Gehirn & Nerven
Gegen das Vergessen: Wie können Ärzte Demenzkranken helfen?
Veröffentlicht am:03.11.2021
8 Minuten Lesedauer
Die deutsche Gesellschaft wird immer älter und die Demenz dadurch zu einem immer häufigeren Problem. Jeder Vierte wird früher oder später von der Krankheit betroffen sein. Wie kann die Medizin der wachsenden Anzahl von Patienten helfen? Prof. Dr. Michael Hüll kennt die Antworten.
Inhalte im Überblick
- Welcher Arzt ist bei einem Verdacht auf Demenz der erste Ansprechpartner?
- Demenz ist nicht heilbar, wie können Ärzte dann helfen?
- Wie oft sind Arztbesuche im Rahmen einer Demenztherapie sinnvoll?
- Welche Entscheidungen trifft der Arzt mit Betroffenen?
- Wie wichtig ist es, Angehörige und Freunde in die Therapie miteinzubeziehen?
- Wie können Patienten selbst entscheidend zum Erfolg beitragen?
Demenzkranke vergessen – erst Freunde, dann die eigenen Kinder und später die Person im Spiegel. Die Krankheit verändert langsam, aber stetig das Wesen. Auch die Angehörigen leiden unter diesem Prozess, der sich leider nicht aufhalten lässt. Aber ganz machtlos sind Ärzte nicht. Sie können ihn beeinflussen und verlangsamen.
Professor Dr. Michael Hüll, Chefarzt an der Klinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie in Emmendingen, erklärt, welche Möglichkeiten die Medizin hat, um zu helfen, und welche Rolle die Angehörigen in den Therapieansätzen spielen.
Welcher Arzt ist bei einem Verdacht auf Demenz der erste Ansprechpartner?
Gerade die Symptome bei beginnenden Demenzerkrankungen wie Konzentrationsstörungen oder leichte Merkfähigkeitsstörungen sind sehr vieldeutig und können mit vielen anderen Dingen zusammenhängen. Dazu kann zum Beispiel schon ein unregelmäßiger Tag-Nacht-Schlaf gehören. Darum ist es sinnvoll, als Erstes den Hausarzt zu konsultieren. Er kennt die Patienten in der Regel schon länger und kann die Symptome, nachdem er sich einen gesundheitlichen Überblick verschafft hat, besser einordnen.
„Die Demenzen, die in unseren Landstrichen auftreten, sind im Regelfall nicht heilbar.“
Prof. Dr. Michael Hüll
Chefarzt an der Klinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie in Emmendingen
Demenz ist nicht heilbar, wie können Ärzte dann helfen?
Also sagen wir mal so: Die Demenzen, die in unseren Landstrichen auftreten, sind im Regelfall nicht heilbar. Dass wir hier Demenzerkrankte sehen, die aufgrund eines Vitaminmangels oder Ähnliches eine Demenz bekommen, wie etwa in Entwicklungsländern, ist äußert selten.
Wir haben meistens die Demenzerkrankungen, die nicht heilbar sind. Das Ziel ist darum auf der einen Seite, möglichst das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen, und auf der anderen, gerade in den schwereren Erkrankungsstadien die Lebensqualität der Betroffenen möglichst hochzuhalten.
Medikamentöse Therapien
Wir haben zurzeit nur symptomatisch wirkende Behandlungsmaßnahmen, unter anderem Medikamente, die man für bestimmte Symptome im Rahmen von Demenz nimmt. Und da gehören bei der frühen Demenz zum Beispiel sogenannte Antidementiva dazu. Sie wurden entwickelt, um das Gedächtnis zu stabilisieren. Wobei man sagen muss, dass deren Wirksamkeit leider noch sehr beschränkt ist. Darum ist es wichtig, darauf zu achten, ob die Wirkung und die leider auch damit verbundenen Nebenwirkungen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Dann gibt es noch weitere symptomatische Medikamente für andere Teilaspekte einer Demenz, wie etwa für Schlafstörungen und für Unruhe- oder Angstzustände. Diese würde man nur einsetzen, wenn diese Probleme entsprechend vorhanden sind. Hier wäre auch der Hausarzt der erste Ansprechpartner.
Nicht medikamentöse Therapien
Da stehen insbesondere Physio- oder Ergotherapie im Vordergrund. Das ist in dem frühen Stadium einer Demenz meistens sehr sinnvoll, um motorische Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern. Natürlich hängt das auch davon ab, ob Beweglichkeitseinschränkungen mit der Demenzerkrankung zusammen aufgetreten sind. In den mittleren Stadien sind auch Tagesstätten sinnvoll. Dort haben die Betroffenen die Möglichkeit, entsprechend ihrer Leistungsbreite Beschäftigung und Anregung zu finden. Ganz wichtig bei Demenzerkrankungen ist, dass der Alltag nicht zu eintönig oder reizisoliert stattfindet. Sonst kann es unter anderem zu einer Tag-Nacht-Rhythmusstörung kommen. Auch Spaziergänge und ähnliche Tätigkeiten helfen bei einer Rhythmisierung des Alltags.
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Unterscheiden sich die Therapieansätze bei den verschiedenen Formen der Demenz oder sind sie allgemeingültig?
Wenn man von Demenz spricht, ist meistens die Rede von der Alzheimer-Krankheit als Demenzursache. Das trifft immerhin in drei Vierteln aller Fälle zu. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass bei einem Viertel der Menschen die Demenz auf anderen Krankheiten beruht. Da sind vor allem Schlaganfälle und Durchblutungsstörungen des Gehirns ursächlich, aber auch Erkrankungen wie eine parkinsonsche Erkrankung.
Diese Erkrankungen werden nicht mit den Antidementiva behandelt, die für die Alzheimer-Erkrankung zugelassen sind. Sondern dann spielen speziellere Maßnahmen, die für die einzelne Erkrankung wichtiger sind, eine Rolle. Bei Demenzerkrankungen durch Schlaganfälle beispielsweise liegen oft gut therapierbare Bewegungsstörungen vor. Auch bei der parkinsonschen Erkrankung steht natürlich die Behandlung der Bewegungsstörung im Vordergrund.
Welche Therapieform ist Erfolg versprechender? Medikamentös oder nicht medikamentös?
Das ist schwierig, weil es selten Untersuchungen mit Kopf-an-Kopf-Vergleichen gibt. Unter den Antidementiva gibt es die. Da kann man relativ sicher sagen, dass die Antidementiva, die auf dem Wirkprinzip Acetylcholinesterase-Hemmung beruhen, alle gleich wirksam sind. Aber ob jetzt beispielsweise Ergo- oder Physiotherapie wirksamer sind als ein Medikament, lässt sich schwer sagen. Was man definitiv sagen kann, je nach Beschwerdebild des einzelnen Patienten, ist, dass es gerade bei Physio- und Ergotherapie einige Demenzkranke gibt, die darauf sehr gut reagieren.
Verlaufen die Therapien parallel oder wird erst beispielsweise die nicht medikamentöse Therapie eingesetzt und dann durch die medikamentöse Therapie ergänzt?
Gerade wenn es um zusätzliche Symptome geht, die neben der obligatorischen Gedächtnisstörung auftreten können, wie etwa Schlafstörungen, Unruhe- oder Angstzustände und Störung des Tag-Nacht-Rhythmus, steht die nicht medikamentöse Therapie im Vordergrund. Die Gestaltung eines adäquaten Tag-Nacht-Rhythmus durch geregelte Aufsteh- und Zubettgehzeiten sowie eine vernünftige Beschäftigung während des Tages machen durchaus mehr Sinn als eine Verordnung von Schlafmitteln zur Nachtzeit.
Welche Rolle spielt die geriatrische Reha als Therapieform für Demenzkranke?
Die Geriatrie ist spezialisiert auf Patientinnen und Patienten, die etwa 65 Jahre oder älter sind. Ihr Behandlungsansatz ist ganzheitlich und integriert unterschiedliche medizinische Disziplinen und Therapieformen, darunter auch Physio- und Ergotherapie. Die Ergebnisse zeigen, dass Patienten mit einer leichten bis mittleren Demenzerkrankung ähnlich gut profitieren wie Menschen ohne eine Demenz. Daher ist es ein sehr gutes Angebot.
Welche Voraussetzung müssen Patienten mitbringen, um Anspruch auf die geriatrische Reha zu haben?
Es gibt keine Reha direkt mit dem Anlass Demenzerkrankung. Aber sehr oft haben Demenzerkrankte eine Hüftfraktur, einen kleinen Schlaganfall oder auch einen Herzinfarkt. Gerade diese Patienten profitieren von einer geriatrischen Reha, die ja nicht immer nur auf das betroffene Organ – das Herz oder die Hüfte – abzielt, sondern umfassender probiert rehabilitativ tätig zu werden. Mit dem Ziel, neben der bestmöglichen Heilung auch im guten Maße die Alltagskompetenz zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Vorstellung, dass sich jemand schlechter von einem Knochenbruch erholt, weil er eine leichte bis mittlere Demenz hat, ist falsch. Wenn die Reha darauf angepasst ist, dass die Patienten Orientierungsschwierigkeiten oder Ähnliches haben, dann könne diese genauso gut profitieren.
Wie wichtig ist generell der Zeitpunkt, an dem die Therapie einsetzt?
Bis jetzt ist nicht überzeugend gezeigt worden, dass wir mehr erreichen, wenn wir mit einem der verfügbaren Medikamente früher beginnen. Die Zukunftserwartung liegt aber genau dort, nämlich dass wir Medikamente zur Verfügung haben, die den Verlauf der Erkrankung deutlich ändern, wenn die Behandlung früh begonnen wird. Ich sehe das eher am fernen Horizont.
„Ziel der Therapie ist, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen und die Lebensqualität der Betroffenen möglichst hochzuhalten.“
Prof. Dr. Michael Hüll
Chefarzt an der Klinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie in Emmendingen
Wie oft sind Arztbesuche im Rahmen einer Demenztherapie sinnvoll?
Also es ist sicherlich sinnvoll, mindesten einmal im Quartal einen Arztkontakt zu haben. Dazu kommt, dass Demenzerkrankungen auch Erkrankungen des höheren Lebensalters sind. Zu der Demenz kommen dann eventuell auch Diabetes oder Bluthochdruck dazu, sodass es ratsam ist, die Frequenz auf zweimal im Quartal zu erhöhen. Bei einer Zuckereinstellung kann es auch ganz schnell noch häufiger werden.
Wie verändert sich der Kontakt zum Arzt im Verlauf der Demenz?
Eine Demenzerkrankung verläuft in drei allgemein erlebten Stadien, die alle eine unterschiedliche Betreuung des Arztes erfordern:
- Im ersten Stadium können Ärztekontakte etwas weiter auseinanderliegen, da nur eine leichte Einschränkung vorliegt, die über längere Zeit stabil bleibt. Überlegungen zu Vorsorge- und Betreuungsvollmachten sollten bei noch bestehender Urteilsfähigkeit spätestens jetzt getroffen werden.
- Im zweiten Stadium wird oft eine Folge von raschen Verschlechterungen beobachtet. Jetzt müssen viele wichtige Entscheidungen in Absprache mit dem Arzt getroffen werden, da die Erkrankung oft rasch voranschreitet.
- Im dritten Stadium muss meistens ein Ansprechpartner rund um die Uhr da sein – ob zu Hause oder in einem Pflegeheim.
Welche Entscheidungen trifft der Arzt mit Betroffenen?
Zum Beispiel: Ist die Versorgung in der Häuslichkeit noch möglich? Oder muss man schon planen, ob jemand 24 Stunden da sein muss, um die Versorgung zu gewährleisten? Schon in der ersten Phase, wo die Krankheit zwar feststeht, sie aber kaum Veränderungen durchläuft, ist es wichtig, die zweite Phase vorzubereiten. Ich bin immer überrascht, dass viele Familien sich keine Gedanken nach der Diagnose gemacht haben, etwa: Was machen wir denn, wenn Fähigkeiten wie Kochen und Wäschewaschen verloren gehen oder wenn wir unseren Vater oder unsere Mutter nicht mehr allein lassen können?
Wie werden die Betroffenen in diese Entscheidungen mit eingebunden?
Im Idealfall wird dieses Advance Care Planning, die Vorwegnahme einer Pflegeplanung, bei einem frühen Arztbesuch angesprochen. In der frühen Phase können Patienten ihren Willen noch kundtun und Entscheidungen treffen, die erst in der dritten Phase relevant werden, wie: „Würde ich denn wollen, auch künstlich ernährt oder an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen zu werden?“
Denn wenn wir eins wissen von Demenzerkrankungen, dann, wie sie voranschreiten. Für die Hälfte der Erkrankten ist die Demenz – sofern kein Unfall oder keine andere Erkrankung dazukommt – auch die endgültige Todesursache.
Wie wichtig ist es, Angehörige und Freunde in die Therapie miteinzubeziehen?
Das ist ganz wichtig. Je größer das soziale Netz und je mehr Schultern sozusagen mittragen, umso besser. Man sieht immer wieder, dass die Verläufe deutlich günstiger sind, je mehr Menschen sich in der Unterstützung organisieren und auch die unmittelbaren Ehepartner entlasten. Die haben ja gewissermaßen einen Langstreckenlauf vor sich und wenn man drei, vier Jahre für einen Demenzpatienten sorgt, dann ist man am Ende einfach ausgelaugt.
„Demenz verläuft deutlich günstiger, je mehr Menschen sich in der Unterstützung organisieren und auch die unmittelbaren Ehepartner entlasten.“
Prof. Dr. Michael Hüll
Chefarzt an der Klinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie in Emmendingen
Was können Angehörige tun, um zum Erfolg der Therapie beizutragen?
Sie können die Demenzkranken in Unternehmungen mit einbinden. Es ist sehr wichtig, dass sie aktiv bleiben. Das kann die Geduld zwar sehr strapazieren, ist aber für den Verlauf der Demenz von Vorteil. Ich habe Patienten mit Orientierungsstörung oder schweren Merkfähigkeitsstörung erlebt, die gehen noch auf Wanderungen mit Freunden und Bekannten. Die respektieren dann, dass die Kranken nicht immer auf der Höhe sind und beispielsweise nicht mehr so viele oder immer dieselben Geschichten erzählen.
Wie können Patienten selbst entscheidend zum Erfolg beitragen?
Das Wichtigste ist, möglichst viele Leute an sich ranzulassen. Das war in der Vergangenheit nicht immer so einfach, aber es ist zum Glück so, dass sich da ein bisschen was geändert hat. Es gab die Zeit, in der Demenzerkrankungen verschwiegen und verheimlicht wurden, das hatte immer etwas ganz Seltsames. Ich erlebe jetzt aber immer wieder, dass mir Patienten und Angehörige berichten, dass sie sogar ihre Nachbarn mit eingebunden haben. Sie haben dort zum Beispiel einen Zweitschlüssel hinterlegt, da sie den eigenen öfter mal vergessen haben. Da ist das Verständnis in der Gesellschaft schon gewachsen und die Scham zurückgegangen. Es ist halt eine Erkrankung, die bei der heutigen Lebenserwartung etwa jeder Vierte am Ende seines Lebens erleben wird. Das weiß auch die Bevölkerung.