Krebs
Neuroblastom: Ursachen und Therapie der Krebserkrankung
Veröffentlicht am:09.12.2024
7 Minuten Lesedauer
Von dem Nervenkrebs sind meistens Kinder unter 6 Jahren betroffen. Die Ursachen der Erkrankung untersuchen Forschende unter Leitung der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Leiterin des Projekts ist die Professorin Dr. Angelika Eggert. Sie erklärt die Besonderheit des Neuroblastoms.
Inhalte im Überblick
- Frau Prof. Dr. Eggert, warum ist die Forschung zum Neuroblastom so wichtig und was macht diese Krebsart so „besonders“?
- Was sind die Ursachen für die Entstehung des Neuroblastoms?
- Welche Forschungsansätze gibt es hier?
- Die Heilungschancen bei einer metastasierten Neuroblastom-Erkrankung liegen jenseits des Säuglingsalters bei 50 Prozent. Was macht die Bekämpfung dieses Tumors so schwierig?
- Wie sehen die Therapieansätze derzeit aus?
- Welche Nebenwirkungen sind bei so einer aggressiven Therapie zu erwarten?
- Wie hoch ist die Rezidivhäufigkeit beim Neuroblastom, also ein erneuter Ausbruch der Erkrankung?
- Von welchen Zeitabständen zwischen Ersterkrankung und Folgeerkrankung sprechen wir da?
- Umso wichtiger ist die weitere Forschung – wo setzen Sie hier genau an und was ist Ihr Ziel?
- Wie steht es um den internationalen Austausch bei solchen intensiven Forschungsansätzen?
Frau Prof. Dr. Eggert, warum ist die Forschung zum Neuroblastom so wichtig und was macht diese Krebsart so „besonders“?
Das Neuroblastom ist in Deutschland eine häufige bösartige Krebserkrankung im Kindesalter. Meistens sind Kinder bis zum 6. Lebensjahr betroffen. Die Besonderheit dabei ist, dass das Neuroblastom zu den sogenannten embryonalen Tumoren gehört, das heißt, sie entstehen oft schon im Mutterleib. Bei der embryonalen Entwicklung geht also etwas schief. Was da aber genau passiert, wissen wir noch nicht.
Prof. Dr. Angelika Eggert
© privat
Die Professorin Dr. Angelika Eggert leitet den Sonderforschungsbereich „Entschlüsselung evolutionärer Mechanismen beim Neuroblastom“ an der Berliner Charité.
Was sind die Ursachen für die Entstehung des Neuroblastoms?
Dem Neuroblastom liegt immer eine genetische Veränderung im Gewebe zugrunde. Sehr selten gibt es auch familiäre, also vererbte Neuroblastome. Bislang gibt es aber nur etwa 20 Familien weltweit, die von Generation zu Generation Neuroblastome über die Keimbahn weitergeben. Die meisten Erkrankungen sind spontan. Welche Einflüsse hier eine Rolle spielen, ist Gegenstand der Forschung.
Welche Forschungsansätze gibt es hier?
Bei einer so frühzeitigen Entwicklung des Tumors muss es Risikofaktoren in der Schwangerschaft geben, die diese Erkrankung begünstigen beziehungsweise verursachen. Welche das sind – ob es sich beispielsweise um die Folgen einer unbekannten Virusinfektion oder Umwelteinflüsse handelt, darüber gibt es bislang nur sehr wenige Erkenntnisse. Hier wären unter anderem molekulare Forschungsansätze wichtig, zum Beispiel anhand von nach der Geburt durchgeführten Blutuntersuchungen der Kinder im Rahmen des Neugeborenen-Screenings.
Welche Symptome können auftreten?
Manche Kinder mit Neuroblastom haben zunächst keine Krankheitsanzeichen. Deshalb wird das Neuroblastom oft zufällig entdeckt, zum Beispiel bei einer Routineuntersuchung durch den Kinderarzt. Beschwerden treten in der Regel erst dann auf, wenn das Tumorwachstum fortgeschritten ist und sich bereits Metastasen (Tochtergeschwülste) gebildet haben. Die Symptome variieren je nach Lage des Tumors:
- Schwellung an Hals oder Bauch
- Atemnot
- Lähmungserscheinungen (wenn die Tumoren in den Wirbelkanal einwachsen)
- Verstopfung, weil der Tumor auf den Darm drückt
- Harnstau, weil der Tumor auf den Harnleiter drückt
- bei Tumoren im Halsbereich tritt das Horner-Syndrom auf, das heißt der Augapfel sinkt zurück, die Pupille verkleinert sich einseitig, das Lid hängt herunter
- in seltenen Fällen auch Bluthochdruck, übermäßiges Schwitzen und anhaltender Durchfall
Die Heilungschancen bei einer metastasierten Neuroblastom-Erkrankung liegen jenseits des Säuglingsalters bei 50 Prozent. Was macht die Bekämpfung dieses Tumors so schwierig?
Wenn wir von Neuroblastomen sprechen, sprechen wir eigentlich von zwei Erkrankungen. Neuroblastome haben eine sehr unterschiedliche Biologie. Die eine Hälfte neigt dazu, sich spontan zurückzuentwickeln. Diese biologisch günstige Variante benötigt weitgehend keine Therapie. Es wird in der Regel eine Biopsie (Gewebeentnahme und Gewebeuntersuchung) und eine molekulare Charakterisierung (Bestimmung von Genen, die die Krankheit verursachen) gemacht. Danach kontrollieren wir nur per Ultraschall und durch Tumormarker in Blut und Urin die Tumorentwicklung – bis sich das Neuroblastom sicher zurückentwickelt.
Die andere Hälfte der Neuroblastome ist sehr aggressiv und hat schon bei Diagnosestellung Metastasen (Tochtergeschwülste) gebildet. Das sind die sogenannten Hochrisikoneuroblastome, denen wir uns auch in unserer Forschung widmen. Sie sind außerordentlich heterogen, das heißt, sie entstehen nicht nur aus sehr unterschiedlichen, sondern auch aus sehr wandelbaren Gewebezellen. Wir unterscheiden da zwei Zellarten – mesenchymale Zellen, die zum embryonalen Bindegewebe gehören, und adrenerge Zellen des vegetativen Nervensystems, die sich spontan oder unter Therapie ineinander umwandeln können. Beide Zellarten weisen unterschiedliche molekulare Eigenschaften und Resistenzprofile gegenüber Chemotherapie und Immuntherapie auf, das heißt manche Tumorzellen werden abgetötet, andere überleben. Und ihr Wechselspiel macht eine Bekämpfung des Hochrisikoneuroblastoms so schwierig.
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Wie sehen die Therapieansätze derzeit aus?
Bei Hochrisiko-Neuroblastomen machen wir bereits alles, was die moderne Medizin an Behandlungsmöglichkeiten kennt, um zumindest diese 50-Prozent-Heilungschance wahrzunehmen. Das fängt mit einer aggressiven Polychemotherapie, die mehrere Wirkstoffe enthält, an, dann Chirurgie, Bestrahlung des Tumorbetts und gegebenenfalls des restlichen Tumors, autologe Stammzelltransplantation (nach einer Chemotherapie werden den Patienten und Patientinnen eigene Stammzellen, die vorher entnommen wurden, übertragen. Sie sollen sich im Knochenmark vermehren, damit sich das Blutbild wieder erholt) und Immuntherapie mit einem monoklonalen Antikörper, also mit gentechnisch veränderten Proteinen. Die Therapie wird zudem psychologisch und familientherapeutisch begleitet.
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Welche Nebenwirkungen sind bei so einer aggressiven Therapie zu erwarten?
Eine Chemotherapie wirkt überall da gut, wo Zellen schnell wachsen. Das betrifft also auch gesunde Körperzellen, wie zum Beispiel Knochenmarkstammzellen. Nach einer Chemotherapie haben wir ein Zeitfenster von ein bis zwei Wochen, in dem das Knochenmark quasi streikt und keine roten und weißen Blutkörperchen und Blutplättchen produziert. Diese müssen dann ersetzt werden. Das birgt eine Infektionsgefahr mit möglichen schweren Infektionen. Dann gibt es den Haarausfall, der medizinisch kein Problem darstellt, aber natürlich kosmetisch beziehungsweise psychisch. Außerdem schädigt die Chemotherapie die Schleimhäute. Das heißt, der Mund ist betroffen und auch das Magen-Darm-System. Das sind alles die akuten Nebenwirkungen, aber es kann natürlich auch Spätfolgen geben. Beim Neuroblastom kennen wir sehr häufig Hörprobleme, genauer gesagt: den Verlust der Hörfähigkeit im Hochtonbereich. Viele Kinder müssen später ein Hörgerät tragen. Auch spätere Nieren- oder Leberprobleme treten bei einem Teil der Patientinnen und Patienten auf.
Wie hoch ist die Rezidivhäufigkeit beim Neuroblastom, also ein erneuter Ausbruch der Erkrankung?
Das ist das Tückische beim Hochrisiko-Neuroblastom: Selbst, wenn er einmal erfolgreich bekämpft ist, kehrt der Tumor nicht selten zurück. In dieser Rückfallsituation können wir noch einmal 20 bis 30 Prozent der Patienten und Patientinnen durch eine erneute passgenaue Therapie heilen. Eine Therapieoption, die in diesen schwierigen Fällen derzeit noch genauer untersucht wird, ist ein sogenannter ALK-Inhibitor, das sind Wirkstoffe, die das Enzym anaplastische Lymphomkinase, kurz ALK, hemmen. Allerdings tragen nur 15–20 Prozent der Betroffenen die entsprechende Genveränderung, sodass ALK-Inhibitoren für die Mehrheit der Patienten und Patientinnen nicht geeignet sind. Behandelt man zudem nur mit einem Medikament, entstehen sehr schnell Resistenzen dagegen. Da müssen wir künftig vermehrt Kombinationstherapien erforschen.
Von welchen Zeitabständen zwischen Ersterkrankung und Folgeerkrankung sprechen wir da?
Der Zeitraum hat sich in den letzten Jahren verschoben. Früher traten die Rückfälle spätestens nach drei Jahren auf. Heute sind unsere Therapien besser und die spätesten Rückfälle liegen nunmehr bis zu sechs oder sieben Jahre nach der Ersterkrankung. Dazu muss man sagen: Je länger der krankheitsfreie Zeitraum dauert, desto unwahrscheinlicher wird ein Rückfall. Aber es ist wie immer in der Medizin – eine Garantie ist das nicht.
Umso wichtiger ist die weitere Forschung – wo setzen Sie hier genau an und was ist Ihr Ziel?
Unser Ziel ist es, beim Hochrisiko-Neuroblastom und bei rezidivierten (wiedergekehrten) Neuroblastomen die biologische Heterogenität (Verschiedenheit) aufzulösen und zu verstehen. Dazu gehen wir auf das Niveau einzelner Zellen runter. So können wir besser sehen, wie sich womöglich Rezidive, also das Wiederauftreten der Tumore, verhindern lassen oder wie sich einzelne entartete Zellen möglichst frühzeitig im Gewebe erkennen und bekämpfen lassen. Wir nutzen aber auch sogenannte liquid biopsis, also Blut-, Knochenmark- oder Urinproben der Patienten, um genau zu verfolgen, wie sie auf die Therapie ansprechen, und einen möglichen Rückfall so früh wie möglich zu entdecken. Dadurch könnte ein gezieltes Angreifen der Zellen mit molekularen Therapien künftig besser machbar werden. Im Moment bekämpfen wir immer noch den kompletten Tumor – ohne zu wissen, wie die Zellen charakterisiert sind, die überleben und sich dann ja im Körper verstecken.
Neue Chancen für krebskranke Kinder und Jugendliche
Das INFORM-Projekt bietet krebskranken Kindern nach einem Rückfall oder einer Hochrisikoerkrankung die Chance auf einen neuen Behandlungsweg. Das wissenschaftliche Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, dass die betroffenen Kinder in dieser besonders schwierigen Situation die bestmögliche Behandlung erhalten.
Die molekulargenetische Krebsdiagnostik, wie sie in dem Projekt erfolgt, ist in ihrem Umfang, ihrer Qualität und kurzen Zeit europaweit einmalig. Das INFORM-Projekt ist eine Vernetzung der kinderonkologischen Zentren in Deutschland mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Uniklinik Heidelberg. Die AOK unterstützt die umfangreiche molekulargenetische Krebsdiagnostik und die strukturierte Zusammenarbeit.
Wie steht es um den internationalen Austausch bei solchen intensiven Forschungsansätzen?
In der Kinderonkologie ist das Teilen von Daten generell sehr ausgeprägt, wobei es international noch nicht um diese molekularen Datensätze geht. Das wird aber der nächste Schritt sein. Im Moment teilen wir transatlantisch die klinischen Daten aller Neuroblastom-Patienten und -Patientinnen, was mitunter wegen der unterschiedlichen Datenschutzrichtlinien nicht ganz einfach ist. Die US-amerikanischen Institutionen sind da sehr viel freier. In Europa ist der Datenschutz streng geregelt – dadurch sind wir bei solchen internationalen Ansätzen leider meist für alle der Hemmschuh. Gerade in Deutschland denken wir leider oft mehr über den Datenschutz als über den Patientenschutz nach – und stehen uns so selbst im Weg.