Krebs
Wenn das Geschwisterkind Krebs hat
Veröffentlicht am:05.05.2021
3 Minuten Lesedauer
Wenn ein Kind schwer erkrankt, ändert sich alles. Die Diagnose bestimmt, wie das Familienleben weitergeht. Für gesunde Geschwister ist das besonders schwer. Viele leiden im Stillen.
Was für ein Albtraum: Ben (Name von der Redaktion geändert) ist acht Jahre alt, als er Schmerzen in den Beinen bekommt. Wachstumsschübe, denken seine Eltern zunächst. Aber was bedeuten die Ringe unter seinen Augen? Und warum ist er seit einiger Zeit so appetitlos und schlapp? Seine Mutter hat ein ungutes Gefühl, geht mit ihrem Sohn zum Arzt. Dieser untersucht ihn eingehend und nimmt Blut ab.
Weitere Tests bringen Klarheit: Ben hat akute lymphatische Leukämie. Die Nachricht trifft die Familie mit großer Wucht. Ben muss in die Klinik, die Mutter bleibt Tag und Nacht bei ihm. Der Vater kann ein paar Tage frei nehmen, muss dann aber wieder zur Arbeit. Und die kleine Schwester Luna? Die Großeltern kommen von weit her, um die Siebenjährige zu versorgen. Sie ist in der zweiten Klasse, ihr Alltag muss ja irgendwie weitergehen. Äußerlich funktioniert das auch. Aber die Kleine wird in den nächsten Wochen immer stiller.
Auch gesunde Geschwister leiden unter der Krebserkrankung
Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, sei das auch für die gesunden Geschwister eine enorm schwierige Situation, sagt Ulrike Grundmann. „Chemotherapie und Krankenhausaufenthalte geben auf einmal den Takt des Familienlebens vor.“
Die Sozialpädagogin kümmert sich beim Dresdner Verein Sonnenstrahl e. V. um an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche sowie deren Familien. Sie hat viele Geschwisterkinder kennengelernt und weiß: „Während sich Mama und Papa intensiv um das kranke Kind kümmern, können sie nicht im gleichen Maße für die Geschwister da sein. Und wenn die Eltern nach Hause kommen, sind sie mit ihren Gedanken noch im Krankenhaus, sind ängstlich, sorgenvoll, erschöpft. Es ist eine Zerreißprobe für die Familie.“
Auf die Sorgen aller Kinder achten
Jährlich erkranken etwa 2.100 Kinder unter 18 Jahren an Krebs. Deren Geschwister werden dann früh mit Leid und existenziellen Fragen konfrontiert. Grundsätzlich überfordert seien sie damit nicht, so Ulrike Grundmann. „Sie sind großen Herausforderungen ausgesetzt, aber nicht allen geht es schlecht. Fast alle Geschwisterkinder entwickeln sehr feine Antennen für Stimmungen und machen sich Sorgen um das kranke Familienmitglied“, sagt Grundmann. Auch wenn manche sich vielleicht zurückgesetzt fühlten, wollten sie trotzdem helfen. „Sie schlüpfen in viele Rollen und versuchen, Spielgefährte, Pfleger, Unterhalter und Dolmetscher in einer Person zu sein.“
Das sei für ein Kind eine gewaltige Aufgabe, an der es allerdings auch wachse. „Viele gesunde Geschwisterkinder haben eine große emotionale Intelligenz und sind überaus sozial in ihrem Verhalten“, so die Pädagogin. „Bei einigen führt die Situation aber auch dazu, dass sie sich anpassen und ihre eigenen Sorgen und Probleme verschweigen. Sie wollen ihren Eltern nicht noch mehr zumuten.“
Gesunde Geschwister wollen die Eltern krebskranker Kinder nicht noch mehr belasten
Das könne dazu führen, dass die Kinder verlernen, über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu reden, und sie irgendwann vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen. Doch es gibt Alarmsignale, die auf die Not der Kinder hinweisen. „Wenn ihr Verhalten vom Gewohnten abweicht, sollten Eltern auf jeden Fall aufmerksam werden. Also, wenn an sich ruhige Kinder plötzlich laut und aggressiv auftreten oder umgekehrt, wenn aufmüpfige Kinder sich in sich zurückziehen“, sagt Ulrike Grundmann und weist darauf hin, dass das nicht sofort passieren muss.
Manchmal zeigten sich solche Reaktionen erst mit größerer zeitlicher Verzögerung, nach Monaten oder sogar erst nach ein, zwei Jahren. Dann kann es schwierig sein, den Zusammenhang zu erkennen. Andere vernachlässigte Geschwisterkinder klagen über Krankheitssymptome – auch das kann ein Ruf nach Aufmerksamkeit sein. Denn sie haben gelernt: Wer krank ist, bekommt Zuwendung.
Viele betroffene Eltern wissen, dass die gesunden Geschwister zu kurz kommen, und sehen auch, dass sie leiden. Für diesen Fall rät die Expertin: „Es ist enorm wichtig, dass bei aller Belastung die Eltern auch Zeit mit ihrem gesunden Kind verbringen, ganz exklusiv. Und dass sie das gesunde Geschwisterkind mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten bewusst fördern und sich über seine Erfolge und Fortschritte freuen.“ Es kann auch hilfreich sein, mit dem Klassenlehrer zu sprechen, damit er weiß, dass es in der Familie gerade Sorgen und Probleme gibt. Manchmal, so Ulrike Grundmann, lasse sich dadurch einiges auffangen.
„Alarmierend ist, wenn an sich ruhige Kinder plötzlich laut und aggressiv auftreten – und umgekehrt.“
Ulrike Grundmann
Sozialpädagogin beim Dresdner Verein Sonnenstrahl e. V.
Eltern sollten glaubwürdig bleiben
Kinder haben ein gutes Gespür für Stimmungen. Deshalb sollte man dem gesunden Kind nichts vormachen, rät Ulrike Grundmann: „Erklären Sie ihm die Situation möglichst ehrlich und altersgerecht. Gestehen Sie ruhig ein, dass Sie Angst und Sorgen haben. Glaubwürdigkeit ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Kind mit der Situation zurechtkommt.“
Als Lunas Eltern merken, dass die Siebenjährige immer stiller wird, nehmen sie sich vor, an zwei bis drei Nachmittagen ganz bewusst Zeit mit ihr zu verbringen, während die Großeltern bei Ben in der Klinik sind: eine Runde durch den Park toben, kuscheln auf dem Sofa – oder das, wozu Luna gerade Lust hat. Am Wochenende plant Papa einen Besuch im Kletterpark – nur Luna und er.