei der ersten großen Liebe erscheinen die Gefühle im Rückblick besonders stark. Wieso ist das so?
In der Pharmakologie nennt man das Toleranzentwicklung. Mit der Häufigkeit steigt die Empfindlichkeitsschwelle und das Verliebtsein haut einen dann möglicherweise weniger um. Wir werden realistischer und erfahrener. Dennoch kann es passieren, dass uns die Liebe auch im späteren Erwachsenenalter umhaut – einfach so.
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Heute läuft das Kennenlernen oft über Dating-Portale. War Verlieben früher leichter oder schwerer?
Wir neigen dazu, einen direkten Kausalzusammenhang herzustellen: Ursache – Wirkung. Aber das Leben ist mehrdimensional und alles hat auf alles einen Einfluss. Unsere gesellschaftliche Situation oder das Wertesystem haben auch einen großen Einfluss – denken wir mal an die 68er Bewegung, wo es hieß „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“
Ein Erstkontakt kann durch Dating-Apps erleichtert werden, aber in die Tiefe einer Beziehung einzutauchen kann möglicherweise schwieriger sein. Partnersuche und Auswahl hat viel mit unserer Persönlichkeit, unserem Charakter und unserem Wohlbefinden zu tun. Es gibt Menschen, die in Online-Portalen einen Treffer nach dem anderen landen und andere bekommen nicht mal eine Antwort.
Wir können heute viele neue Leute gleichzeitig kennenlernen. Bleibt genug Zeit, um sich zu verlieben?
Verlieben braucht keine Zeit, das kann auch unglaublich schnell gehen. Wann oder warum wir genau jemanden spannend, umwerfend oder anbetungswürdig finden, konnte noch nicht endgültig erforscht werden. Die Liebe ist etwas Mystisches und möchte oft auch nicht rationalisiert werden. Im Endeffekt entscheiden die inneren Werte.
Denn so hart es klingt: Wir werden älter und der Körper verabschiedet sich langsam – und das nicht erst, wenn wir über 50 sind. Irgendwann muss man mit Humor und Selbstsicherheit trumpfen und es tut uns allen gut, uns Zeit für einen zweiten – oder vielleicht auch dritten – Blick zu nehmen.
Gibt es Umstände, unter denen wir uns besonders schnell verlieben können?
Das ist hoffentlich keine Frage, mit der ich erfahren möchte, wie ich jemanden dazu bringen kann, mich mehr zu lieben oder sich überhaupt in mich zu verlieben. Wir Menschen fühlen uns bei und mit anderen Menschen wohl, wenn es ihnen gut geht. Zufriedene und humorvolle Menschen ziehen andere an wie die Motten das Licht.
Es ist eher selten, dass sich jemand verliebt, weil der andere ihm oder ihr so leidgetan hat. Mitleid ist keine gute Basis für eine Beziehung und Bedürftigkeit verführt nicht zum Verlieben. Ich kann die Chancen also eher erhöhen, wenn ich mit mir zufrieden bin und das auch ausstrahle. Das ist sexy. Und der nette Nebeneffekt ist, dass es dann auch gar nicht so schlimm ist, wenn der andere sich nicht in mich verliebt.