Psychologie
Sehnsucht nach der Ferne: Was hilft gegen Fernweh?
Veröffentlicht am:28.04.2023
8 Minuten Lesedauer
Fernweh ist nicht nur die hin und wieder aufkommende Lust, sich ins Flugzeug zu setzen und ans Meer zu fliegen. Stattdessen handelt es sich dabei um tiefgehende Gefühle und Sehnsüchte, die ihren Ursprung oft in der Kindheit haben.
Dr. Peter Walschburger ist Universitätsprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Biopsychologie an der Freien Universität Berlin. Im Interview spricht er darüber, was Fernweh eigentlich ist, wo der Ursprung liegt und was Menschen dabei hilft, langfristig Wurzeln schlagen zu können.
Wie definieren Sie Fernweh?
Fernweh ist – wie auch Heimweh – die Sehnsucht nach einem entrückten Objekt unserer Fantasie, einem entrückten Ort unseres Begehrens. Für viele, die in der Ferne gelandet sind und sich zurücksehnen nach der vertrauten Heimat, ist das Heimweh dominant. Fernweh – das ist verschwistert mit einem Bedürfnis nach Aufbruch. Es setzt ein, wenn Menschen in vertrauten Umgebungen eher beginnen, sich zu langweilen und sich vorzustellen, was noch alles möglich wäre, wenn sie nur ein bisschen unternehmungslustiger wären. Wenn man untersucht, wie wir Menschen unsere komplexe, globalisierte Welt zu bewältigen versuchen, stößt man auf zwei gegensätzliche Grundhaltungen: Die einen sind eher rückwärts orientiert. Sie schätzen im Früheren vor allem ein naturnahes soziales Leben im vertrauten Kreis. Die anderen sind fortschrittsgläubig: Sie mögen den fortwährenden Aufbruch zu neuen Ufern und glauben an den Fortschritt hin zum Besseren.
„In der jugendlichen Welt ist nichts attraktiver als das Fremde, das Andersartige in jeder Richtung. Da hat das Fernweh seinen entwicklungspsychologischen Ort.“
Prof. Dr. Peter Walschburger
Universitätsprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Biopsychologie an der Freien Universität Berlin
Wo hat Fernweh seinen Ursprung?
Das Vertraute, das die Heimat bildet – die vertrauten Menschen, die vertraute Umgebung, vertraute Gerüche – hat entwicklungspsychologisch seinen Ursprung in der Familie des Kleinkinds. Wir sind soziale Wesen, aber anders als unsere nächsten Verwandten im Tierreich kommen wir mit einem unreifen Gehirn auf die Welt. Wir sind zunächst ganz auf Sicherheit, auf die Ausbildung eines Urvertrauens angewiesen. Da ist von Fernweh noch lange nicht die Rede. Aber wenn diese Phase gut abläuft und unser Bedürfnis nach Sicherheit in einer vertrauten Umgebung befriedigt wird, dann werden wir immer unternehmungslustiger und erweitern unseren Aktionsradius. Vom dritten, vierten Lebensjahr an erweitern wir unsere Lebenswelt immer mehr. Den Höhepunkt erreicht die ausgreifende Unternehmungslust im jungen Erwachsenenalter. Vorher sind Kinder noch an ihre Eltern gebunden und stellen ihre Autorität nicht infrage. Mit der Pubertät kommt der Moment in der jugendlichen Welt, in der sie der Familie überdrüssig werden und raus wollen. Jetzt ist nichts anziehender als der, die oder das Fremde, das Andersartige. Lehrerinnen, Lehrer und Eltern – alles, was an Autoritäten fraglos hingenommen wurde – verliert an Attraktivität und Einfluss.
Was ist aus entwicklungspsychologischer Sicht dann die Folge?
Es bringt einen evolutionären Vorteil, wenn die jungen Erwachsenen hinaus in die Welt ziehen. So kommt man los von seiner „Primärfamilie“ und erhöht die Chance, eine eigene „Sekundärfamilie“ zu bilden – also mit einer fremden Partnerin oder einem fremden Partner vertraut zu werden, Kinder zu kriegen und eine neue Heimat zu finden. Die erste Phase dieser Beziehung ist neu und reizvoll. Auf einmal ist da eine aufregende, unbekannte Person – die zwar bald nicht mehr so neu und aufregend ist wie am ersten Tag, die uns dafür aber zunehmend Sicherheit und Vertrauen vermitteln kann, bei der wir uns ausruhen und gehen lassen können. All das kann aber erneut die Sehnsucht nach dem Fremden und Reizvollen wecken, vor allem bei den Unternehmungslustigeren unter uns. Und so streben viele von uns erneut wieder in die Welt hinaus.
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Woran liegt es, dass manche Menschen mehr Fernweh haben als andere?
Entwicklungspsychologisch gesehen sind die Jugendlichen besonders anfällig für Fernweh, was mit dem erwähnten Überlebensvorteil verknüpft ist. Aber natürlich gibt es auch große individuelle Unterschiede. Das kann biologische oder hormonelle Gründe haben oder am Temperament und an vielen weiteren inneren Bedingungen und äußeren Anregungen liegen. Ängstlichere Menschen werden zum Beispiel weniger dazu neigen, eine vertraute Umgebung zu verlassen. Anderen wiederum ist vor gar nichts bang. Dabei spielen Vorbilder in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle. Vorbilder, die uns zur Nachahmung ermuntern – wie etwa ein abenteuerlustiger Nachbar. Es ist sehr schwer auseinanderzuhalten, was dabei anlagebezogen und was umweltbezogen ist.
Gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?
Frauen sind insgesamt etwas empfänglicher für kommunikative und angsterregende Umweltinformationen als Männer. Ihre Evolution ist von einer größeren Investition für den Nachwuchs geprägt und das hat dazu beigetragen, dass Frauen mehr auf ein empathisches, vertrautes Miteinander bedacht sind als Männer. Trotz erheblicher individueller Unterschiede zeigen Frauen insgesamt daher keine derart unbekümmerte Unternehmungslust nach außen und nach oben wie Männer.
„Wenn sich ein Urvertrauen erst einmal gebildet hat und dann eine frühe Gewöhnung an verschiedene Lebenswelten und Umweltanregungen erfolgt, macht das im Erwachsenenalter offener für Neues.“
Prof. Dr. Peter Walschburger
Universitätsprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Biopsychologie an der Freien Universität Berlin
Es heißt, Menschen, die in ihrer Kindheit entwurzelt wurden, haben öfter Fernweh. Stimmt das?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich sorgt der Bindungsstil, der sich zwischen Eltern und Kleinkind entwickelt hat, für Unterschiede in der Frage, wie stabil spätere Beziehungen in der Umwelt sind. Ich würde die Frage gerne so beantworten: Wenn sich ein Urvertrauen erst einmal genbildet hat, dann kann ein früher Wechsel der Lebenswelten als anregend empfunden werden und dafür sorgen, dass man auch als Erwachsener offener bleibt für Neues.
Was hat es mit dem sogenannten Abenteuer-Gen auf sich?
Die Annahme, dass Abenteuerlust in einem einzelnen Gen zusammengefasst werden kann, ist unplausibel. Klar ist aber auch, dass es für unser Handeln eine genetische Grundlage gibt. So gibt es auch belegbare genetische Grundlagen für Temperamentsunterschiede, die uns eher reizhungrig, abenteuerlustig und begierig auf Neues und Fremdes werden lassen, oder aber eine Vorliebe für das Vertraute, Familiäre, Heimatliche und Sesshafte begünstigen. Wie unsere tierischen Verwandten – die sozial lebenden Säugetiere – haben wir noch einen intakten Instinktapparat. Ausschlaggebend ist aber: Bei uns Menschen dominiert der Instinktapparat nur in ganz bestimmten Situationen – nämlich dort, wo wir hoch emotional oder sehr triebhaft handeln. Dort, wo wir gelassen und bedächtig handeln, übernimmt das Großhirn die Kontrolle. Wir können angstgetönte Situationen – mit etwas Zeit und bei innerer Gelassenheit – analysieren und dann als gar nicht mehr ängstigend oder sogar lustvoll erleben.
Auf der Basis genetischer Grundlagen können wir so eine – allerdings beschränkte – Rationalität und Handlungsfreiheit über unsere Triebwelt gewinnen. Gerade komplexere emotional-motivationale Vorgänge wie etwa das Fernweh sind daher sicher nicht auf ein Gen reduzierbar und können nicht als ausschließlich genetisch bedingt betrachtet werden.
Welche negativen Folgen kann Fernweh haben?
Zum einen ist da diese impulsive Rastlosigkeit: Menschen ohne ausreichende Impulskontrolle lassen sich von jedem neuen Impuls fortreißen. All die vielfältigen, verführerischen Angebote der modernen weiten Welt werden – über die modernen Medien verstärkt – begierig aufgenommen und führen dazu, dass sich die Menschen wie Getriebene verhalten. Sie haben keinen Ruhepol mehr – und auch keine Nachhaltigkeit in der Entwicklung ihrer Werte, ihrer inneren Lebenskultur. Auch für Partnerschaften ist das eine Herausforderung. Zum anderen wohnt bekanntlich jedem Aufbruch auch ein Zauber inne. Etwas Neues anzupacken, wirkt antidepressiv, belebend und reizvoll. Problematisch wird es, wenn man das Neue nur anpackt, um es gleich wieder fallen zu lassen.
Menschen, die von andauerndem Fernweh getrieben sind, die fast immer auf Reisen sind, laufen Gefahr, ihre heimatlichen Wurzeln zu verlieren. Wer verwurzelt ist, ist sozial eingebettet, sei es als Mitglied in einem Verein oder über Freundschaften in seiner engeren Umgebung. Auch wenn uns inzwischen moderne Formen virtueller Freundschaften locken, die wir in die Ferne mitnehmen und die uns aus der Ferne unterhalten können – sie befriedigen uns nicht in gleichem Maße. Ihnen fehlen sinnliche, kommunikative und existentielle Aspekte der menschlichen Begegnung im Nahraum.
Was verbirgt sich hinter dem sogenannten Sensation Seeking?
Sensation Seeking beschreibt die abenteuerlustige Neigung von Personen, sich in ihren Umweltbeziehungen mit an- und aufregenden, komplexen, riskanten und neuartigen Aspekten zu beschäftigen. Sensation Seeker bilden damit einen Gegenpol zu ängstlichen Personen, welche die Sicherheit in vertrauter, gewohnter, heimatlicher Umgebung besonders schätzen. In seiner Millionen Jahre langen Evolution hat sich der Mensch zu einem Wesen entwickelt, das sich einerseits extrem unternehmungslustig über den ganzen Erdball verbreitet hat. Andererseits kann er aber auch deutliche Anzeichen einer emotional labilen Reaktionsbereitschaft entwickeln, wenn es bedrohlich oder unheimlich wird. Entsprechend große Unterschiede findet man bei den Eigenschaften einzelner Personen – das reicht vom Angsthasen bis hin zur Abenteuersuchenden, vom Stubenhocker bis zur Weltenbummlerin.
Es wird oft übersehen, dass uns eine unheimliche Begegnung häufig nicht nur in Angst und Schrecken versetzt, sondern auch zu einer regelrechten Erregungslust führen kann. Wenn wir uns selbst stark und sicher fühlen, können wir extreme Lebenswelten, gruselige Orte oder schreckliche Geschichten als durchaus reizvoll erleben. Wir sind dann fasziniert von Extremsportarten, von Expeditionen in lebensfeindliche Umwelten, von Krimis und Horrorfilmen oder von einer Mutprobe beim Bungee-Jumping. Diese Angstlust-Dynamik ist Teil eines uralten Handlungsmusters. Sein Überlebensvorteil liegt in der Erhöhung unserer Kompetenz beim Umgang mit Aufregung, Stress und Gefahr. Hat man eine Angstlust-Erfahrung erfolgreiche durchlebt, kann das beglückende Gesamtgefühl dazu führen, dass man dasselbe erneut erleben möchte. Daraus kann Abhängigkeit entstehen, aber auch Abenteuerlust und der Wunsch, die eigenen Grenzen auszutesten und zu neuen Ufern aufzubrechen.
„Ich möchte nicht davor warnen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Viele Menschen beklagen später im Leben, dass sie manche Dinge unterlassen haben, die sie lieber in Gang gesetzt hätten, oder zu denen sie lieber aufgebrochen wären, als sich eine Chance bot.“
Prof. Dr. Peter Walschburger
Universitätsprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Biopsychologie an der Freien Universität Berlin
Was kann man gegen Fernweh tun?
Wenn man zu neuen Ufern aufbrechen möchte, sollte man sich das natürlich sorgfältig überlegen, aber man sollte auch bedenken: Viele Menschen beklagen am Ende ihres Lebens, dass sie manche Dinge unterlassen haben, die sie lieber in Gang gesetzt hätten, oder zu denen sie lieber aufgebrochen wären, als sich eine Chance bot. Von daher möchte ich nicht davor warnen. Man sollte aber auch darauf achten, seine Wurzeln nicht zu verlieren. Dem immerwährenden Aufbruch fehlt die Nachhaltigkeit. Allenfalls wirkt er kurzzeitig gefühlsregulierend, wenn er etwa aufkommende Langeweile und niedergedrückte Stimmung kompensiert.
Man kann seine Unternehmungslust jedoch auch befriedigen, wenn man in der vertrauten Umgebung bleibt – zum Beispiel mit Hilfe der eigenen Fantasie. Schon die alten Römer wussten: Der Mensch ist ein fantasiebegabtes Wesen, das nicht an die fernsten Küsten reisen muss, sondern in seiner inneren Welt reisen und dort Bereicherung erleben und Grenzerfahrungen machen kann.
In unseren modernen Stadtgesellschaften, über unsere modernen Medienwelten und in unserer mobilen Berufs- und Freizeitwelt gibt es schier unbegrenzte Möglichkeiten, neue, reizvolle und bereichernde Erfahrungen zu machen und aus dem alltäglichen Einerlei zu neuen Ufern aufzubrechen – sei es beim Sport, beim Yoga oder beim Meditieren, aber auch bei der Beschäftigung mit neuen sozialen, politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen oder kulturellen Anregungen.