Gehirn & Nerven
Wie die Alzheimer-Krankheit und das Down-Syndrom zusammenhängen
Veröffentlicht am:08.01.2025
10 Minuten Lesedauer
Menschen mit Down-Syndrom erkranken viel häufiger an Alzheimer als andere. Warum das so ist und was das für die Behandlung bedeutet, klären wir im Gespräch mit einem Experten für Trisomie 21 und Alzheimer.
Inhalte im Überblick
- Trisomie 21: Chromosomenstörung mit Schlüsselrolle für Alzheimer
- Alzheimer – bei Menschen mit Down-Syndrom die häufigste Todesursache
- Was die Diagnose „Alzheimer“ bei Menschen mit Down-Syndrom erschwert
- Alltag und Behandlung von Alzheimer bei Menschen mit Down-Syndrom
- Vorbeugende Maßnahmen für Menschen mit Down-Syndrom
- Wie könnte die medizinische Versorgung von Menschen mit Down-Syndrom verbessert werden?
Trisomie 21: Chromosomenstörung mit Schlüsselrolle für Alzheimer
Die meisten Menschen haben 23 Chromosomenpaare in jeder Zelle ihres Körpers. Bei Menschen mit Down-Syndrom ist das Chromosom 21 dreimal vorhanden, daher auch der Name Trisomie 21 (tri bedeutet 3). Das dreifache 21. Chromosom verändert die Weise, wie sich Gehirn und Körper entwickeln. Menschen mit Down-Syndrom haben oft typische äußerliche Merkmale wie schräg aufwärts gestellte Augen. Außerdem kann das zusätzliche Chromosom zu kognitiven Entwicklungsproblemen und geistiger Behinderung führen. Diese Beeinträchtigungen sind bei Menschen mit Down-Syndrom unterschiedlich stark ausgeprägt.
Das Chromosom 21 spielt außerdem eine Schlüsselrolle bei der Alzheimer-Krankheit. Forschende arbeiten daran, die Zusammenhänge besser zu verstehen und den Besonderheiten von an Alzheimer erkrankten Menschen mit Down-Syndrom besser gerecht zu werden. Einer von ihnen ist der Alzheimerforscher Johannes Levin, Professor für Klinische Neurodegeneration an der Neurologischen Klinik des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU Klinikum) und Leiter der Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom“.
Menschen mit Down-Syndrom erkranken besonders oft an Alzheimer. Warum ist das so?
Weil es für die überwiegende Mehrzahl der Menschen mit Down-Syndrom quasi ihr genetisches Schicksal ist. Es gibt einen ganz engen Zusammenhang zwischen dem Chromosom 21 und Alzheimer. Der liegt darin begründet, dass auf dem Chromosom 21 das Gen für das sogenannte Amyloid-Vorläuferprotein (Amyloid-Precursor-Protein – APP) liegt. Fragmente von APP findet man nachher in den Amyloid- oder Alzheimer-Plaques. Wer das Chromosom 21 dreimal hat, hat in den allermeisten Fällen auch das APP-Gen entsprechend dreimal. Dadurch steigt das Risiko, Alzheimer zu bekommen, so sprunghaft an, dass man ab einem gewissen Lebensalter fast mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Alzheimer-Krankheit bekommt. Man nennt das auch Gendosiseffekt.
Welche Rolle spielen die Amyloid-Plaques bei Alzheimer?
Sie sind das charakteristische pathologische Merkmal der Alzheimer-Krankheit. Bei Amyloid-Plaques handelt es sich um krankhafte Verklumpungen von Eiweißen im Gehirngewebe, die ganz wesentlich aus Fragmenten des Amyloid-Vorläuferproteins bestehen. Bei Menschen mit Down-Syndrom führt das Mehr des APP-Gens dazu, dass mehr Substrat, also mehr Rohmaterial für die Plaquebildung da ist. Deswegen läuft bei ihnen die Plaquebildung früher und schneller ab als bei anderen Menschen.
Gibt es weitere Krankheiten, die mit dem Gendosiseffekt in Zusammenhang stehen?
Einen solchen Gendosiseffekt gibt es noch bei einigen anderen neurodegenerativen Erkrankungen, zum Beispiel bei der familiären Form der Alzheimer Krankheit, ausgelöst durch eine isolierte Verdreifachung des APP-Gens, oder auch bei der Parkinson-Krankheit, bei der man in der familiären Form ein anderes Protein dreifach vorfindet. Das ist ein allgemeines Grundprinzip der Gendosiserhöhung, stellt aber für Menschen mit Down-Syndrom ein durch das dreifache Chromosom 21 ganz besonders häufiges und großes Problem dar.
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Alzheimer – bei Menschen mit Down-Syndrom die häufigste Todesursache
Die Wahrscheinlichkeit, Alzheimer zu bekommen, liegt für Menschen mit Down-Syndrom bei über 90 Prozent. Wahrscheinlich sind es sogar fast 100 Prozent, weil es sehr selten ist, dass das APP-Gen fehlt. Letztlich ist zu erwarten, dass jeder mit drei Kopien des Chromosoms 21 Alzheimer bekommt. Deshalb ist in den Industrienationen die Alzheimer-Krankheit inzwischen die Haupttodesursache für Menschen mit Down-Syndrom. Das hat auch viel damit zu tun, dass sich in den letzten 30, 40 Jahren die Lebenserwartung der Menschen mit Trisomie 21 sehr positiv verändert hat. Mittlerweile haben wir Erkrankungen, die typisch sind für Kinder mit Down-Syndrom, zum Beispiel bestimmte Herzerkrankungen, viel besser im Griff. Dadurch ist die Lebenserwartung von ungefähr 30 Jahren auf bis über 60 Jahre angestiegen. Bei den Menschen mit Down-Syndrom ist das mittlere Erkrankungsalter bei der Alzheimer-Krankheit 51 Jahre; und weil das mittlere Überleben nach einer Alzheimer-Diagnose nach zehn Jahren bei unter zehn Prozent liegt, versterben Menschen mit Down-Syndrom jetzt im Durchschnitt mit ungefähr Anfang 60.
„Die Wahrscheinlichkeit, Alzheimer zu bekommen, liegt für Menschen mit Down-Syndrom bei über 90 Prozent. Wahrscheinlich sind es sogar fast 100 Prozent. Deshalb ist in den Industrienationen die Alzheimer-Krankheit inzwischen die Haupttodesursache für Menschen mit Down-Syndrom.“
Prof. Dr. Johannes Levin
Professor für Klinische Neurodegeneration an Neurologischen Klinik des LMU Klinikums und Leiter der Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom"
Welche Probleme gibt es bei Menschen mit Down-Syndrom Alzheimer festzustellen?
Nicht alle, aber viele Menschen mit Down-Syndrom haben einen gewissen Grad von geistiger Behinderung. Das bedeutet, dass wir die kognitiven Standardtests bei ihnen nicht verwenden können, weil sie für viele zu schwierig sind oder ihnen nicht gerecht werden. Außerdem ist unklar, welche Normwerte für eine bereits erkrankte Person mit Down-Syndrom gelten. Wichtig sind Instrumente, die die Wahrnehmungs- und Denkprozesse bei Menschen mit Down-Syndrom besser messbar machen. Aufgrund der Variabilität der geistigen Beeinträchtigung braucht man bei Menschen mit Down-Syndrom daher einen individuellen Ausgangswert für einen Alzheimer-Test. Das bieten wir in der „Ambulanz Alzheimer bei Downsyndrom“ schon im Vorfeld an: Wir machen eine neuropsychologische Testung und erheben ein Ergebnis. Wenn sich dann bei den Betroffenen etwas kognitiv verändert, hat man einen Ausgangswert und kann neue Tests auf die vorhergehende Testung beziehen.
Beeinflussen die oft besonderen Lebensumstände die Diagnose?
Viele Menschen mit Down-Syndrom leben in Einrichtungen und werden mehr oder weniger betreut. Ihnen fehlen viele Freiheiten: mal irgendwo hinfahren, neue Leute kennenlernen und solche Sachen. Das führt auch dazu, dass bei Menschen mit Down-Syndrom die ersten Anzeichen für Alzheimer nicht erkannt werden – einfach weil die Betroffenen viel weniger Gelegenheit haben, sich zu verlaufen, oder Probleme bekommen, wenn sie sich irgendwelche Sachen nicht mehr merken können. Bei Menschen mit Down-Syndrom machen sich häufig als erstes Verhaltensänderungen bemerkbar. Zum Beispiel ziehen sich vorher offene Menschen plötzlich zurück oder sehr sanftmütige Menschen haben aggressive Ausbrüche. Das können frühe Anzeichen einer Alzheimer-Krankheit sein.
Ist bei Menschen mit Down-Syndrom, die in der Familie leben, die Diagnose einfacher?
Eltern von Menschen mit Down-Syndrom sind häufig etwas älter als der Durchschnitt. Wenn man annimmt, dass viele bei der Geburt des Kindes über 30 sind, dann sind sie über 80, wenn ihre Kinder mit Down-Syndrom das kritische Alter von Anfang 50 erreichen. Wenn Eltern, die mit ihren Kindern im engen familiären Umfeld gelebt haben, versterben oder krank werden und sich nicht mehr kümmern können, passiert das oft genau um die Zeit herum, in der eine Alzheimer-Diagnose relevant werden könnte. Jetzt kommen viele Probleme auf die Menschen mit Down-Syndrom zu. Wir kennen Menschen, die kognitiv völlig gesund sind, was Alzheimer betrifft, aber nach dem Tod eines oder beider Elternteile depressiv werden. Davon kann ein Mensch mit Down-Syndrom genauso betroffen sein wie jeder andere. Und bei einer Depression ist typischerweise auch der kognitive Test schlecht – übrigens nicht nur bei Menschen mit Down-Syndrom, sondern das kann bei jedem Menschen so sein.
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Wie unterscheidet sich die Alzheimer-Erkrankung bei Menschen mit Down-Syndrom und anderen Betroffenen?
Epileptische Anfälle nach dem Beginn der Alzheimer-Krankheit sind vielleicht ein bisschen häufiger bei Menschen mit Down-Syndrom – oder werden auch nur besser beobachtet. Ansonsten sind die Herausforderungen andere: Viele wohnen in betreuten Einrichtungen und gehen tagsüber in Werkstätten ihrer Arbeit nach. Wenn Menschen mit Down-Syndrom mit Mitte 40, Anfang 50 plötzlich nicht mehr in die Werkstätten können und zu Hause bleiben müssen, kommt es vor, dass die Einrichtungen darauf nicht eingestellt sind. Dann müssen Programme entwickelt werden, damit sie nicht den ganzen Tag nur herumsitzen und sich langweilen. Das schafft andere Probleme, die aber nicht kleiner sind als bei der „normalen“ Bevölkerung, wenn ein selbstständiger Mensch plötzlich irgendeine Form von Betreuung braucht. Bei dieser Aufgabe machen zum Beispiel die Mitarbeiter der Lebenshilfe in München ganz fantastische Arbeit.
Was erschwert die Alzheimer-Therapie bei Menschen mit Down-Syndrom?
Ganz grundsätzlich behandeln wir Menschen mit Down-Syndrom sehr ähnlich. Man muss aber sagen, dass die wissenschaftliche Grundlage, auf der wir Therapieentscheidungen treffen, bei Menschen mit Down-Syndrom viel schlechter ist. Bei den allermeisten Medikamentenstudien wurden und werden Menschen mit Down-Syndrom nicht berücksichtigt. Während Pharmaunternehmen neue Medikamente, die auch Kindern helfen könnten, mittlerweile auch bei Kindern erproben müssen, ist das bei Menschen mit Down-Syndrom nicht so. Darin liegt der Kernunterschied und das hat Folgen für unsere Kenntnisse über Wirkung und Nebenwirkungen und damit für die Sicherheit des Einsatzes von Medikamenten. Oft wissen wir nicht, worauf zu achten ist. Hier besteht noch viel Forschungsbedarf.
Dabei haben Menschen mit Down-Syndrom die Alzheimer-Forschung weit vorangebracht
Der Zusammenhang von Down-Syndrom und Alzheimer ist seit ungefähr 20 bis 30 Jahren bekannt. Menschen mit Down-Syndrom spielen eine ganz zentrale wissenschaftshistorische Rolle in der Erforschung der Alzheimer-Krankheit – weil man eben schon früh wusste, dass es bei ihnen viele Alzheimer-Plaques im Gehirn gibt. Menschen mit Down-Syndrom haben ganz erheblich dabei geholfen herauszufinden, welches Gen für Alzheimer verantwortlich ist und dass es auf Chromosom 21 liegt. So konnte das APP-Gen als Ursache für die Alzheimer-Plaques ausfindig gemacht werden.
„Menschen mit Down-Syndrom haben ganz erheblich dabei geholfen, herauszufinden, welches Gen für Alzheimer verantwortlich ist und dass es auf Chromosom 21 liegt.“
Prof. Dr. Johannes Levin
Professor für Klinische Neurodegeneration an Neurologischen Klinik des LMU Klinikums und Leiter der Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom“
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Lässt sich angesichts der hohen Erkrankungsrate der Ausbruch von Alzheimer zumindest verzögern?
Dass man das Problem aus der Welt schafft, ist zumindest für mich nicht vorstellbar. Dafür ist der Gendosiseffekt einfach zu gravierend. Das heißt aber nicht, dass es keine sinnvollen Maßnahmen im Vorfeld gibt. Zum Beispiel haben wir gerade mit Unterstützung der Robert-Vogel-Stiftung ein Projekt gestartet, bei dem wir Menschen mit Down-Syndrom zu einem intensiveren Sportprogramm anleiten. Weil Sport für die Prävention und Verlaufsmilderung von sogenannten neurogenerativen Erkrankungen wie Alzheimer die vielversprechendste Maßnahme ist. Menschen mit Down-Syndrom in Bewegung zu versetzen, Freude an Bewegung zu vermitteln, und das in einer gewissen Regelmäßigkeit, dass es zum Leben dazu gehört – das haben wir uns in Zusammenarbeit mit verschiedenen Einrichtungen zur Aufgabe gemacht.
„Sport ist für die Prävention und Verlaufsmilderung von sogenannten neurogenerativen Erkrankungen wie Alzheimer die vielversprechendste Maßnahme.“
Prof. Dr. Johannes Levin
Professor für Klinische Neurodegeneration an Neurologischen Klinik des LMU Klinikums und Leiter der Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom"
Wenn Sport die vielversprechendste Maßnahme ist – gibt es noch andere?
Es gibt allgemeine Empfehlungen, um Alzheimer- und Demenz-Risikofaktoren zu begrenzen: neben körperlicher Aktivität zum Beispiel die regelmäßige Kontrolle von Cholesterinwerten und Blutdruck; dass man bei Hörstörungen ein Hörgerät und bei Sehstörungen eine passende Brille trägt. Außerdem: soziale Teilhabe, kognitive Aktivität und ausgewogene Ernährung – wenn man das alles zusammenbringt, dann hat das gewiss einen vorbeugenden Effekt. Aber gerade bei Menschen mit Down-Syndrom ist es in Deutschland einfach so, dass die medizinische Versorgung nicht gut ist.
Was fehlt bei der medizinischen Versorgung von Menschen mit Down-Syndrom konkret?
Viele Menschen mit Down-Syndrom haben bei gesundheitlichen Problemen Schwierigkeiten, Fachärzte oder Fachärztinnen zu finden, die sich Down-spezifisch auskennen. Ein Beispiel ist die Schlafapnoe, von der deutlich mehr als die Hälfte der Menschen mit Down-Syndrom betroffen ist – und kaum jemand wird vernünftig diagnostiziert und behandelt. Bei Schlafapnoe hat man nachts hohen Blutdruck und das ist natürlich schlecht. Vorsorgeuntersuchungen wären gerade in einer Phase wichtig, in der man Fettstoffwechselstörungen entwickeln kann – etwa zwischen Anfang 30 und Anfang 50. Ein anderes Beispiel ist auch die Vorsorge beim Frauenarzt oder der Frauenärztin, beim Urologen oder der Urologin und vielen weiteren.
Wie könnte die medizinische Versorgung von Menschen mit Down-Syndrom verbessert werden?
Ich bin mir sicher, dass es viel Potenzial gibt, Dinge auf der Präventionsseite zu verbessern. Aber es ist eine riesige Baustelle, in der Down-Syndrom-Medizin die Versorgungslücken zu schließen. Die allergrößte bleibt Alzheimer, das ist ganz klar, aber es gibt eben auch darunter noch ganz viele weitere Probleme.
Man müsste für Menschen mit Down-Syndrom eine begleitende und vorsorgende Diagnostik entwickeln, die sie ab Mitte 30, wenn die Alzheimer-Thematik relevant wird, begleitet. Krank wird man erst 20 Jahre später, aber die molekularen Prozesse fangen 20 Jahre vorher an und das können wir inzwischen messen. Es sollte stärker in den Fokus rücken, dass man in dieser Zeit Vorsorge- und Betreuungsuntersuchungen macht. So kann man trotz des enormen Alzheimer-Risikos von Menschen mit Down-Syndrom die große Variabilität unter den einzelnen Betroffenen nutzen, um im besten Sinne personalisierte Medizin und vorausschauende Versorgungsplanung zu machen. Das durchschnittliche Erkrankungsalter von 51 bedeutet ja, dass es bei manchen schon mit Anfang 40 losgeht und bei anderen erst mit über 60. Es gibt viele Beispiele für europäische Länder, wo das viel besser gelingt als bei uns. In Spanien, Frankreich und Irland gibt es spezialisierte Krankenhäuser oder zumindest ganze Abteilungen in regulären Krankenhäusern für Menschen mit Down-Syndrom, in Irland sogar ein nationales Exzellenzzentrum für die Therapie von Menschen mit Down-Syndrom. So etwas fehlt in Deutschland.