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Psychologie

Die Lust am Kontrollverlust – der Reiz von Moshpits und Pogos

Veröffentlicht am:26.07.2024

5 Minuten Lesedauer

Was ist der Reiz an Moshpits, Pogo und Raves? „Moshpits sind eine Art Neanderthalerfahrung unserer Zivilisation“, sagt Musikpsychologe Dr. Reinhard Kopiez und erklärt, warum ein gewisser Kontrollverlust auf Festivals und Konzerten für uns wichtig ist.

Eine junge Frau in einem blauen Sommerkleid tanzt, die Hände in die Höhe gereckt und lächelnd, in einer Menschenmenge.

© iStock / skynesher

Musik, Tanz und Emotionen

Das Portraitbild zeigt eine Nahaufnahme von Dr. Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Im Hintergrund ist ein Bücherregal zu sehen.

© privat

Wer schon mal auf einem Musikfestival in einen Moshpit war, beim Pogo auf einem Punkkonzert mitgehüpft ist oder auf einem Rave die Nacht zum Tag gemacht hat, weiß wie berauschend so ein vermeintlicher Kontrollverlust sein kann. Mit Dr. Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, haben wir über die Ursprünge dieser Faszination am Kontrollverlust gesprochen.

Prof. Dr. Reinhard Kopiez, Tanzen ist eine der ältesten Form menschlicher Ausdrucksweise und spielt in vielen Kulturen eine wichtige Rolle. Aber warum tanzen Menschen überhaupt?

Prof. Dr. Reinhard Kopiez: Die Verbindung von Musik und Gesang mit Bewegung ist eine Erfahrung, die wir schon als Säugling machen: durch das sogenannte Wiegenlied. Später sind wir in der Lage, selber aktiv zu tanzen, uns also zu einem Takt synchronisiert zu bewegen. Neben dem Spaßfaktor muss dies irgendeinen Sinn haben, sonst hätte diese Fähigkeit evolutionär nicht 40.000 Jahre überlebt. Ein Stichwort hier ist auch die Partnerwahl – der klassische Tanzkurs als Begegnungsstätte.

Musik kann sehr emotional sein. Können Sie erklären wie Musik und Emotionen zusammenhängen?

Prof. Dr. Reinhard Kopiez: Es gibt drei Kerngründe, warum Menschen Musik hören. Einer davon ist die Stimmungsregulation. Musik ist in der Lage, Stimmungen anzuregen und schlechte Stimmungen aufzulösen. Das zweite Motiv ist das soziale Miteinander beim Musikhören und Tanzen, da passiert sehr viel gleichzeitig. Wenn ich allein Musik höre oder allein tanze, dann kann ich gut nachdenken und meine Probleme sortieren. Das ist das dritte Moment. Und vielleicht ist es das Alleinstellungsmerkmal des Menschen, neben der Sprache ein zweites nonverbales Kommunikationsmittel zu haben, die Musik.

Musik spielt eine besondere Rolle, wenn es um Emotionen geht, vermag sie doch die unterschiedlichsten Emotionen hervorzurufen. Was sagt die Wissenschaft dazu? Eine Übersichtsarbeit von 2020 über 47 Studien hat zusammengefasst, welche Gehirnregionen durch Musik aktiviert und welche Emotionen dabei ausgelöst werden. Die Ergebnisse zeigen, dass ein ganzes Netzwerk von Regionen aktiviert wird, die bei der Verarbeitung von Belohnungen beteiligt sind. Zudem wird beim Musikhören auch eine Hirnregion stimuliert, die vor allem mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht wird. Man vermutet, dass die emotionalen Prozesse mit der sozialen Bindung und bindungsbezogenen Gefühlen durch gemeinsames Musikhören zusammenhängt. Musik kann in seltenen Fällen sogar physiologische Reaktionen wie Gänsehaut oder einen kalten Schauer über den Rücken hervorrufen: Wenn das musikalische Vergnügen besonders stark ist – und eine gewisse Vertrautheit mit der Musik besteht. Dies ist hauptsächlich bei Musikern der Fall.

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Moshpit, Pogo und Rave: eine Erklärung

Nun gibt es auch besonders extreme Ausdrucksformen des Tanzes. Was ist der Unterschied zwischen Moshpit, Pogo und einem Rave?

Prof. Dr. Reinhard Kopiez: Moshpit bedeutet Chaoskessel und ist häufig auf Heavy-Metal-Konzerten zu sehen: ein Kreis, der sich vor der Bühne eines Konzertes bildet und in dem wild getanzt wird. Es ist so eine Art Schubstanz, in dem die Kollision mit eingeplant ist. Dann gibt es noch die Wall of Death. Hier teilt sich das Publikum, entweder spontan oder von den Musikern initiiert, und läuft aufeinander zu. Die beiden Menschenmengen prallen zusammen, das ist nicht ganz ungefährlich. Pogo ist historisch vielleicht die älteste Erscheinungsform dieser Art von Bewegung zu Musik. Pogo kommt aus dem Punk in den 1970er-Jahren und heißt eigentlich nur hüpfen. Man hüpft wild durch die Gegend und rempelt so natürlich auch unkontrolliert Leute an. Dahinter steckt aber noch eine andere Idee. Das Ganze war eine soziale Gegenbewegung gegen alles Etablierte und Gesittete. Bürgerliche Tänze wie Salsa oder Foxtrott waren sozusagen das Feindbild und dagegen setzte man den Pogo. Vom Rave her kennen wir das ekstatische Tanzen, das eher berührungslos abläuft.

Raves sind Parties, die sich vor allem durch Musik mit hypnotischen Rhythmen auszeichnen, häufig an geheimen Veranstaltungsorten stattfinden und für einen liberalen Gebrauch von Drogen bekannt sind. Eine Kombination aus Marathon-Trance-Tanz, Drogenkonsum und Musik macht für Raver die Anziehungskraft dieser Veranstaltungen aus. Außerdem hat die Musik wenig bis gar keinen Gesang.

Ein junger Mann erlebt, getragen von den Händen einer Menschenmenge, ein Musikkonzert.

© iStock / PeopleImages

Menschen suchen gezielt nach musikalischen Erfahrungen, die Chaos und Kontrollverlust fördern.

Das Bedürfnis nach Chaos und Kontrollverlust

Wo kommt das Bedürfnis her, sich bei lauter Musik durch die Gegend zu schubsen oder in großen Menschenmengen in Ekstase zu tanzen? Warum suchen manche Menschen gezielt nach musikalischen Erfahrungen, die Chaos und Kontrollverlust fördern?

Prof. Dr. Reinhard Kopiez: Das hat starke Merkmale von Ritualen. Rituale kennzeichnen sich durch etwas Außergewöhnliches, immer in Verbindung mit einem gewissen Maß an Kontrollverlust. Die Sehnsucht nach reduzierter Kontrolle ist evolutionär etwas sehr Menschliches. Wir wissen aus der Improvisationsforschung, dem Jazz, dass Kontrolle abzugeben, etwas sehr Wichtiges ist. Die Spieler, die am Klavier improvisieren, haben ein bestimmtes Gehirnaktivitätsmuster, das sich dadurch auszeichnet, dass das Frontalhirn in seiner Aktivität reduziert wird. Das Frontalhirn ist das Impulskontrollorgan, das verhindert, dass ich dem anderen eine reinhaue, wenn er mir den Parkplatz wegnimmt. Um kreativ zu sein, muss die Kontrolle zurückgefahren werden. Und Kreativität ist überlebenswichtig, wenn ich Probleme lösen muss.

Auch in einer Masse hat man keine Kontrolle mehr, das ist in der Massenpsychologie gut beschrieben, diese Deindividualisierungtendenz: Ich bin nicht mehr verantwortlich, ich bin Teil einer Masse. Auf diese Verhaltensweisen bauen diese extremen Ausdrucksformen des Tanzes auf. Es ist eine Art kontrollierter Kontrollverlust. Die Regeln sind ja klar, die Leute wissen, auf welches Risiko sie sich einlassen. Vielleicht sind die Moshpits eine Art Neanderthalerfahrung unserer Zivilisation, also ein Verhalten außerhalb der Normen naturferner Gesellschaften.

Wie können Veranstalter von Musikveranstaltungen ein sicheres Umfeld schaffen, in dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen den Kontrollverlust erleben können?

Prof. Dr. Reinhard Kopiez: Es wird vermutlich immer eine Gratwanderung bleiben. Auf der einen Seite haben wir den Anspruch der Konzertbesucher und Konzertbesucherinnen, die viel Geld ausgegeben und einen gewissen Erlebnisanspruch haben. Wenn man das zu stark reguliert, verlieren diese Veranstaltungen ihren authentischen Charakter. Auf der anderen Seite gibt es ja gewisse Regeln, eine Netiquette: Wer hinfällt, dem wird aufgeholfen, es werden keine scharfkantigen Gegenstände am Körper getragen und wer aus dem Moshpit rauswill, kommt auch sofort raus.

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