Psychologie
Akrophobie: Kann man Höhenangst überwinden?
Veröffentlicht am:24.02.2022
6 Minuten Lesedauer
Weiche Knie, Schockstarre und das dringende Verlangen, sich an etwas festzuklammern – so fühlt sich Höhenangst (Akrophobie) für viele Menschen an. Doch woran liegt es, dass einige von uns nicht hoch hinausmöchten, und können wir Höhenangst selbst überwinden?
Dr. Dipl. Psych. Jörg Angenendt ist Co-Leiter der Psychotraumatologischen Ambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg und Co-Leiter der Spezialsprechstunde für Angststörungen. Im Interview verrät er, wie Höhenangst entsteht und wann Betroffene von einer Therapie profitieren.
Wie äußert sich Höhenangst bei Betroffenen?
Ein Mensch mit Höhenangst beziehungsweise Akrophobie reagiert mit starken Angstreaktionen, sobald er sich in Höhenlagen begibt. Das müssen keine ungewöhnlichen Höhen sein, selbst alltägliche Höhensituationen lösen beim Betroffenen Ängste aus, wie das Gehen über eine Brücke, das Verweilen auf einem Aussichtsturm oder die Aussicht aus dem dritten Stock im Kaufhaus. Viele Personen mit Höhenangst empfinden in Höhe eine innere Unruhe, sind angespannt, haben weiche Knie, Herzrasen oder Schweißausbrüche. Außerdem haben Betroffene Angst bis hin zu Panikgefühlen und Gedanken wie „Das halte ich nicht aus!“.
Höhenphobiker, also Menschen mit einer ausgeprägten Höhenangst, berichten uns außerdem davon, dass sie Angst vor weitreichenden negativen Folgen haben, wenn sie sich in Höhensituationen befinden. Sie fürchten sich davor, dass ihre Angstreaktionen einen Herzinfarkt hervorrufen oder dass sie sich aufgrund ihrer Panik in Gefahr bringen, zum Beispiel, indem sie durch ihre Fluchtreaktion stürzen.
Die Angst vor den Folgen ist für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar – Betroffene können sich davor fürchten, dass in der Höhensituation ein Geländer abbrechen könnte, obwohl die Umgebung gut gesichert ist. Die meisten Menschen mit Höhenangst erkennen aber außerhalb der Höhensituation durchaus, dass die Angst vor vielen Folgen unbegründet oder zumindest stark übertrieben ist.
Woher kommt die Angst vor der Höhe?
Wir alle haben einen biologisch eingebauten Respekt vor großen Höhen. Ungesicherte Höhen stellen für uns schließlich eine Gefahr für Leib und Leben dar. Als Kind lernen wir jedoch schon von unseren Eltern, welche Höhen gefährlich und welche ungefährlich sind. Übertragen Eltern ihre Ängste in dieser Zeit auf ihre Kinder, indem sie in Höhen vor ihrem Nachwuchs panisch reagieren oder sie an der Hand nehmen und aus der Situation flüchten, kann das Kind später Höhenangst entwickeln.
Die panische Angst vor der Höhe kann aber auch infolge eines Traumas entstehen – so kann sich ein Dachdecker, der von einem Dach gestürzt ist, später vor Höhensituationen fürchten. Die meisten Höhenphobiker durchlebten eine solch dramatische Erfahrung aber nicht. Stattdessen empfinden sie in einer Höhensituation eine nicht erklärbare Unruhe oder ein Panikgefühl und verknüpfen dann beides miteinander – die Höhe und die unangenehmen Gefühle und Empfindungen. Das nennen wir Psychologen eine Lernverknüpfung.
Wie unterscheiden sich Höhenangst und Höhenschwindel voneinander?
Höhenschwindel kann zunächst jeden treffen, das Phänomen beschränkt sich also nicht auf Menschen mit Höhenangst. Dieser spezielle Schwindel entsteht, weil das Gehirn widersprüchliche Informationen erhält. Die Füße signalisieren dem Gehirn einen festen Stand, gleichzeitig haben die Augen aber durch die Höhe Probleme damit, fixe Punkte in der Umgebung anzuvisieren. Ein Wechsel der Blickrichtung zwischen geradeaus, auf den Horizont, und nach unten, zum Beispiel auf den Boden kann die Schwindelanfälle übrigens rasch reduzieren. Das klappt bei Menschen mit Höhenangst aber nicht immer sofort. Bei ihnen kann der Höhenschwindel die Angstsymptome sogar verschlimmern.
Wie verhalte ich mich in Situationen mit Höhenangst?
Betroffene können probieren, ob sie sich besser fühlen, wenn sie sich hinsetzen oder ihren Händen einen festen Halt verschaffen, zum Beispiel mit einem Geländer. Auch ein beruhigendes Gespräch empfinden Höhenphobiker in dem Moment oft als hilfreich. Menschen mit Höhenangst sollten in keinem Fall Beruhigungsmittel nehmen, um sich der Situation doch aussetzen zu können, denn dadurch kann es zu einer veränderten Wahrnehmung und somit zu einer tatsächlichen Gefahr kommen.
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Kann man eine Akrophobie selbst überwinden?
Ja, das ist bei leichten Formen durchaus möglich – allerdings gelingt das nicht jedem. Betroffene müssen dafür viel Geduld und Mut zur schrittweisen Veränderung mitbringen.
Mit folgenden Schritten können Menschen einer nicht so stark ausgeprägten Akrophobie begegnen:
- Die Höhenangst annehmen: Manchmal fällt es uns schwer, sich einzugestehen, dass uns Ängste im Griff haben. Damit wir etwas verändern können, ist die Anerkennung unseres Problems aber wichtig.
- Die Höhenangst erkunden: Betroffene leisten ein Stück Aufarbeitung, wenn sie sich folgende Fragen stellen: Wie lange habe ich die Höhenangst schon? Ist sie in einer bestimmten Situation entstanden oder habe ich ängstliche Vorbilder? Hat eine schlimme Erfahrung in der Vergangenheit die Angst möglicherweise hervorgerufen? Was könnte dazu beitragen, dass sich meine Angst nicht verbessert hat?
- Die Höhenangst hinterfragen: Menschen mit Höhenangst malen sich häufig Furcht einflößende Szenarien wie einen Absturz aus großer Höhe aus. Zum Beispiel dann, wenn sie im Skiurlaub mit der Familie in einem Skilift fahren. Ist das realistisch? Habe ich davon persönlich schon einmal gehört? Mit diesen Fragen hinterfragen Betroffene, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ihre „Katastrophen-Szenarien“ tatsächlich eintreten.
In einem weiteren Schritt setzen sich Betroffene dann wiederholt gesicherten Höhensituationen aus und steigern sich langsam – zunächst eine Rolltreppe, dann eine mittelgroße Brücke, danach ein Aussichtsturm. Die Betroffenen halten die Situation am besten so lange aus, bis die Angst spürbar nachlässt. So erfahren sie Stück für Stück, dass die gesicherte Höhe nicht (lebens)bedrohlich ist. Vielleicht gibt es einen Freund oder guten Bekannten, der mitkommt? Dadurch erhalten Menschen mit Höhenangst Unterstützung und positive Ansprache.
Menschen, die sehr starke und anhaltende Angstreaktionen in der Höhe erleben, rate ich dazu, nicht alleine mit Höhensituationen zu experimentieren. In dem Fall ist ein Therapeut der richtige Ansprechpartner.
„Menschen, die sehr starke und anhaltende Ängste in der Höhe erleben, rate ich dazu, nicht alleine mit Höhensituationen zu experimentieren.“
Dr. Dipl. Psych. Jörg Angenendt
Co-Leiter der psychotraumatologischen Ambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg und Co-Leiter der Spezialsprechstunde für Angststörungen
Gibt es eine Therapie für Höhenangst?
Da die Akrophobie in vielen Fällen auf problematischen und fehlerhaften Lernvorgängen beruht, gibt es auch eine Therapie für Höhenangst. Dafür müssen wir aber sicher sein, dass es sich um einen phobischen Schwindel und nicht um einen neurologischen Schwindel (durch Störungen des Gleichgewichtssinns) handelt. Bei der Therapie korrigieren wir dann die kritische Verknüpfung – so können Betroffene ihre Höhenangst wieder verlernen. In intensiven Gesprächen widmen wir uns zunächst den Gründen für die Angst und klären den Patienten über die Bestandteile und Mechanismen der Angst auf. Gemeinsam mit dem Therapeuten finden auch gestufte Übungen in Höhenlagen statt.
Wann sollte ich einen Therapeuten aufsuchen?
Akrophobie verursacht bei vielen Betroffenen einen großen Leidensdruck. Sie vermeiden ganz gezielt Höhensituationen – überqueren beispielsweise eine Brücke nicht mehr oder verzichten auf den Besuch bei Freunden, die im Hochhaus wohnen. Menschen mit einer ausgeprägten Höhenangst, die ihr Leben aufgrund ihrer Angst nicht normal führen, können sich an einen Therapeuten wenden. Am besten wählen Betroffene einen Psychotherapeuten, der verhaltenstherapeutisch arbeitet. Auch wenn die Akrophobie für Patienten belastend ist, kann sie mit der Verhaltenstherapie gut behandelt werden.
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