Gehirn & Nerven
Akute und chronische Schmerzen: Welche Unterschiede gibt es?
Veröffentlicht am:16.08.2021
7 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 03.03.2025
Schmerzen warnen unseren Körper vor Gefahren für die Gesundheit. Manchmal bleiben sie und werden unerträglich. Wie Schmerzen entstehen und behandelt werden können, erklärt Neurologin Dr. Astrid Gendolla.
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© iStock / FG Trade
Wie Schmerzen entstehen
Schmerzen können als hämmernd, stechend, beißend oder bohrend empfunden werden. Sie kommen überfallartig oder sind einfach immer da. In der Regel sind sie eine Folge von Krankheiten oder Verletzungen. Doch Schmerzen sind keine Gegner, sondern nützliche Helfer. Sie zeigen uns, wo Reizungen, Wunden oder Entzündungen entstanden sind, und ob diese sich ausbreiten. Doch wie genau entstehen Schmerzen im Körper?
„Wie stark wir den Schmerz empfinden und wie viel Aufmerksamkeit wir ihm schenken, hängt von verschiedenen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ab. Dabei spielen Hormone genauso eine Rolle wie der familiäre und kulturelle Umgang mit Schmerz.“
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Dr. Astrid Gendolla
Fachärztin für Neurologie, Schmerztherapie und Psychotherapie
© privat
„Wir empfinden Schmerz, wenn freie Nervenenden auf verschiedene Reize wie zum Beispiel Hitze, Kälte, Druck, Verletzung, Entzündung oder Gifte reagieren und Schmerzbotenstoffe ausschütten“, erklärt Dr. Astrid Gendolla, Fachärztin für Neurologie, Schmerztherapie und Psychotherapie. „Der Nerv leitet den Schmerzreiz über das Rückenmark ans Gehirn weiter. Dort wird er im limbischen System, der sogenannten Gefühlszentrale, bewertet.“
Vom Reiz zum Schmerz
Schritt 01/03
1. Schmerzreiz
Wenn wir uns beispielsweise verbrennen, nehmen Schmerzrezeptoren in der Haut den Reiz auf. Schmerzrezeptoren befinden sich in Muskeln, Knochen und Organen. In der Haut stecken besonders viele, daher reagiert sie sehr empfindlich auf Schmerzen.
Diese freien Nervenendigungen wandeln den Reiz in ein elektrisches Signal um. In weniger als einer Sekunde leiten Nervenfasern die Schmerzinformation zum Rückenmark.
Schmerzskalen zeigen an, wie intensiv die Schmerzen sind
Wie stark wir Schmerzen empfinden und wie viel Aufmerksamkeit wir ihnen schenken, hängt von verschiedenen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ab. Dabei spielen Hormone genauso eine Rolle wie der familiäre und kulturelle Umgang mit Schmerzen. „Schmerzempfinden wird auch in der Familie gelernt“, sagt Dr. Gendolla. „Denn für die Schmerzbewertung im Gehirn macht es einen Unterschied, ob man als Kind erfahren hat, dass es besser ist, „sich nicht so anzustellen“, oder ob liebevoll gepustet wurde, wenn etwas wehtat.“
Wie intensiv wir Schmerzen wahrnehmen, spielt eine Rolle bei der Frage, ob eine Behandlung notwendig ist – und wie die Schmerztherapie gestaltet werden muss. Um die subjektiv empfundenen Schmerzen besser einschätzen zu können, nutzen Ärztinnen und Ärzte sogenannte Schmerzskalen.
Diese drei Skalen sind üblich:
- Numerische Rating-Skala (NRS): Die Patientinnen und Patienten bewerten ihre Schmerzen anhand einer Skala von 0 bis 10. 0 steht dabei für „keine Schmerzen“, 10 für die „am stärksten vorstellbaren Schmerzen“. Die NRS ist die am weitesten verbreitete Bewertungsskala.
- Visuelle Analog-Skala (VAS): Die Patientinnen und Patienten zeigen auf einer Skala, wie stark ihr empfundener Schmerz ist. Gängig sind zum Beispiel Smileys. Der lachende Smiley zeigt „keine Schmerzen“ an, der weinende Smiley die „stärksten vorstellbaren Schmerzen“. Diese Einschätzung ist beispielsweise bei Kindern und Menschen mit geistiger Beeinträchtigung hilfreich.
- Verbale Rating-Skala (VRS): Mündlich oder mithilfe eines Fragebogens wird der Patient oder die Patientin gefragt, wie stark die Schmerzen empfunden werden. Dabei wird der Schmerz zum Beispiel als „nicht vorhanden“, „mittel“ oder „sehr stark“ beschrieben.
Handelt es sich um chronische Schmerzen, kommen neben den Schmerzskalen auch Fragebögen und Tagesbücher zum Einsatz. Diese geben nähere Auskunft zum Beispiel über Auslöser, Dauer und Schmerzart.
Wie wir Schmerzen erleben
Schmerzen sind ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, so die Definition der Weltschmerzorganisation. Wir nehmen Schmerzen als Sinneseindruck wahr – also als stechend, bohrend oder dumpf. Zugleich bewerten wir die Empfindungen emotional und beschreiben sie beispielsweise als mörderisch, quälend oder auch als unerträglich. Diese beiden Anteile im Erleben von Schmerzen sind untrennbar miteinander verbunden.
Welche Schmerzarten gibt es?
In der Medizin sind Schmerzen nicht gleich Schmerzen. Je nach Ursache gibt es verschiedene Schmerzformen, die relevant für die spätere Behandlung sind:
Schmerzart | Ursachen | Beispiele |
---|---|---|
Nozizeptor-Schmerzen | Schädigungen des Gewebes durch äußere Einflüsse; weitere Ursachen sind Koliken, Tumore und Entzündungen | Schläge, Quetschungen, Verbrennungen, Zahnschmerzen, rheumatoide Arthritis |
Neuropathische Schmerzen | Schädigungen oder Funktionsstörungen der peripheren oder zentralen Nervenfasern | Bandscheibenvorfall, Polyneuropathie, Trigeminusneuralgie, Phantomschmerzen, Post-Zoster-Neuralgie nach Gürtelrose |
Reflektorische Schmerzen | Fehlhaltungen, Fehlregulationen | Verspannungen, Migräne, Rückenschmerzen, Morbus Sudeck |
Psychosomatische Schmerzen | Psychische Belastungen lösen Schmerzen aus – umgekehrt verstärken Schmerzen psychische Belastungen | Kopfschmerzen, Rückenschmerzen |
Viszerale Schmerzen | Innere Organe – die Schmerzen zeigen sich an bestimmten Haut- und Muskelbereichen | Brustschmerzen bei Herzinfarkt, Oberbauchschmerzen bei Nierenkolik, Rücken- und Unterleibsschmerzen bei Geburtswehen |
Somatische Schmerzen | Schmerzreiz geht von Knochen, Muskeln, Gelenken, Bindegewebe aus (Tiefenschmerz); oder der Reiz entsteht in der Haut oder den Schleimhäuten (Oberflächenschmerz) | Tiefenschmerzen: Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe; Oberflächenschmerzen: Hautreizungen, zum Beispiel durch Verletzungen, Schnittwunden oder Verbrennungen |
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© iStock / Nikada
Was sind akute Schmerzen?
Akute Schmerzen signalisieren uns, dass irgendwo im Körper etwas nicht stimmt. „Akuter Schmerz ist ein Schadensmelder, der auf mögliche Gesundheitsgefährdungen aufmerksam machen möchte. Er hilft, die Information ,,gefährlich‘ im Gehirn zu verankern, damit wir zum Beispiel zukünftig nicht mehr auf die heiße Herdplatte fassen“, erklärt Dr. Gendolla.
Akute Schmerzen sind zeitlich begrenzt. Fassen wir beispielsweise nicht erneut auf die heiße Herdplatte (und vermeiden somit die Schmerzursache), sondern behandeln die entstandene Verletzung, lässt der akute Schmerz nach und verschwindet irgendwann ganz.
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Wie kommt es zu chronischen Schmerzen?
Von chronisch ist die Rede, wenn Schmerzen länger als drei Monate anhalten. Der Deutschen Schmerzgesellschaft zufolge leiden 8 bis 16 Millionen Menschen in Deutschland unter chronischen Schmerzen – häufig als Folge von Erkrankungen des Bewegungsapparates.
„Bei diesem sinnlosen Leiden ist das Nervensystem geschädigt, und dasselbe Nervensignal wird ohne Grund immer wieder geschickt und kommt verstärkt im Hirn an“, sagt die Expertin. Eine Erklärung für diese Verselbstständigung kommt aus der Hirnforschung: Die anhaltenden Schmerzen hinterlassen im Nervensystem sogenannte Schmerzspuren, welche die Nervenzellen immer empfindlicher machen. Neurologinnen und Neurologen bezeichnen dies auch als Schmerzgedächtnis. Das Nervensystem hat die Schmerzen, die wir als Dauerschmerzen empfinden, quasi gelernt. Schon geringste Reize können Schmerzen auslösen. Selbst dann, wenn keine klare Ursache für die Schmerzen mehr besteht.
Weniger fassbar sind seelische Schmerzen, die ebenfalls einen chronischen Verlauf nehmen können. Seelisches Leiden aktiviert dieselben Hirnareale wie körperlicher Schmerz. Das Nervensystem kennt deshalb keine Trennung von Schmerzen körperlichen oder seelischen Ursprungs. Das ist einer der Gründe dafür, dass Depressionen, Stress und andere negative Gefühle Schmerzen verstärken können. Noch häufiger ist es aber umgekehrt. „Wer unter chronischen Schmerzen leidet, hat nachweislich ein höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken“, sagt Dr. Gendolla.
„Je länger ein chronischer Schmerz vorhanden ist, umso stärker hat er sich festgesetzt und umso länger dauert es, sich von ihm zu befreien. Darum ist es wichtig, Schmerzen bereits im akuten Stadium zu behandeln.“
Dr. Astrid Gendolla
Fachärztin für Neurologie, Schmerztherapie und Psychotherapie
Wie werden chronische Schmerzen behandelt?
Unabhängig davon, welche Ursachen die Schmerzen haben – werden sie chronisch, entsteht eine Schmerzkrankheit. Je länger chronische Schmerzen bestehen, desto stärker haben sie sich verfestigt und desto länger dauert es, sie wieder loszuwerden. Darum ist es wichtig, Schmerzen bereits im akuten Stadium zu behandeln. Ziel der Behandlung chronischer Schmerzen ist es, die gestörte, dauerhafte Reizübertragung zu unterbrechen. Bei leichten bis mäßigen Schmerzen kommen zunächst nicht opioide Schmerzmittel zum Einsatz. Zu ihnen zählen die meisten frei verkäuflichen Präparate. Erst wenn diese und auch verschreibungspflichtige Medikamente erfolglos bleiben, wird der Arzt oder die Ärztin eine individuelle Schmerztherapie verordnen.
Parallel zur medikamentösen Behandlung raten Schmerzmedizinerinnen und -mediziner ihren Patientinnen und Patienten zudem, sich so viel wie möglich zu bewegen. „Jeder Schritt ist auch ein Schritt aus dem Schmerz heraus“, sagt Astrid Gendolla. „Denn Krankengymnastik, aber auch moderater Ausdauersport wie Walking oder Fahrradfahren helfen, schmerzverstärkende Schonhaltungen auszugleichen. Zudem ist es besser, dem Schmerz Paroli zu bieten, als sich ihm ganz und gar auszuliefern.“
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Chronische Schmerzen wieder verlernen
Das Schmerzgedächtnis lässt sich wieder umprogrammieren. Dabei kann eine kognitive Verhaltenstherapie oder das Führen eines Schmerztagebuches helfen. „Auch tägliche Meditation kann mit der Zeit aus dem Teufelskreis des Schmerzes herausführen,“ sagt Astrid Gendolla. Dazu muss man den Schmerz zunächst akzeptieren. „Nur dann kann man ihn aktiv angehen“, so die Schmerztherapeutin. Wenn man sich immer wieder bewusst macht, dass man Schmerzen nicht hilflos ausgeliefert ist, wird sich ihre Wahrnehmung und Bewertung im Gehirn allmählich ändern.