Psychologie
Gibt es eine Weihnachtsdepression?
Veröffentlicht am:11.11.2024
8 Minuten Lesedauer
Wenn Menschen mit sich und ihrer Familie nicht im Reinen sind oder sich einsam fühlen, können die Weihnachtstage sehr auf die Stimmung schlagen. Aber auch so sehr, dass es zu einer Depression kommen kann? Ein Experte klärt auf.
Inhalte im Überblick
- Wie häufig sind psychische Probleme zu Weihnachten und gibt es eine Weihnachtsdepression?
- Dunkelheit im Winter drückt auf die Stimmung
- Psychischer Druck nimmt an den Feiertagen zu
- Wann wird aus einem „Weihnachtsblues“ ein ernsthaftes psychisches Problem?
- Gibt es Selbsthilfe bei weihnachtlichen Stimmungstiefs?
Wie häufig sind psychische Probleme zu Weihnachten und gibt es eine Weihnachtsdepression?
Weihnachten ist die Zeit großer Gefühle – und oft auch großer Erwartungen. Werden diese nicht erfüllt, kann es passieren, dass die Menschen während oder nach den Feiertagen in ein Loch fallen. Andere empfinden ihre Familie als stressig und die ungewohnte Nähe belastet sie. Hinzu kommt, dass es bei uns zu Weihnachten recht dunkel ist und das fehlende Sonnenlicht auf die Stimmung drückt.
Ist es aber wirklich so, dass zu Weihnachten mehr Menschen als zu anderen Zeiten psychische Probleme haben und gibt es sogar eine Weihnachtsdepression? Diese und weitere Fragen klären wir im Gespräch mit Prof. Dr. Martin Hautzinger. Er ist Seniorprofessor am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen und unter anderem Autor des Ratgeber Depression. Informationen für Betroffene und Angehörige.
Stimmt die allgemeine Annahme, dass psychische Probleme in der Weihnachtszeit zunehmen?
Eindeutig nein. Auf das ganze Land bezogen oder auch international betrachtet gibt es zu Weihnachten keine signifikanten Zunahmen oder Ausschläge bei psychischen Problemen. Über das ganze Jahr verteilt gibt es einige Schwankungen bei sonst relativ stabilen Größen. Höhere Fallzahlen kommen lediglich in unzuverlässigen oder selektiv gemachten Studien vor, die nur eine bestimmte Gruppe untersuchen; oder die gebiased sind, wie wir sagen, also voreingenommen. Die finden manchmal etwas, das dann medial ausgeschlachtet wird. Aber ernsthafte Studien und Metaanalysen zeigen, dass die Zahlen über das Jahr eigentlich recht stabil sind. Auch über Weihnachten gibt es bei psychischen Problemen keine Ausschläge nach oben.
Wenn vor Weihnachten in den Medien von „Weihnachtsdepression“ die Rede ist, ist der Begriff also wissenschaftlich nicht gerechtfertigt?
Wieder eindeutig nein. Im therapeutischen oder auch wissenschaftlichen Bereich gibt es den Begriff nicht. In der Psychologie haben wir es häufig mit umgangssprachlichen Begrifflichkeiten zu tun. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Burnout, der nicht als eigenständige Diagnose gesehen wird. „Weihnachtsdepression“ dient lediglich dazu, die Idee zu beschreiben, dass manche Leute Weihnachten einen Zusammenbruch erleiden oder niedergeschlagen sind. Der Begriff ist in der Psychologie aber so nicht gebräuchlich. Weihnachtsdepression ist ein reiner Medienbegriff oder umgangssprachlicher Begriff.
„Weihnachtsdepression ist ein reiner Medienbegriff oder umgangssprachlicher Begriff.“
Prof. Dr. Martin Hautzinger
Seniorprofessor am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen
Wer ist am stärksten gefährdet für psychische Probleme zu Weihnachten?
Zunächst ist klar, dass Depressionen mit unterschiedlichen Schweregraden zu jeder Jahreszeit vorkommen. Die Weihnachtszeit und die Winterzeit, bei uns die dunkle Jahreszeit, bringen eigene Rahmenbedingungen mit sich. Bei den meisten Menschen müssen aber bestimmte Verletzlichkeiten bestehen. Wer zu Weihnachten durch zusätzliche Belastungen depressiv wird, hat in der Regel auch zu anderen Jahreszeiten solche Einbrüche oder früher schon mal depressive Episoden erlebt. Auch zu Weihnachten gelten dieselben Risikofaktoren, die wir sonst bei Depressionen kennen, und dazu gehören – außer der dunklen Jahreszeit – Einsamkeit, viel Stress, familiäre und andere soziale Konflikte oder vielleicht körperliche Erkrankungen, die einen sowieso belasten. Alle diese Faktoren tragen zur Verstimmung bei und zu Weihnachten nennen das viele dann Weihnachtsdepression. Winterdepression ist ein ähnlicher Begriff.
Wie verstärkt die Dunkelheit im Winter das Weihnachtstief zusätzlich?
Wir sind alle abhängig von der Sonnen- oder Lichteinwirkung. Dazu gibt es gute Studien, die Stimmungsschwankungen über ein ganzes Jahr oder mehrere Jahre betrachten. Für die Gesamtbevölkerung kann festgestellt werden, dass eine geringere Lichteinwirkung durch den Sonnenstand und eine kürzere Helligkeitsdauer die Stimmung drückt. Im Frühjahr, wenn es wieder heller und die Sonne stärker wird, ist unsere Stimmung generell besser.
Auch hier sind manche Menschen besonders verletzlich, was wir in diesem Bereich nicht vollständig verstehen. Menschen unterscheiden sich neurobiologisch; zum Beispiel darin, wie Licht verarbeitet wird, wie bestimmte lichtsensitive Zentren arbeiten oder wie der Stoffwechsel der Botenstoffe funktioniert. Aufgrund neurobiologischer Unterschiede haben bestimmte Menschen eine stärkere Anfälligkeit für winterliche Stimmungsschwankungen.
„Eine geringere Lichteinwirkung durch den Sonnenstand und eine kürzere Helligkeitsdauer drücken die Stimmung.“
Prof. Dr. Martin Hautzinger
Seniorprofessor am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen
Demnach gibt es eine Winterdepression?
Bei sehr wenigen Menschen können solche neurobiologischen Mechanismen zu Depressionen führen, die nur im Winter auftreten. Es wird aber auch in diesem Bereich wieder sehr viel darüber geredet und viele glauben, sie hätten eine Winterdepressionen, weil sie sich einfach müde, energielos oder interessenlos fühlen.
Eine Winterdepression liegt aber nur dann vor, wenn Betroffene mindestens über zwei oder besser über drei Jahre Winterphasen mit Depressionen haben, die immer erst im November beginnen und dann im März für die restliche Zeit des Jahres bis zum nächsten November wieder verschwinden. Diese Voraussetzungen erfüllen aber nur sehr wenige. Bei denen kann man therapeutisch mit Licht arbeiten. Bei der Mehrzahl der Leute aber sind es natürliche Schwankungen, die unterschiedlich intensiv sein können.
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Nicht jeder ist zu Weihnachten allein – aber viele fühlen sich zusätzlich unter Druck gesetzt. Ist das richtig?
Ohne Zweifel ist Weihnachten gesellschaftlich sehr aufgeladen. Und es fängt immer früher an, dass Weihnachtssignale in Supermärkten und Kaufhäusern oder im Stadtbild gesendet werden. Außerdem ist Weihnachten ein Fest, das auch emotional sehr aufgeladen ist. Man kommt viel zusammen, trifft sich in der Familie und sitzt oft über drei Tage dicht aufeinander, während es draußen bei meist schlechtem Wetter dunkel ist. Im Sommer hat man viel mehr Möglichkeiten, sich auch mal aus dem Weg zu gehen. Die soziale Dichte fördert Konflikte.
Soziale Erwartungen sind vermutlich ein zusätzlicher Stressfaktor
Alles in allem ist Weihnachten inzwischen ein aus meiner Sicht hochüberladenes Fest, das seine eigentliche Bedeutung oft verloren hat, aber einen sozialen Rahmen vorgibt: Man muss sich treffen, man muss viel essen, man muss Geschenke machen, man muss über Tage Zeit zusammen verbringen und unter Umständen ist viel Alkohol im Spiel. Das kann für manche ganz schon belastend sein.
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Eine Verstimmung ist keine Erkrankung. Wann wird es kritisch?
Das ist ein zeitliches Kriterium: Wenn trübe Gedanken, die trübe Stimmung und die Energielosigkeit über mehrere Tage anhalten. Weihnachten selbst ist da zeitlich zu begrenzt. Wenn sich das aber über eine ganze Woche nicht abschütteln lässt, wenn es sich nicht bessert, wenn man auch auf positive Erfahrungen nicht mit Stimmungsaufhellung oder einem Wiederanspringen der Energiequelle reagiert –das ist schon bedenklich. Es ist zeitlich schwer zu bemessen, aber ich denke: Wenn ich wirklich sieben Tage aus diesem Loch nicht rauskomme und ich nicht darauf reagiere, wenn Leute nett zu mir sind, sie mir etwas Gutes tun; wenn ich auch nicht mehr mitlachen kann – dann sind das Signale, die man professionell abklären lassen sollte.
Was ist, wenn sich die Stimmungstiefs zwar legen, aber immer wieder kommen?
Das ist ein zweiter Aspekt. Solche „Weihnachtsdepressionen“ treten oft nicht nur an den Feiertagen auf, sondern es gibt auch andere Phasen im Jahr, in denen Belastungen da sind: Wenn die Kinder krank sind, wenn es in der Beziehung knirscht, wenn die Arbeit Probleme macht und so weiter. Wenn ich in belastenden Situationen immer wieder Stimmungstiefs erlebe, über ein oder vielleicht zwei Jahre hinweg, dann wäre das auch ein Anlass zu prüfen, ob ich besonders anfällig bin und vielleicht professionelle Hilfe brauche.
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Und wann könnte ich wirklich an einer Depression leiden?
Wenn ich fünf der typischen depressiven Symptome wie Interessenverlust, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder Schlafstörungen gleichzeitig habe, sollte mich das aufhorchen lassen. In der Umgangssprache wird der Begriff Depression nicht präzise verwendet und viele Menschen bezeichnen sich als depressiv, die diese klinischen Kriterien bei weitem nicht erfüllen. Trotzdem fühlen sie sich beeinträchtigt, aber da kommt man zum Beispiel mit Selbsthilfemaßnahmen oft wieder raus.
Bei psychischen Problemen gibt es eine große Bandbreite von sehr leichten bis zu sehr schweren Formen, und ich habe versucht, Punkte zu charakterisieren, an denen man eine Grenze erreicht, die zumindest eine Abklärung erfordert, ob weitere medizinische, also antidepressive, oder psychotherapeutische Maßnahmen notwendig sind.
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Wie kann ich psychische Belastungen an den Feiertagen im Vorfeld begrenzen?
Ein ganz wichtiger Aspekt ist, meine eigene Belastbarkeit einschätzen zu lernen. Dazu muss ich herausbekommen:
- Wodurch bin ich belastet?
- Welche Belastungen sind mir einfach zu viel?
- Welche Konflikte bestehen?
- Welche Grenzen sind mir wichtig?
Was zu belastend ist, muss begrenzt werden. Wenn ich zum Beispiel gerade meinen Job verloren habe und mich das sehr beschäftigt, ist Weihnachten im Familienkreis vielleicht nicht die ideale Umgebung für mich; wenn alle nachfragen, was da beruflich gelaufen ist. Diese Belastung kann ich vermeiden. Wenn ich selbst lerne, wie belastbar ich bin, ist das eine vorbeugende Maßnahme.
„Was zu belastend ist, muss begrenzt werden.“
Prof. Dr. Martin Hautzinger
Seniorprofessor am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen
Der familiäre Kontakt zu Weihnachten gehört aber für viele dazu
Daher ist Prävention eine schwierige Aufgabe. Ich weiß, dass Weihnachten auf mich zukommt und es vielleicht Konflikte mit der Familie gibt. Wie kann ich das so gestalten, dass ich das ohne extreme Belastung überstehe? Das hängt natürlich auch von meiner eigenen Rolle ab, die ich im familiären Verband spiele. Man kann die Zeit begrenzen; man kann überlegen: Wie verbringe ich die Zeit? Vielleicht treffe ich auch mal jemand anderes außerhalb der Familie. Das sind vorbereitende Dinge, die man schon ernst nehmen sollte und dann übersteht man so eine Phase besser.
Was kann man selbst tun, um aus dem Stimmungstief herauszufinden?
Ich muss mich fragen: Erlebe ich noch Angenehmes? Auch im Bereich der ernsthaften Depressionen wenden wir etwas an, das wir Verhaltensaktivierung nennen. Hier geht es nicht darum, einfach mehr zu machen und aktiver zu sein, sondern vor allem darum, mir wichtige, meinen Werten entsprechende und positiv erlebte Dinge vermehrt oder überhaupt zu machen – und andere, die belastend sind, zu reduzieren.
Das gilt auch für Weihnachten: Wie verbringe ich eigentlich diese drei oder vier Tage im Kreis der mich vielleicht nervenden Familie? Wichtig ist auch, dass ich nicht nur auf dem Sofa sitze, viel esse oder Alkohol trinke, sondern dass ich auch körperlich aktiv bin, gerade in der Winterzeit; dass ich zum Beispiel spazieren gehe, wenn die Sonne mal rauskommt. Körperliche Aktivität hat eine stimmungsregulierende Wirkung, auch wenn es vielleicht am Anfang schwerfällt. Das sind zwei naheliegende Dinge, die man selbst tun kann.
„Körperliche Aktivität hat eine stimmungsregulierende Wirkung, auch wenn es vielleicht am Anfang schwerfällt.“
Prof. Dr. Martin Hautzinger
Seniorprofessor am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen